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Gleicht das deutsche Volk Hans im Glück?

 
     
 
Die Medienmaschine, sie klappert schon wieder", sagte in diesen Tagen der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Ist zu diesem 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945 nicht längst alles gesagt? In Walter Kempowskis "Echolot" ist Bewegendes zu diesem historischen Datum nachzulesen, Erinnerungen, die zu Tränen rühren oder das Blut in den Adern gefrieren lassen, auf jeden Fall vieles korrigieren von dem, was die Heutigen so sagen und meinen.

Ich erinnere mich des eigenen Erlebens. Ich sitze als noch nicht 18jähriger ROB-Gefreiter mit meiner Truppe auf einem holzgasangetriebenen Lastwagen der geschlagenen deutschen Wehrmacht, die zwischen dem 7. und 9. Mai 1945 in Nordböhmen nach Westen strebt, um der Heeresgruppe
Schörner und damit der sowjetischen Gefangenschaft zu entkommen. Wir erreichen das amerikanische Sammellager wenige Kilometer östlich von Eger, wo bald 100.000 deutsche Kriegsgefangene auf einem bisherigen Flugplatz auf freiem Feld kampieren. Nach Wochen des Hungers verlegen uns die Amerikaner schubweise nach Bayern, von wo aus sie uns im August auf ihren Army-Trucks in die Heimat transportieren, fast bis vor die Haustür. Dem Schicksal der Kameraden auf den Rheinwiesen und in den nordfranzösischen Bergwerken sind wir entgangen.

Doch diese Entlassungsfahrt aus der Gefangenschaft geriet zum Alptraum. Wir sahen das völlig zerstörte Würzburg und Aschaffenburg, die riesige Trümmerlandschaft von Frankfurt und ich komme nach drei Tagen in meiner Heimatstadt Heilbronn an, deren Zerstörung durch einen britischen Luftangriff am Abend des 4. Dezember 1944 ich bei einem kurzen Heimaturlaub miterlebt hatte. Wir sahen die Katastrophe hautnah: Deutschland ein Trümmerfeld, finis Germaniae. Doch dieser Sommer 1945 war zugleich eine Zäsur für uns 18jährige. Wir holten 1946 das Abitur nach und wir, die wir bis zum Sommer 1944 vor allem marschiert waren, begannen zu lesen: Hermann Hesse, Ernst Jünger, Thomas Mann, Ortega y Gassets "Aufstand der Massen", Amerikaner wie Steinbeck und Hemingway, Franzosen wie Albert Camus, und durch das Lesen lernten wir zum ersten Mal die Welt außerhalb der bisher von den Nationalsozialisten gezogenen und bewachten geistigen Grenzen kennen. Im Sommer der Währungsreform 1948 begann ich das Studium der Geschichte. Von da an standen die Türen offen, ging es aufwärts, materiell wie auch im beruflichen Leben unserer Generation.

Es eröffnete sich die große Chance, die Geschichte unserer Zeit nun nach ihren Ursachen und Folgen, in ihrer Breite und Tiefe und auch in ihren Abgründen allseits durchleuchten zu können. Und wir hatten dabei so hervorragende Lehrer wie Rudolf Stadelmann und Hans Rothfels. Bei diesem vor allem lernten wir das Einmaleins einer seriösen Geschichtswissenschaft, daß man nämlich Geschichte nicht pharisäisch reduzieren darf auf die Schwarz-Weiß-Zeichnung von "Unschuld und Verbrechen" und daß die Kategorien historischer Untersuchung und Erkenntnis zunächst einmal "nicht Schuld und Sühne, sondern Ursache und Wirkung" sind. Das bedeutete für ihn aber nicht den Aufruf zu wertfreier Wissenschaft, sondern ein vertieftes Bekenntnis zu den fundamentalen europäischen christlichen und humanistischen Traditionen, die es gegen Mißbrauch durch den Zugriff der Gegenwartspolitik zu schützen gilt. Der "Bildungswert" der Geschichte bestand für Rothfels in der philosophischen Dimension, "in der Begegnung mit uns selbst" und in der Aufklärung über die "drohende Selbstentfremdung des Menschen in einer funktionalisierten Welt" (Einleitung zum Fischer-Lexikon Geschichte, 1961). Rothfels wandte sich schon damals gegen eine Historiographie, die sich mit "einer gewissen Robustheit des Gewissens ein Richteramt anmaßt" und "mit einem gut Teil Selbstgerechtigkeit entweder einem Volk allein alle Schuld beimessen oder ein Urteil über das Maß seiner moralischen Rehabilitierung fällen" will (Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung).

Rothfels hatte vorausgespürt, was dann seit den 60er Jahren sich als normaler wissenschaftlicher Paradigmen- und Generationswechsel ausgab, obwohl es weit mehr war: ein fundamentaler Kurswechsel in der Zeitgeschichtsschreibung, eben in der Richtung dessen, vor dem Rothfels gewarnt hatte und die sich nun mit oft sehr parteiisch ausgesuchten Belegen und Argumenten zum moralischen Richtertum aufwarf, zum Tribunal, bei dem Ankläger und Richter meist ein und dieselben Personen sind. Das bahnte sich alles über Jahre hin an und kam schließlich, man möchte sagen: eruptiv zum Durchbruch im sogenannten "Historikerstreit", der bald zu Unrecht diesen Namen trug, weil er ja kein gelassener Austausch wissenschaftlicher Argumente war, sondern von Jürgen Habermas und seinen Gefolgsleuten rasch umfunktioniert wurde zur Proklamation dessen, was allein zulässige Wahrheiten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sein hatten und welche nicht. Es war der bis heute fortdauernde Umbruch der Geschichtswissenschaft zur Geschichtspolitik, rationalen Bemühens um Erkenntnis zu säkular-theologischer Gewißheit und Dogmatik.

Seitdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in der Zeitgeschichtswissenschaft viel falsche Luft enthalten ist, daß da, wo Wissenschaft drauf steht, viel Politik drin ist, daß sie sich leicht mißbrauchen läßt "zu gegenwärtigen Zwecken", wie dann Martin Walser scharfsichtig erkannte. Das alles vollzog sich im Rahmen einer erstaunlichen gesellschaftlichen Klimaveränderung hin zu einem "stickigen, sanfttotalitären Meinungsklima", wie ein Schweizer Beobachter konsterniert feststellte, einer "gedankenlosen Ideologisierung unseres geistigen Lebens" (Reiner Kunze). Aus einer offenen Geschichtsdebatte wurde eine unter "moralisch bewehrtem Befehl", wie Herbert Kremp im Blick auf den Streit um den 8. Mai - "Niederlage oder Befreiung?" - in der Welt (noch) schreiben konnte. Habermas Anthema gegen Ernst Nolte und die anderen Mitglieder der "Viererbande", Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer, die damals vom Bannstrahl der Rechtgläubigkeit der allein richtigen, der sogenannten "Kristischen Theorie" getroffen wurden, war schon ein Jahr zuvor zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 die autoritative Verkündigung des neuen Dogmas der "Befreiung" durch den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vorausgegangen, der sich über die Vielfältigkeit der Erinnerung, des Erlebens und der Urteilsmöglichkeiten kühn hinwegsetzte.

Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 schlug eine wichtige Bresche, daß nach der Wiedergewinnung der Einheit 1990 der staatlich verordnete "Antifaschismus" der untergegangenen DDR mit dem westdeutschen Antifaschismus der Kritischen Theorie und der 68er-Bewegung rasch "zusammenwuchern" konnte im gemeinsamen Kampf um die historisch-politische Deutungshoheit im vereinigten Land. Dabei hat man dann einigermaßen darauf geachtet, daß die Herkunft der Befreiungs-Parole aus dem Arsenal des marxistisch-leninistisch-stalinistischen Sowjetkommunismus und seines Antifaschismus-Begriffs mit seinem Monopolanspruch auf die einzig wahre Deutung der Epoche möglichst unter der Decke gehalten wurde. Er konnte sich offenbar um so leichter durchsetzen als sich in Westdeutschland als Erbe der 68er-Revolution "historischer Analphabetismus" (Alfred Heuß), Geschichtsverlust und Geschichtsverzicht ausgebreitet hatten.

Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte um den 8. Mai kürzlich das nachdenkliche Wort von unserem "gefährdeten" Volk geäußert. Er meint damit das eigentümliche Schwanken der Deutschen zwischen Hybris und Schuldzerknirschung, Überlegenheitsgefühl und Canossarepublik, das für die deutsche Geschichte im Jahrhundert von Kaiser Wilhelm II. bis heute so kennzeichnend ist. Welchen Parolen sind die Deutschen in dieser Epoche nicht allen nachgelaufen: vom "Platz an der Sonne" vor 1914 bis zur "Kriegsächtung" zehn Jahre später und dann wieder von Hitlers "Herrenrasse" und "Lebensraum"-Imperialismus bis zum "antifaschistischen Kampf" und der "Befreiung" durch ihn. Und natürlich sollte man die Verkettungen von Ursachen und Wirkungen nicht kleinreden, besonders die zwischen dem Versailler Frieden der Unvernunft und Hitlers Aufstieg. Es entstand bei den anderen das Bild der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, man habe sie entweder an der Gurgel oder auf den Knien (Winston Churchill). Gleicht dieses Volk etwa dem "Hans im Glück" des bekannten Märchens, diesem unreifen jungen Mann, der sich immer wieder beschwatzen läßt und einen anfänglichen Goldklumpen gegen viele schöne Dinge eintauscht bis er am Ende in bitterer Armut dasteht? Viele Deutsche lassen sich ähnlich leicht beschwatzen durch die Parolen des Tages und des Marktes, der Medien und der Politik und um so leichter, wenn die mit dem absoluten Wahrheitsanspruch von Dogmen auftreten.

Das Nachdenken über den 8. Mai, wenn es mehr sein soll als eine klappernde Medienmaschine, drängt also zum kritischen Nachdenken über die vielzitierte "deutsche Identität", zum Nachdenken darüber, wie sehr der "braune Koloß der Nazizeit" (Wilhelm Kamlah) die reale deutsche Geschichte von 1.000 Jahren verstellt und unter sich zu begraben droht. Die einseitige "Tribunalisierung" unserer Geschichte unter dem Monopolanspruch der antifaschistischen Deutung dient nicht der Wahrheit, sondern steht im Dienst bestimmter ideologischer und geschichtspolitischer Interessen. Es ist dringlich, diese "einschüchternde Wirkung" des Antifaschismus, wie uns François Furet schon vor längerem geraten hat, kritisch zu überprüfen. Das kann nicht zuletzt geschehen durch die "Vivifizierung", die erneute Verlebendigung, Ver-Gegenwärtigung dieser Geschichte und ihrer positiven Gehalte, zu der zum Beispiel Rüdiger Safranski, selbst ein einstiger "68er", mit seiner schönen Schiller-Biographie ein bewußtes Beispiel gibt. Und das schließt dann die Fragen nach den Ursachen der Irrtümer und Katastrophen dieser Geschichte ein. Die Zeit ist gekommen, in die freien Gewässer des Verstehens der Geschichte im ganzen Umfang ihrer Ursachen, Wirkungen und Wechselwirkungen durchzudringen und das alles dann auch in selbstverständlicher Geistesfreiheit öffentlich und kontrovers zu erörtern. Eine solche Wendung von einem dogmatischen und oft hysterischen Verhältnis zu unserer jüngeren Vergangenheit zu einem wieder gelasseneren und selbstbewußten Umgang mit ihr, die Abkehr von einer Geschichtspolitik, die vorschreiben will, wie wir zu urteilen, zu reden, uns zu erinnern und zu denken haben, kann nur heilsame Wirkungen auf das gesellschaftliche und politische Klima in unserem Land insgesamt ausüben. Sie wäre der wichtigste, aber auch der schönste Ertrag der Debatte um diesen 8. Mai nach 60 Jahren.

Ideologisierte Generation: Von Hitler für den Kampf für "Führer, Volk und Vaterland" fanatisiert, sollten die Kinder der NS-Zeit nach dem Krieg plötzlich alles aus ihrer Jugend hassen.
 
     
     
 
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