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Selten fand in Frankreich ein Buch so große Aufnahme wie Stéphane Courtois"Schwarzbuch des Kommunismus". Innerhalb eines Monats wurden dort mehr als 130 000 Exemplare verkauft. Jenes eigentlich schon längst überfällige "Schwarzbuch des Kommunismus", das die beispiellosen Blutspuren einer Ideologie nachzuzeichnen sucht, die Europa und die Welt bis in die Gegenwart hinein nachhaltig veränderten, ist das erste Werk, das eine vorläufige Bilanz nach dem Zusammenbruch der ursächlich von dieser Anschauung geprägten Sowjetunion zu ziehen versucht. Seit seiner Veröffentlichung im angesehenen französischen Verlag Robert Laffont (ab Mai auch im Piper Verlag, München) hat dieses Buch erwartungsgemäß ein widersprüchliches Echo gefunden. Wilde Polemiken beherrschten die Medien. Sogar in der Nationalversammlung wurde darüber gesprochen. Premierminister Lionel Jospin sah sich genötigt, die Kommunistische Partei Frankreichs, die der derzeitigen Regierungskoalition angehört, in Schutz zu nehmen. Das sprach mit dem Herausgeber dieses Werkes, Professor Dr. Stéphane Courtois, der eine Mannschaft von elf Geschichtswissenschaftlern geleitet hat, und die bemüht waren, alle Aspekte des Kommunismus zu berühren. Die deutsche Zunft der Historiker ist nun am Zuge. Das Interview führten Francisco Lozaga und Müller.
Ahnen Sie, Herr Courtois, warum Ihr Buch ein so unterschiedliches Echo gefunden hat, besonders hinsichtlich Ihres Vorworts zum "Schwarzbuch des Kommunismus"?
Persönlich finde ich, daß das Echo in der Öffentlichkeit außerordentlich ist. Es scheint mir, daß das Buch die Gewissen der französischen Bürger befreit. Sicherlich wurden wir scharf angegriffen, und zwar seitens der Kommunisten, der Trotzkysten und auch von "Le Monde". Bei meinem Fernsehgespräch mit Vertretern der französischen Intelligentsia ein Gespräch, an welchem der Nationalsekretär der KPF, Robert Hue, auch teilnahm, habe ich zur Kenntnis genommen, daß die Kommunisten ich spreche von den Aussagen Hues sich weigern, Lenin anzutasten. Anläßlich dieser Fernsehsendung versucht Robert Hue noch einmal zu erklären, wer den Kommunismus antaste, sei ein Faschist oder wenigstens ein Nationalsozialist. Zum Glück wurden solche Behauptungen von dem bei uns sehr bekannten Kolumnisten Jean-Francois Revel entschieden zurückgewiesen. Lenin bleibt freilich als eine letzte Trutzburg des Kommunismus bei den französischen Intellektuellen bestehen. Doch viel wichtiger aber scheint mir aber die Bewußtseinsbildung der Öffentlichkeit zu sein, die plötzlich wahrnehmen muß, es habe während des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere "Herde des Bösen" gegeben. Denn Frankreich erlebte trotz der Stärke der KPF den Kommunismus nicht wirklich. Die französische Öffentlichkeit war aus naheliegenden Gründen eher auf das Übel der deutschen Besatzung fixiert. Insofern ist es eine gute Sache, daß der Bürger jetzt begierig geworden ist und alles über die kommunistische Ära wissen möchte.
Glauben Sie, daß das Schweigen über die Untaten des Kommunismus auch durch die Achsen-Politik der Westmächte während des Krieges bedingt war und deswegen noch heute eine schonungslose Aufklärung verhindert?
Ich möchte zunächst nachdrücklich betonen, daß man ein Ereignis, ein Geschehnis direkt erlebt haben muß, um es zu begreifen. Aber es gibt auch keinen Zweifel darüber, daß die Regierenden Frankreichs der Sowjetunion gegenüber größte Nachsicht gezeigt haben. Besonders hat sich General de Gaulle öfters der kommunistischen Karte mit äußerstem Geschick zu bedienen gewußt, um auswärtige Ziele in die Tat umzusetzen. Und dies, obwohl er sich eigentlich keine Illusionen über die tatsächlichen Ambitionen der Sowjetunion machte. Außerdem wurde in Frankreich lange Zeit kommunistische Propaganda unwidersprochen geduldet. Bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein konnten französische Zeitungen behaupteten, Katyn sei das Werk von Deutschland, obwohl jeder wußte, daß Stalin und die KPdSU für diese Morde verantwortlich waren. Die westlichen Führungsgremien ihrerseits wollten eine Staatspolitik ("politique dEtat") den Kommunisten und der Sowjetunion gegenüber führen, so daß vermieden wurde, von Katyn oder vom Pakt Molotow-Ribbentrop zu sprechen. Man könnte sowieso sagen, die Westmächte wollten nichts, was die Sowjetunion "geärgert" hätte; sie lebten so ungestört und im besten Einverständnis mit ihren eigenen Zielen.
Um in diesem Zusammenhang auf Deutschland insbesondere einzugehen, sind Sie der Ansicht, jenes Schweigen sei durch die innen- und außenpolitischen Zusammenhänge des deutschen Sonderfalles zu erklären?
Was die Deutschen angeht, so fühlten sie sich schon straffällig, wenn sie die Sowjetunion und ihre Politik nur im Ansatz kritisierten. Das war ein alter Trick der kommunistischen Propaganda, zu behaupten, jeder, der die Sowjetunion kritisierte, wäre ein Faschist oder ein Nazi. Wahrscheinlich ist dieser Mechanismus bei Ihnen auch heute noch wirksam. Ich glaube also, daß das Erscheinen der Übersetzung des "Schwarzbuches des Kommunismus" besonders wichtig und bedeutungsvoll für die Deutschen sein wird; wir erwarten übrigens auch ein englische Übersetzung.
Bei unserem letzten Gespräch vor einem Jahr hatten wir uns im Zusammenhang mit den kommunistischen Verbrechen auch über die Geheimrede Stalins vor dem Politbüro am 19. August 1939 unterhalten. Inzwischen sind von offenbar interessierter Seite Zweifel an der Echtheit dieser Rede gestreut worden. Ist etwas Neues in dieser Hinsicht zu erfahren?
Ich habe hierzu nichts Neues zu erörtern. Diese erwähnte Rede wurde von Stalin höchst persönlich dementiert, was an sich schon auch eine bedeutsame Aussage ist. Gerüchteweise kann man gewiß nicht die Argumente vom Tisch wischen, es habe sich um ein Produkt der französischen Sicherheitsbehörden gehandelt. Denn in der Tat wollte vielleicht der französische Premier jener Zeit, Edouard Daladier, Stalin zu verstehen geben, daß er (Daladier) sein Spiel durchschaut hatte. Unsere Nachforschungen zu diesem Komplex gehen aber nicht schnell voran. Auf jeden Fall, selbst nach dem deutsch-sowjetischen Pakt, war es bei Daladier ein Leitgedanke, die Brücken mit Stalin nicht abzubrechen. Besonders wichtig für jene Zeit war Jacques Sadoul, dem damaligen Korrespondenten der "Isvestia" in Paris. Sadoul, der an der Oktober-Revolution in Rußland teilgenommen hatte, in Frankreich verurteilt und später amnestiert wurde, war 1939 zugleich Geschäftsträger der sowjetischen Botschaft in Paris, bestärkte führende Politiker wie Daladier oder Herriot im Glauben, Stalin habe ohnehin eine Umkehrung seiner Bündnisstrategie trotz der offen bekundeten Freundschaft mit Deutschland im Blick. Strategisch führte Stalin sein Doppel-Spiel weiter, was das britische Mißtrauen ihm gegenüber nur vergrößern konnte. Roosevelt seinerseits scheint sich nicht mit der Stalinschen Politik jener Periode beschäftigt zu haben. Er war allzusehr damit beschäftigt, den Isolationismus des amerikanischen Volkes in Sachen europäischer Kriegsbeteiligung zu überwinden, was ihm ja schließlich auch gelungen ist.
Haben die Säuberungen in der Roten Armee dazu beigetragen, daß die Westmächte ihr Urteil über die sowjetische Macht und die Politik Stalins revidierten?
Die Zahl von 25 000 Offizieren der Roten Armee, die von Stalin während der Säuberungen von 1936 bis 1937 ermordet wurden, wie in Nachschlagewerken zu lesen ist, scheint mir unterbewertet zu sein. Insgesamt gesehen haben diese Ermordungen des militärischen sowjetischen Führungskader die französischen Strategen getäuscht.
Wie es sich aus dem Titel unserer Zeitung ergibt, sind wir in besonderer Weise mit der Vertreibung ganzer deutscher Stämme aus Ostdeutschland befaßt. Haben Sie in den 85 Millionen Toten, die Sie dem Kommunismus in Europa zuweisen, die fast drei Millionen Deutschen, die bei der Vertreibung ums Leben kamen, berücksichtigt?
Ich muß gestehen, es haben uns hierzu die Fakten gefehlt. Mitgerechnet aber haben wir die Toten bei der Deportation der 1,3 Millionen Wolgadeutschen und diejenigen der Deutschen Wehrmacht, sofern sie in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren. Zudem wurden die Greueltaten im Sudetenland registriert.
Hat Ihres Erachtens nach Stalin die Ressentiments der osteuropäischen Staaten in besonderer Weise gegen die Deutschen geschürt, um damit die Menschen dieser Länder in diesem Sinne gehorsam zu machen für seine Politik der Westverschiebung. Gehört dies auch zur Bewertung des Kommunismus?
Ja, der Leitgedanke Stalins im Jahr 1945, wahrscheinlich aber schon viel früher, war, alle hier infrage kommenden Staaten nach Westen zu verschieben, damit bei der damaligen Neuverteilung der Macht der Zuwachs, den er für die UdSSR bedeutete, gesichert wurde. Er hat dabei die slawischen Völker nicht besser als die Deutschen behandelt. Wie aus zahlreichen Erklärungen Stalins hervorgeht, waren es sein fester Wille und seine Idee, bis zum Atlantischen Ozean vorzudringen. 1947 erklärte er Maurice Thorez, dem damaligen Generalsekretär der KPF, er hätte die Rote Armee lieber noch in Paris als nur in Berlin gesehen. Tatsächlich erweist es sich als wahrscheinlich, daß er die Normandie-Landung der westlichen Streitkräfte bedauert hat. Tito gegenüber äußerte er sich hier sehr eindeutig: "Überall, wo die Rote Armee ankommt, wird das kommunistische System auferlegt."
Worauf führen Sie die Zurückhaltung der amerikanischen Geschichtswissenschaftler dem Kommunismus gegenüber zurück?
Dem Kommunismus gegenüber kennen die US-Historiker zwei sehr unterschiedliche Gedankenschulen. Die erste, die heute schon schon der älteren Generation angehört, hat an sich sehr gut das totalitäre Phänomen analysiert. Sie wurde allerdings seit den siebziger Jahren von einer neuen Denkschule ersetzt, die sich auf Soziologie und Menschenrechte gründet und die die Spezifizität des kriminellen Charakters des Kommunismus verschwiegen hat und auch gegenwärtig noch nicht zur Kenntnis nimmt. Gemäß dieser zweiten Denkschule wäre der Kommunismus eine unbedeutende Erscheinung. Wenn diese Schule die kommunistische Diktatur wahrnimmt, betrachtet sie diese keinesfalls als totalitär, sondern als eine Fortsetzung des Zarentums. Ich hoffe sehr, daß die Übersetzung ins Englische unseres Buches die Debatte wieder in Gang bringen wird.
Wie beurteilen Sie den Zusammenbruch des Kommunismus in Rußland und den Weg, den dieses Land einschlagen soll?
Die Folgen des Kommunismus sind in Rußland viel gravierender als in den Ländern Ost- und Mitteleuropa oder auch in China. Die gegenwärtigen Reformländer hatten nämlich trotz aller kommunistischer Umbruchversuche eine gewisse traditionelle Gesellschaftsstruktur bewahren können, Rußland aber nicht. Deshalb liegt das Problem Rußlands eigentlich darin, daß es nach siebzig Jahren Kommunismus eine gesellschaftliche Struktur seines Volkes neu schaffen muß, eine Gesellschaft mit echten Klassen in jegliche Richtungen. Dies ist ein schwieriges und kompliziertes Werk. Das russische Volk ist allerdings tapfer. Ich glaube nicht an eine Restaurierung des Zarentums. Die Kluft seit 1917 erscheint mir als allzugroß.
Wie schätzen Sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus den anscheinenden Sieg des Amerikanismus unter dem Motto der "Globalisierung" ein und befürchten Sie nicht das Ende eines Modells, wie es in Deutschland mit der sozialen Marktwirtschaft wegweisend geworden ist?
Der Gedanke einer Globalisierung ist direkt mit dem Ende des Kommunismus verbunden. Seit 1991 erleben wir gleichsam den "Ausbruch" der Idee der Globalisierung als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Meiner Meinung nach wird das Ende des europäischen Kommunismus mit seinen Marxschen Ideen zu einem kurzfristigen Triumph des Weltkapitalismus führen. Die europäischen Staaten werden jedoch deswegen dazu gezwungen sein, Gegengewichte zur Globalisierung zu finden und damit sehe ich gute Chancen und durchaus auch eine Zukunft für eine soziale Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland praktiziert wird.
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