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Unsere Zeit ist schnellebig. Es geschieht daher heute nicht sehr oft, daß man zurückblickt oder sich gar unmittelbar von der Geschichte berührt fühlt.
280 Jahre sind vergangen, seit dem damaligen Marktflecken Ragnit durch königliche Resolution die Stadtrechte verliehen wurden. Gemessen an der Geschichte Ostdeutschlands ist das eine kurze Zeitspanne, gemessen an der Dauer eines Menschenlebens ist sie sehr lang.
Aus Anlaß des Jubiläums wollen wir stolz auf die wechselvolle Vergangenheit Ragnits zurückblicken. Vielleicht gelingt es durch die gemeinsame Besinnung auf die Geschichte, den Bürgersinn zu stärken und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu vertiefen. Die Kontinuität eines geschichtlichen Bewußtseins zu wahren, um Brücken zu schlagen, nicht um Gräben zu vertiefen, das ist es, worauf es heute ankommt.
Es begann mit der Eroberung des Gebietes beiderseits der unteren Memel, der alten prussischen Landschaft Schalauen durch den deutschen Ritterorden im 13. Jahrhundert. Die völkerrechtliche Sanktionierung erfolgte 1226 durch die Goldene Bulle von Rimini. In ihr überließ Kaiser Friedrich II. dem Hochmeister Hermann von Salza die in Preußen zu erobernden Gebiete. Das Ordensland wurde unter den Schutz des Heiligen Stuhles gestellt. Die Eroberung Preußens war somit nicht der Vollzug einer national-deutschen Aggression, sondern ein Stück der großen Kreuzzugsbewegung. In diesem Lichte muß man das große Werk im Osten sehen. Wer den Kreuzzug nach Osten verurteilt, muß auch die Kreuzzüge nach Palästina verdammen.
Es sollte nahezu ein halbes Jahrhundert vergehen, bis der Orden die Memel erreichte. Neben anderen Burgen baute er hier im Jahre 1289 an Stelle der zerstörten Preußenfeste die mit dem Ordenshaus nicht identische Burg Landeshut.
Die exponierte Lage dieser für den Orden so wichtigen Grenzfeste und die mit dem bisherigen Holzbauwerk gemachten Erfahrungen veranlaßten den Orden, in den Jahren 1397 bis 1409 gegen die ständigen Angriffe aus Litauen in Ragnit (Ragnita) ein besonders festes Ordenshaus aus Stein zu bauen.
Die Vereinigung von Festung, Kloster und wirtschaftlich-administrativem Betrieb war es, die diesem Bauwerk eine von den üblichen Burgtypen dieser Zeit stark abweichende Gestalt gab. Die hochragende, aus vier Flügeln bestehende quadratische Hauptburg, die Vorburg und die Wassermühle waren auch die wichtigsten Anlagen des Ordenshauses Ragnit.
In der Nähe der Ordenshäuser wurden dann Dienstgüter ausgegeben. Um das Ordenshaus Ragnit wurden insbesondere Schalauer angesetzt, es ist aber auch überliefert, daß hier einige wenige Russen und Tataren siedelten.
Die ursprüngliche Bedeutung, die dem Ordenshaus Ragnit zukam, ging im Jahr 1525 verloren, als Markgraf Albrecht von Brandenburg auf den Rat Luthers zur Reformation übertrat und das geistliche Ordensland Preußen in ein weltliches Herzogtum umwandelte. Damit war auch für die Ordensritter der Burg Ragnit die Zeit gekommen, aus dem Orden auszutreten. Durch die Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum änderte sich an den Grundzügen der Landesverwaltung nichts.
Oft sollten aber die Mauern des Ordensschlosses im Verlaufe der nächsten Jahrhunderte stumme Zeugen menschlicher Tragödien sein. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen des Großen Kurfürsten mit Polen 1656 retteten sich die Bewohner der noch kleinen Siedlung vor den Tataren mit ihrer beweglichen Habe in das Schloß. 1678/79 waren es die Schweden, die Ort und Burg Ragnit besetzten. Im Siebenjährigen Krieg senkte sich über die Stadt ein schweres Unheil. Am 24. September 1757 brannten Kosaken Ragnit fast völlig nieder und verübten furchtbare Greueltaten an der Bevölkerung.
Eine Umwandlung auf dem Gebiet des Verwaltungswesens vollzog sich unter der Regierung König Friedrich Wilhelms I. Der brandenburg-preußische Staat hatte an Einheit und Kraft gewonnen.
Auf dem Gebiet des Distriktes Ragnit, das die späteren Kreise Ragnit, Schloßberg und einen erheblichen Teil des Kreises Tilsit umfaßte, waren bis Mitte des 18. Jahrhunderts außer Ragnit noch fünf Domänenämter eingerichtet, die alle der Domänenkammer Gumbinnen unterstanden.
Anfang des 18. Jahrhunderts erlebte Ostdeutschland zudem eine seiner größten Katastrophen. Die schrecklichste aller Krankheiten, die Pest, hatte in den Jahren 1708 bis 1710 auch die Ragniter Gegend mehrfach heimgesucht. Es sollen in den Hauptämtern Insterburg, Ragnit und Tilsit über 30.000 Menschen an dieser Seuche gestorben sein.
Es ist das Hauptverdienst Friedrich Wilhelms I., das von der Pest entvölkerte und verwüstete Ostdeutschland durch ein groß angelegtes Reformwerk zu neuer Blüte geführt zu haben. Grundlegende verwaltungs- und wirtschaftspolitische Reformen sowie Kirchen- und Schulbauten bereiteten den Boden für eine geistige Erneuerung der Bevölkerung. Die Jahre 1722/23 bildeten den Höhepunkt des Wiedererstehens. Große Kolonistenscharen wurden angesiedelt, neue Siedlungen entstanden. So trat im Rahmen der städtischen Politik des Königs auch der Marktflecken Ragnit im Jahre 1722 in die Reihe der preußischen Städte. Wir erleben Ragnit im Jahre 1722 in einer Phase des Aufbaus.
Unter Zugrundelegung mehrerer aufwendiger Planungsphasen wurde dann der Flecken Ragnit durch königliche Resolution vom 26. März 1722 zur Stadt erhoben.
Das am 6. April 1722 vom Soldatenkönig verliehene Stadtpatent enthält unter anderem den wichtigen Hinweis, daß sich alle diejenigen, die sich in dieser Stadt niederzulassen beabsichtigen, beim preußischen Kommissariat in Königsberg, bei dem Steuerrat oder dem noch zu bestellenden Bürgermeister der Stadt zu melden haben.
Das vom König verliehene Stadtwappen zeigt in Blau auf grünem Boden über Wasser eine silberne Stadt mit roten Dächern und darüberliegendem schwarzen Adler. Über diesem ein "Auge Gottes". Das Ganze ist von der Umschrift umgeben "SUB EIS TUTA RAGNETA", was soviel heißt wie "Unter diesem Schutz ist Ragnit sicher".
Am 1. September 1722 wurde in der neu gegründeten Stadt die Verbrauchssteuer eingeführt. Der Bürgermeister erhielt ein jährliches Gehalt von 18 Talern. Auch erhielt in diesem Jahr Ragnit eine Stadtschule.
Im Zuge der Reformen wurde das Gebiet des Kreises Ragnit dann im Jahre 1818 neu festgelegt und die Stadt Ragnit zur Kreisstadt erhoben. Das Landratsamt wurde im Jahre 1825 von Gerskullen nach Ragnit verlegt. Die Dienstgeschäfte wurden in den Räumen des Kreishauses aufgenommen, einem Gebäude, das dem Schloßplatz gegenüberlag und von dem aus in den späteren Jahren der Magistrat die Geschicke der Stadt leitete.
Die Stadt Ragnit hatte Anfang des 19. Jahrhunderts 1.190 Ein- wohner, die überwiegend von Ackerbau, Getreidehandel, Brannt- weinfabrikation und Handwerk lebten.
Wenige Jahre vor der Jahrhundertwende, im Dezember 1895, zählte Ragnit bereits 4.591 Einwohner. Städtische Anstalten und Betriebe kamen schnell hinzu. Im Jahre 1887 wurde der Schlachthof errichtet und im Jahre 1925 durch ein Kühlhaus erweitert. Das Gaswerk wurde 1898, das Wasserwerk 1902 erbaut.
Auch in den Bildungssektor wurde viel investiert. Es entstanden die Ackerbauschule Lehrhof-Ragnit (1850), das 1922 in eine Oberschule in Aufbauform umgewandelte Lehrerseminar (1882) und die Landwirtschaftsschule (1901). Auch hatte Ragnit mehrere Volksschulen und eine Mittelschule.
Das Schicksal der Stadt im Ersten Weltkrieg sei nur kurz erwähnt. Von Ende Dezember 1914 bis Mitte Februar wurde Ragnit wiederholt aus dem Schreitlaugker Wald von russischer Artillerie beschossen. Mehrere Gebäude wurden zwar getroffen, aber alles in allem ist Ragnit - im Vergleich zu anderen ostdeutschen Städten - noch recht gut davongekommen.
In den Jahren 1922 bis 1924 litten auch die Stadtverwaltung und die Ragniter Bürger unter den Ängsten der Inflation. Das größte Problem in dieser nicht ermutigenden Nachkriegszeit war der Wohnungsmangel. Insgesamt wurden zwar seit Kriegsende bis zum Jahre 1922 in der Stadt - aus öffentlichen Mitteln - 124 neue Wohnungen gebaut, was aber bei weitem nicht reichte.
Seit der Wirtschaftskrise hatten die Arbeitskraft und der Fleiß der Menschen einer lebendigen Stadt zu einem andauernden, wenn auch bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung verholfen. Doch das rüstige Schaffen sollte bald ein jähes Ende finden. Mit dem Jahre 1939 begann eine Periode starker politischer Erschütterungen sowie weltanschaulicher Kämpfe, deren Erdbebenstöße sich schnell über fast die ganze Welt ausbreiteten und die Menschheit nicht zur Ruhe kommen ließen. Die Vorgänge des Zweiten Weltkrieges führten am Ende zu einer furchtbaren Ka- tastrophe und in ihren Auswirkungen auf Ragnit zum Verlust der Stadt, zur Flucht und Vertreibung der damaligen Bewohner.
Im September 1944 näherte sich der Krieg dem Kreisgebiet. Die sowjetische Offensive im Januar 1945 leitete das Ende des Kreises Tilsit-Ragnit ein. Es senkte sich für lange Jahre ein "Eiserner Vorhang" zwischen uns Vertriebene und unsere Heimat, man erfuhr nur sehr wenig vom Geschehen in unserem Heimatkreis.
Tilsit wurde eine kreisfreie Stadt und von den Sowjets in "Sovjetsk" umbenannt, Ragnit wird von den Russen "Neman" genannt und ist Kreisstadt, mit allerdings neu gezogenen Kreisgrenzen.
Doch die Zeiten ändern sich. Nach 1990 wurde es wieder möglich, Ragnit und das Kreisgebiet zu besuchen. Die Landwirtschaft war inzwischen auf Großwirtschaft umgestellt. Die nach 1945/46 angesiedelte russische Bevölkerung arbeitete auf Sowchosen, die inzwischen in landwirtschaftliche Genossenschaftsbetriebe oder auch Familien- unternehmen umgewandelt wurden. Letztere entwickeln sich jedoch schleppend, da die dörfliche Infrastruktur nahezu völlig zerstört wurde und nun der bäuerliche dezentrale Neuanfang sehr schwer ist.
Dankbarkeit erfüllt uns, daß sich auf den verschiedenen Ebenen zwischen den Neu- und Altbürgern Ragnits und denen des Kreisgebietes immer bessere und freundschaftlichere Kontakte entwickeln.
So wurden in den letzten Jahren Partnerschaften geschlossen zwischen den Neubürgern des Rayons Ragnit und der Kreisgemeinschaft Tilsit-Ragnit e.V., den Altbürgern dieses Kreises, die ihre Wurzeln im Kreis Tilsit-Ragnit haben. Es folgte der Partnerschaftsvertrag zwischen den Neubürgern von Hohensalzburg und den Altbürgern des Kirchspieles Hohensalzburg. Weitere Partnerschaften sind angestrebt und in Vorbereitung.
Am 25. Mai feierte die Stadt nicht nur die Verleihung der Stadtrechte vor 280 Jahren, sondern auch gleichzeitig die Umbenennung in "Neman" durch die Russen vor 55 Jahre. Zu dieser Feier erhielt die Kreisgemeinschaft Tilsit-Ragnit von der Administration der Stadt eine offizielle Einladung, der sie gerne gefolgt ist. Mit rund 40 Personen reiste sie hierzu in einem Bus an. Das Jubiläum wurde im großen Rahmen mit Umzug vom Rathaus zum Sportstadion, Festreden, Folklore, Ritterspielen in der Burgruine und nächtlichem Feuerwerk begangen. Unter den Ehrengästen befanden sich amtliche Vertreter der Nachbarkreise, der Behörden und der Gebietsregierung in Königsberg sowie der jenseits der Memel gelegenen Partnergemeinden.
Der Kreisvertreter der Kreisgemeinschaft Tilsit-Ragnit brachte in seinen Grußworten zum Ausdruck, daß die Vertriebenen heute - wie vorstehend bereits gesagt - nicht nur das 280jährige Jubiläum der Verleihung der Stadtrechte von Ragnit feiern, sondern gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, daß die russischen Neubürger ebenfalls schon auf 55 Jahre zurückblicken können. Immerhin leben hier verschiedene Russen bereits in der dritten Generation. Helmut Pohlmann
Burg Ragnit: Von 1397 bis 1409 wurde die Steinburg erbaut. Maßgeblichen Anteil an den Planungen hatte Meister Nikolaus Fellenstein, der auch an der Marienburg mitgewirkt hatte. Im Jahre 1825 erhielt die Stadt eine Provinzial-Straf-anstalt, die im Schloß unter- gebracht, aber schon drei Jahre später nach Insterburg verlegt wurd |
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