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Bis zu 80 Prozent unserer jungen Leute können weder mit 1848 noch 1789 oder dem 17. Juni 1953 etwas anfangen.“ Diese erschreckende, aber leider richtige Erkenntnis führte jetzt die Kon- rad-Adenauer-Stiftung dazu, einen Unterrichtskanon für das Fach Geschichte den Schulpolitikern und der Lehrerschaft vorzulegen. Die CDU-nahe Stiftung hatte ihn zusammen mit dem Deutschen Lehrerverband und anderen Experten ausgearbeitet, um den Mißstand des mangeln den Geschichtswissens zu überwinden. Ist doch historische Bildung, wie die Autoren feststellen, der Grundstock für das Verstehen anderer Wissensgebiete, denn „Sprach-, Literatur-, Religions-, Politik-, Musik-, Kunst- und Philosophieunterricht sind nicht hinreichend verstehbar ohne solide historische Grundkenntnisse“. Die Autoren wissen auch, daß die deutsche Geschichte nicht nur „als Vorgeschichte zur NS-zeit“ zu verstehen sei. Diese sei nicht der „Gipfel der deutschen Tradition“, sondern, wie schon Hannah Ahrend feststellte, „die Zerstörung der europäischen und deutschen Traditionen“.
Zuständig für den Unterricht an Deutschlands Schulen sind die 16 Bundesländer und deren Landesregierungen. Darunter sind eine ganze Reihe, in denen die CDU in den letzten drei Jahrzehnten Verantwortung trug oder trägt. Die Kritik am gegenwärtigen Zustand trifft daher nicht nur die SPD, deren Kultusminister in den siebziger Jahren mit der systematischen Abschaffung des Faches Geschichte aus ideologischen Gründen die fatale Vorreiterrolle zur heutigen Misere übernahmen. Es ist zu hoffen, daß die begrüßenswerte Initiative der Konrad-Adenauer-Stiftung auch in der CDU selbst wieder auf fruchtbareren Boden fällt.
Ein objektiver und gründlicher Geschichtsunterricht hat die unter der Tarnbezeichnung „exemplarische Geschichtsbetrachtung“ laufende Geschichtsklitterung zu überwinden, nach der die deutsche Geschichte ein „obrigkeitsstaatlicher Sonderweg“ sei, der von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck direkt zu Hitler verlaufen sei. Diese Linie war ein Generalangriff auf die deutsche Geschichte, der von dem Schweizer Theologen Karl Barth nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso geführt wurde wie von dem kommunistisch gesteuerten Antifa-Block sowie von Teilen der amerikanischen und britischen Politliteratur. Dieses unterschiedlich motivierte, aber zeitliche Zusammenwirken brachte es mit sich, daß in den sechziger Jahren der bis dahin gepflegte antitotalitäre Grundkonsens in Deutschland zerbrach und der Kommunismus wegen seiner angeblichen „positiven Motivation und seines humanistischen Anliegens“ verharmlost wurde. Die deutsche Teilung wurde von progressiven Schriftstellern und Intellektuellen als Strafe für die herbeigeredete „Luther-Hitler-Connection“der deutschen Geschichte empfunden und die Mauer durch Deutschland als Garant für den Weltfrieden gefeiert. Wer dem widersprach, wurde als „Kalter Krieger“ und „Ewiggestriger“ verunglimpft.
Folgerichtig schrumpfte die Überwindung der Mauer durch die zutiefst friedliche, freiheitliche und demokratische Revolution des deutschen Volkes zwischen Rügen und dem Thüringer Wald im Jahr 1989 zu einer bloßen „Wende“. Wer sich die Deutschen nur als ein Volk säbelrasselnder Militaristen und serviler Untertanen vorstellen kann, denen Freiheit bestenfalls von außen geschenkt worden ist, in dessen Weltbild paßt eine große deutsche Freiheitsrevolution wie die des Jahres 1989 nicht, noch dazu, wenn sie sich gegen den „fortschrittlichen“ Sozialismus gerichtet hat.
Eine Geschichtsbetrachtung, die neben den Tiefen auch die Höhen der eigenen Geschichte aufnimmt, wird auch die große Bedeutung des deutschen Beitrags zu Freiheit und Demokratie in Europa erkennen. Luthers „Ich kann nicht anders. Gott komm mir zu hilf. Amen. Da bin ich“ war eine der größten Offenbarungen neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins und der Selbstbestimmung des einzelnen. Diese deutsche Revolution kämpfte um die Freiheit der Persönlichkeit, ohne ihre Gottesbindung und die zum Volk zu leugnen. Der große bretonische Schriftsteller Ernest Renan sagte dazu 1870: „Deutschland hat die bedeutendste Revolution der neuen Zeiten, die Reformation gemacht.“
Die Städtefreiheiten des Mittelalters, selbstverständlich unter dem damaligen demokratischen Standard, die demokratischen Elemente der föderalistischen Struktur des Reiches führten dazu, daß es in Deutschland keine blutigen Guillotine-Revolutionen gab, sondern Deutschland seinen Weg ruhiger und friedlicher gehen konnte als andere. Später war es die von Kant geprägte Aufklärung, der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie es der große Königsberger Philosoph definierte, die große Wirkungen auf das europäische Geistesleben ausübte und die mit dem kategorischen Imperativ die Gemeinschaftsbindung des Menschen und die Notwendigkeit traditioneller Regelbindung im Zusammenleben der Menschen hervorhob. Später bewiesen die preußischen Reformer, die patriotische schwarz-rot-goldene Bürgerbewegung, die lebhaften politischen Auseinandersetzungen und das Aufkommen der Sozialdemokratie im vielgeschmähten „Bismarck-Reich“ freiheitliche und demokratische Überzeugungen, ebenso wie das mutige „Nein“ der SPD zu Hitlers Ermächtigungsgesetz.
Der Widerstand des 20. Juli 1944 zur Ehrenrettung des Vaterlands, die antikommunistische Revolution vom 17. Juni 1953 als erste Erhebung gegen den menschenverachtenden Kommunismus und das „Wir sind ein Volk“ der friedlichen Revolution von 1989 sind Ausweis friedlicher, demokratischer Gesinnungen. Sie zeichnen Deutschland ebenso aus, wie der Aufbau einer weltweit anerkannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Westen Deutschlands nach 1945. Diese ermöglichte es, daß Deutschland über Jahrzehnte hinweg einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung der eigenen Freiheit und der Freiheit Westeuropas insgesamt leistete. Die wiederum war die Voraussetzung für die Rückkehr der Europäer im Osten des Kontinents nach Europa.
Alles in allem gibt es für die Deutschen Anlaß genug, einseitige Geschichtsinterpretationen zu überwinden und den deutschen Weg pflichtgebundener Rechte in der Demokratie statt schrankenloser Selbstverwirklichung wieder zu entdecken. Die Vermittlung geschichtlichen Wissens an die junge Generation ohne Einseitigkeit und Beschönigung ist eine Voraussetzung dafür.
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