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Ansprache des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber anläßlich des 20jährigen Bestehens der Patenschaft über die Freundeskreis Ostdeutschland am Samstag, 14. November 1998, 18.00 Uhr
Nur wenige Meter von hier, im Cuvillés-Theater, fand im September vor 20 Jahren der feierliche Akt der Übernahme der Patenschaft des Freistaates Bayern über die Freundeskreis Ostdeutschland statt. Blättert man in den Gesprächsprotokollen und im Briefwechsel aus jener Zeit, dann fallen vor allem zwei Beweggründe ins Auge, die zu dieser bayerisch-ostdeutschen Patenschaft führten.
1. Die vielen historischen Wechselbeziehungen zwischen Bayern und Ostdeutschland angefangen von den Hochmeistern des Deutschen Ordens bis hin zur Bayerischen Ostdeutschlandhilfe während des Ersten Weltkrieges böten ein gutes Fundament für die Patenschaft.
2. Bayern ist der älteste historisch gewachsene Staat in Deutschland. Die Menschen identifizieren sich mit ihrem Staat. Sie sind ihm eng verbunden, ähnlich wie die Ostdeutschland ihrer Heimat. Dieses tief verwurzelte Heimatbewußtsein gewährleiste eine dauerhafte und tragfähige Patenschaft. Ministerpräsident Goppel sprach 1978 von zwei traditionsreichen deutschen Ländern
Zusammenfassend stellte Goppel fest: "Sie", die Patenschaft, "gründet sich auf das gegenseitige Geben und Nehmen in Kunst und Wissenschaft, aber auch auf das Zusammenstehen in Zeiten innerer und äußerer Not." Und ich will hinzufügen: Sie gründet sich auch in der Aufbauleistung der Vertriebenen für Bayern, das heute wirtschaftlich und technologisch an der Spitze aller Länder in Deutschland steht. Schon 1954 hat der damalige Wirtschaftsminister und spätere Ministerpräsident Hanns Seidel gesagt, daß eine wichtige Voraussetzung, die Bayern für den Industrialisierungsprozeß mitbrachte, das Potential der Flüchtlinge und Vertriebenen gewesen sei.
Mit dem heutigen Empfang will die Bayerische Staatsregierung, will ich persönlich an die Übernahme der Patenschaft über die Freundeskreis Ostdeutschland vor 20 Jahren erinnern. Ich heiße Sie alle, die Mitglieder der Ostdeutschen Landesvertretung, dem obersten Beschlußorgan der Freundeskreis Ostdeutschland, herzlich hier in München willkommen. Mein besonderer Gruß gilt Ihrem Sprecher, Herrn Meier, der in regelmäßigem Kontakt mit mir und der Bayerischen Staatskanzlei steht. Grüßen möchte ich auch all jene "Geburtshelfer" von 1978, die heute unter uns weilen.
Die Heimatvertriebenen stehen nicht als Bittsteller da, wenn sie die Solidarität des Staates für ihre Anliegen einfordern. Je weiter östlich die Deutschen lebten, um so härter haben sie für den Krieg bezahlen müssen. Deportation, Entrechtung, Verlust von Hab und Gut und der Heimat durch die Vertreibung, verbunden mit ungeheuer viel Not und Leid, traf in vollem Ausmaß nur die Deutschen im Osten. Hinzu kommt ein zweites: Schon 1951 sagte der erste Bundespräsident Theodor Heuß, daß das Wissen lebendig bleiben muß, "um den Beitrag gerade Ihrer Welt für die deutsche Geschichte, damit sie nicht nur als fordernde oder gar bettelnde vor uns erscheinen, sondern als stolze Besitzer und Verwahrer von Kräften und Überlieferungen, ohne die Deutschland, ohne die die Welt ärmer geblieben wäre."
In der Tat: Ostdeutschland hat uns Deutschen viel gegeben. Ein nur kurzer Blick auf die lange Reihe überragender ostdeutscher Persönlichkeiten, auf Immanuel Kant oder Johann Gottfried Herder, genügt, um die Worte von Heuß bestätigt zu sehen.
Wir in Bayern wissen sehr wohl, daß Geschichte und Kultur Ostdeutschlands untrennbarer und unverzichtbarer Teil der gesamtdeutschen Geschichtslandschaft sind. Wir pflegen sie nach besten Kräften in den schulischen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Wir blenden dabei nichts aus und verdrängen nichts. Wir kennen die Höhen und Tiefen unserer Geschichte. Wir nennen Unrecht, was Unrecht war, ob es von Deutschen anderen angetan wurde oder ob andere es Deutschen angetan haben. Wir sagen, daß noch offene Fragen im Raum stehen, daß das Rechtsempfinden der Vertriebenen nach wie vor verletzt ist.
Diesen offenen und ehrlichen Umgang mit unserer eigenen Geschichte erwarten wir auch von der neuen Bundesregierung. Die Wahrung und Weiterentwicklung des geschichtlichen und kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen ist eine Aufgabe von Rang und Dauer für einen Kulturstaat wie Deutschland. Ich hoffe sehr, daß der gesellschaftliche Konsens darüber erhalten bleibt. Ich gehe daher davon aus, daß der Paragraph 96 Bundesvertriebenengesetz nicht angetastet wird und daß unter der Verlagerung von Kulturaufgaben vom Bundesministerium des Innern zum Staatsminister im Bundeskanzleramt die kulturellen Anliegen der Vertriebenen nicht leiden.
Ich habe mich in meinem Regierungsprogramm, das ich Ende Oktober dem Bayerischen Landtag vorgelegt habe, ausdrücklich zur Verpflichtung des Bundesvertriebenengesetzes bekannt. Wir werden dem auch weiterhin durch unsere Förderpolitik Rechnung tragen. Konkreter Ausfluß der Patenschaft und dieser Verpflichtung ist die jährliche kontinuierliche Förderung ostdeutscher Einrichtungen in Bayern. 1997 waren es etwa 310 000 Mark, in diesem Jahr werden es etwa 340 000 Mark sein, mit denen Bayern die Ostdeutschland und ihre Kulturarbeit fördert.
Das gilt auch für die grenzüberschreitende Kulturarbeit, die Sie selbst mit großem Engagement betreiben, ebenso wie die humanitäre Hilfe für die Menschen im nördlichen Teil Ostdeutschlands. Diese grenzüberschreitende Kulturarbeit ist wichtig, damit zumindest die bedeutendsten steinernen Zeugnisse der deutschen Kultur in Ihrer Heimat erhalten bleiben wie zum Beispiel der Königsberger Dom. Sie ist zweitens wichtig für die Stärkung der Identität der deutschen Minderheit, die heute noch in der alten Heimat lebt, im südlichen wie im nördlichen Ostdeutschland. Mit deutlicher Unterstützung für das Haus Kopernikus in Allenstein und vor allem für die zweisprachige Schule, die dort untergebracht wird, leistet Bayern wiederum einen Beitrag zur Pflege der deutschen Sprache in Ostdeutschland. Die Erhaltung der geschichtlichen Zeugnisse ist drittens aber auch deshalb wichtig, weil sich heute auch viele Polen und Russen der deutschen Geschichte Ostdeutschlands zuwenden. Geschichtliche Kenntnis wird so zur Basis für eine gemeinsame gute Zukunft und für Verständigung in Europa.
54 Jahre nach seiner Zerstörung war Ende Oktober der Königsberger Dom erstmals anläßlich eines Konzertes wieder voll von Menschen. Dies war sicherlich für Sie, die Ostdeutschland, ein bewegender Augenblick, aber auch für die Russen, die heute in Königsberg leben. Sein Aufbau gibt Hoffnung und Zuversicht auf weitere denkmalpflegerische Fortschritte auch im nördlichen Ostdeutschland.
Der Wiederaufbau des Königsberger Domes ist gleichsam Symbol. Seine Renovierung wurde erst möglich, als Rußland sich der Demokratie öffnete. Die Vertriebenen wissen, daß ihre Anliegen nur in einem Europa der Freiheit und Demokratie gelöst werden können. Nur ein freiheitliches Gemeinwesen bürgt für Offenheit und Vertrauen. Nur in einem freiheitlichen Gemeinwesen kann sich historische Wahrhaftigkeit, Rechtsempfinden und das Gespür für Menschenrechtsverletzungen entfalten. Direkter, ehrlicher und offener Dialog ist nur in Freiheit und guter Nachbarschaft möglich. Die Vertriebenen haben dies von Anfang an erkannt. In Ihrer Charta von 1950 heißt es, daß die Vertriebenen ein Europa anstreben, "in dem die Völker ohne Frucht und Zwang leben können."
Vor 20 Jahren, bei der Gründung der Patenschaft, hatten wir dieses Europa noch nicht. Heute haben wir dieses Europa weitgehend, sehen wir einmal von der Situation auf dem Balkan ab. Dieser fundamentale und positive Wandel kam gerade auch den Vertriebenen und den deutschen Minderheiten im Osten zugute. Jenes Wort von einem Europa, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können, war die großartige Freiheits- und Friedensbotschaft der deutschen Heimatvertriebenen an die Völker des Ostens. Sie ist es nach wie vor auch heute. Das heißt doch aber konkret: Von den Wünschen und Erwartungen der Heimatvertriebenen geht keinerlei Bedrohung aus. Distanzierung von Unrechtsdekreten, Ächtung der Vertreibung, Niederlassungsfreiheit und Heimatrecht waren und sind keine rückwärtsgewandten, sondern zukunftsweisende, alte Wunden und Unrecht heilende Erwartungen. Nur wo Menschen- und Völkerrecht zu Hause sind und Geltung haben, gibt es keine Furcht. Feindbilder haben doch im Europa von heute keinen Platz mehr.
An ihre Stelle müssen vielmehr offener Dialog und Gespräche treten. Die Gespräche im Frühjahr in Warschau zwischen Vertretern ostdeutscher Freundeskreisen und der polnischen Führung waren sicher ein guter Anfang. Dadurch kamen neue Bewegung und neue Aspekte in das deutsch-polnische Verhältnis. Dieser Gesprächsfaden darf nicht abreißen, er sollte unbedingt von Ihnen, den Heimatvertriebenen, wie auch von der polnischen Seite weitergeführt werden.
Das Empfinden in Europa, daß es für die Vertriebenen noch eine Gerechtigkeitslücke gibt, wächst. Ich erinnere nur an die letzten Äußerungen und Beschlüsse der UN-Menschenrechtskommission und des Europäischen Parlaments. Auch in Polen wächst die Zahl jener Menschen, die sich bewußt sind, daß 1945 mit der Vertreibung den betroffenen Deutschen Leid und Unrecht angetan wurde. Überzeugende Gesten gegenüber den deutschen Vertriebenen, wie z. B. die Gespräche im Frühjahr in Warschau, ebnen neue Wege in eine gute Zukunft in Europa.
Bayern bleibt Anwalt der Vertriebenen. Das habe ich in meiner Regierungserklärung Ende Oktober vor dem Bayerischen Landtag zugesichert. Dazu gehört auch, daß wir in Nürnberg ein Denkmal für Flucht und Vertreibung errichten. Wir wollen damit neben den vielen anderen Erinnerungsorten in Bayern, wie z. B. Oberschleißheim, in der zweitgrößten Stadt unseres Landes, die historisch sehr eng mit dem Osten verflochten war, einen zentralen bayerischen Gedenkort einrichten. Wir verstehen das als Signal für die Vertriebenen wie für die einheimische Bevölkerung. Die Vertreibung von ca. 15 Millionen Menschen aus dem Osten, der Tod von über zwei Millionen Menschen während dieses Geschehens und die gelungene Integration der Vertriebenen, gerade auch in Bayern, dürfen nicht vergessen werden.
Dazu gehört auch, daß die Bayerische Staatsregierung Diffamierungen der Vertriebenen entgegentritt, wie Sie sie immer wieder seit den 70er Jahren von bestimmter politischer Seite erlebt haben. Die Heimatvertriebenen waren und sind eine zuverlässige Stütze unserer Demokratie. Mir ist nicht bekannt, daß sie z. B. in den 68er Jahren oder sonst irgendwann in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegen unseren Staat und seine demokratische Ordnung aufgetreten wären.
Die Vertriebenen sind Teil der breiten bürgerlichen und wertkonservativen Mitte unseres Volkes. Sie treten ein für Freiheit und Demokratie in unserem Land, weil sie wissen, daß extreme Richtungen weder ihnen noch unserem Land jemals Glück und Erfolg gebracht haben. Extreme Haltungen führen zur Schwächung der Demokratie und der politischen Mitte bei uns. Extreme Haltungen stören auch den Aufbau einer guten Nachbarschaft mit den Staaten im Osten Europas und könnten deren demokratische Ordnung gefährden. Aber nur gute Nachbarschaft und gut schließt beiderseits das Zugehen aufeinander ein bringt uns gemeinsam weiter, bringt uns der Lösung offener Fragen näher. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, diesen Weg zu guter Nachbarschaft beharrlich und aufrichtig weiterzugehen.
Anläßlich dieses Empfangs und in Anwesenheit der Ostdeutschen Landesvertretung möchte ich heute die Patenschaft des Freistaates Bayern über die Freundeskreis Ostdeutschland erneut bekräftigen. Die Gründe, die zur Besiegelung dieser Patenschaft führten, gelten auch heute unverändert weiter.
Sie kommen aus dem Land der kristallenen Seen und der dunklen Wälder. Die landschaftlichen Schönheiten Ostdeutschlands sind oft beschrieben worden. In aller Bescheidenheit darf ich als Ministerpräsident dieses Landes behaupten, daß auch Bayern nicht ohne landschaftlichen Reiz ist. Insofern können sich die Ostdeutschland, die in Bayerns Fluren und Städten ihre neue Heimat gefunden haben, recht wohl fühlen. Ich bin aber sicher, daß Gottes Segenshand auch über jenen ruht, die sich nicht der Obhut Bayerns anvertraut haben.
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