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Schuldstolz statt historischer Wahrheit

 
     
 
Die innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers legen die Vermutung nahe, daß die große Masse von der neuen Regierung sehr angetan war. Gilt dies auch für die Judenverfolgung, die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und die Tage danach, die Stigmatisierung durch den Judenstern, die Judenvernichtung?

Was die Reaktion der Bevölkerung
auf die Ausschreitungen insbesondere der SA in und nach der Reichspogromnacht anlangt, so heißt es in einer eingehenden Untersuchung zusammenfassend: "Fast alle diplomatischen Berichte stellten die Passivität der Bevölkerung heraus, das stumme Entsetzen, Zornesausbrüche einiger weniger, die Scham der meisten. Die Diplomaten beobachteten Leute, die die Entehrung der Juden unmittelbar als Verletzung der eigenen Ehre, als Entehrung des deutschen Namens empfanden. Die auswärtigen Beobachter nahmen vor allem ein Volk in tiefer Depression wahr. Jeder, der widersprechen wollte, hatte längst begriffen, daß er auf keinerlei Schutz durch Behörden, Gerichte oder Nachbarn hoffen durfte."

Die Tochter eines Juden erinnert sich: "Mein Vater trug am Mantel den gelben Stern, so daß alle verstanden, wer er war. Die Menschen machten alle sehr betretene und beschämte Gesichter, es herrschte tiefes Schweigen. Rechts und links wurde mein Vater von seiner Frau und mir gestützt, um die Stufen [beim Einsteigen in die Straßenbahn] nehmen zu können. Was ich damit sagen will: Die von Herrn Bubis und anderen so häufig zitierte Judenhetze von damals hat doch ein sehr viel differenzierteres Gesicht. Kein einziger hat ein verunglimpfendes Wort gesagt, die wartenden Menschen bildeten ganz betreten schweigend ein Spalier."

Weil wir schon mit der Straßenbahn unterwegs sind, noch eine andere Straßenbahngeschichte: "Meine Mutter beginnt zu weinen, näht mit zitternden Händen den Stern wieder an ..." Dann begibt sich der junge Mann zur Straßenbahn. "Der Schaffner beachtete mich nicht, er lief an mir vorbei und kassierte bei den anderen Fahrgästen. Am Halleschen Tor endlich, als viele Leute ausstiegen und niemand außer mir hinten auf der Plattform stand, kam er auf mich zu, hielt eine Hand an den Mund und flüsterte vordergründig: ‚Is doch jut Bengel ... Steck det Jeld ma wech. Dann ging er ins Wagen-innere, klappte den Sitz auf der Längsbank hoch, brachte eine lappig alte Aktentasche zum Vorschein und nahm zwei große Butterbrote in Pergamentpapier aus einer Blechbüchse: Da, nimm det man. Mir war Ähnliches schon öfter passiert, in der Straßenbahn, oder in der U-Bahn. Im letzten Moment vor dem Aussteigen drückte mir jemand ein Essenspaket oder auch eine Schachtel Zigaretten in die Hand ... Es gab auch andere, die mich schubsten, wenn sie meinen gelben Stern sahen, oder mir ein Bein stellten."

Noch weit aussagekräftiger ist der Abschnitt seines Buches, in dem er schildert, daß der ganze Ort, nämlich Blankenburg, über sein Versteck Bescheid wußte. Doch niemand verriet ihn und seine Hausleute an Hitlers Geheime Staatspolizei. Blankenburg war nicht der einzige Ort, wo alle Bewohner den Häschern ihre Mitarbeit versagten.

Hätten die Nationalsozialisten geglaubt, auch die Judenverfolgung einschließlich der "Endlösung der Juden- frage" werde von der großen Mehr-heit des deutschen Volkes gebilligt, hätten sie nicht diese Maßnahmen mit der größtmöglichen Sorgfalt zu kaschieren versucht. Der Massenmord an den geistig Behinderten trägt Hitlers Unterschrift, nicht aber der Massenmord an anderen Völkern. Der exterminatorische Antisemitismus ist als Massenphänomen nicht einmal unter allen Anhängern Hitlers nachweisbar.

Namhafte Stimmen im Ausland unterwarfen das Goldhagen-Buch "Hitlers willige Vollstrecker" einer harten Kritik. Seinen Blick in französische Zeitschriften betitelt der Frankreichkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Altwegg, mit den Worten: "Goldhagens wahnhafte Fixierung ..." Daraus einige Textstellen: Abwegig sei "Goldhagens Fixierung auf eine deutsche Kollektivschuld, an die längst kein seriöser Historiker und Ethnologe mehr glaubt - außer vielleicht in den Vereinigten Staaten." "Goldhagen operiere mit Begriffen und Vereinfachungen, die schon vom Nürnberger Kriegsgericht widerlegt worden seien." "Im Vergleich zum österreichischen, russischen und französischen zeichne sich der deutsche Antisemitismus keineswegs durch einen stärkeren ‚Hang zur Ausmerzung aus." "Der Leser wird in seinem Glauben an die absolute Einzigartigkeit des Nationalsozialismus bestärkt - ‚eine Interpretation hätte nach Vergleichen verlangt . Die Zeitschrift L Histoire lehne Goldhagens These von den Deutschen, die kollektiv ‚aus Überzeugung und mit Lust die Juden ausgerottet hätten, ab. ‚Es gibt kein Mördervolk! " - kein Tätervolk, wie ich hinzufüge.

Auch in den USA und Kanada wurden die Schwächen des Buches schonungslos aufgedeckt, insbesondere durch Norman G. Finkelstein und Ruth Bettina Birn, die Autoren des Buches "Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit".

Besonders bemerkenswert ist die kalte Aufnahme in Israel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete unter der Überschrift "Der Verführer, der nicht überzeugt. Lesung vor leeren Stühlen. Israel bleibt skeptisch gegen Goldhagens einfache Antworten". Einige der kritischen Glossen lauten: "So kann Goldhagen uns Juden und Israelis nicht an der Nase herumführen." Mit unglaublich aggressiver Werbung werfe dieser Mann mit dem "traurigen Babygesicht" sein Buch auf den Markt, in der Regel von einem Schock Begleiter umgeben wie sonst nur Michael Jackson, und ziehe Kaninchen aus dem Hut, nachdem Generationen von Historikern im Schweiß ihres Angesichts geforscht hätten. Es sei unerträglich, daß ein Buch über ein so ernstes Thema wie den Holocaust mit schneller Hand aggressiv auf den Markt gebracht werde. Eine angesehene Wochenzeitung berichtete unter der Überschrift "In Israel durchgefallen". Der in Tel Aviv lebende Reporter bestätigt auf eindrucksvolle Weise, was im ersten Teil über die Juden in der deutschen Gesellschaft ausgeführt worden ist: Es habe ... seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland keine gesellschaftlich sanktionierte antisemitische Norm gegeben ... Man dürfe den deutschen Antisemitismus zwar nicht verniedlichen - aber man müsse doch sehen, daß viele Juden in der Weimarer Republik in der Politik und in der Wirtschaft Spitzenpositionen einnehmen konnten und daß am Ende des 19. Jahrhunderts Juden aus Osteuropa nach Deutschland auswanderten - was sie wohl nicht getan hätten, wenn Deutschland von einem allgemeinen Antisemitismusvirus befallen gewesen wäre: Die Gruppe um Hitler sei nicht wegen ihres antijüdischen Programms an die Macht gekommen, sondern wegen der pragmatischen Politik, mit der sie eine bessere wirtschaftliche Zukunft versprochen habe.

Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte nahe Jerusalem, ursprünglich als Mitherausgeber der Iwrit-Ausgabe des Goldhagen-Buches im Gespräch, verweigerte nach Bekanntwerden der Mängel die Mitwirkung.

In Deutschland war das Presseecho so gewaltig und so positiv, daß das Buch zum Bestseller wurde, trotz gelegentlicher Kritik, die dem Absatz nur zuträglich sein konnte. So nimmt es nicht wunder, daß dieser Pseudohistoriker bereits 1997 in der Bonner Beethovenhalle für sein verleumderisches Buch mit dem Demokratiepreis ausgezeichnet wurde, verliehen durch die früher aus DDR-Quellen gespeisten "Blätter für deutsche und internationale Politik". Bei der Preisverleihung war Goldhagen umrahmt von Jürgen Habermas und Jan Phi-lipp Reemtsma. Habermas zählt zu den namhaftesten Verharmlosern der stalinistischen Verbrechen. So hat er den Massenmord an den Kulaken als bloße "Vertreibung der Kulaken" verharmlost. Reemtsma trägt offenbar sehr schwer an seiner Abstammung aus tiefbraunem Hause. Dem Herausgeberkreis der "Blätter" gehörten damals an: Günter Gaus, der als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin an der totalitären DDR recht wenig auszusetzen hatte, Walter Jens, der vorgibt, bis vor kurzem nichts von seiner Mitgliedschaft in Hitlers Partei gewußt zu haben, und Reinhard Kühnl, in Fachkreisen als der Linksaußen unter den Politologen bekannt.

Daher überrascht der Triumphzug kaum, von dem eingangs die Rede war, als im Herbst 2002 ein neuer "Goldhagen" angekündigt und ausgeliefert wurde. Alle Medien, Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen, stürzten sich auf seinen Titel "Die katholische Kirche und der Holocaust", so als ob von ihm eine neue Offenbarung zu erwarten gewesen wäre. Ein ganzes Dutzend seriöser Untersuchungen angesehener Fachwissenschaftler zusammengenommen kann auch nicht annähernd mit einer solchen Aufmerksamkeit rechnen. Und dann die vollen Säle überall, wo er auftrat, wie erwähnt: in Frankfurt a. M., Berlin, Hamburg, Köln, München, Wien.

Hochangesehene Persönlichkeiten gaben ihm die Ehre, nicht nur jene, die schon genannt worden sind, sondern gleichsam die Spitze der deutschen Gesellschaft, wie ich einem zufällig angehörten Gespräch der Begleiterin Goldhagens mit einem Hamburger Diskussionsteilnehmer entnehmen konnte. (Der Umstand, daß die Information nicht für mich bestimmt war, verpflichtet mich zur Diskretion.)

Hätte man die Einladung zur Diskussion ausschlagen sollen, mag sich manch einer fragen. Ich antworte mit einem entschiedenen Ja, vorausgesetzt man hat einen solchen Ruf, daß die Begegnung, die Nennung des Namens allgemein als Aufwertung empfunden wird und so der Verbreitung der Verleumdungen Vorschub leistet.

Als die Einladung an mich erging, willigte ich spontan ein, da ich das Bedürfnis verspürte, diesem böswilligen Hetzer die Meinung zu sagen. Der Verleger meines Buches "Die Schuld" sandte es umgehend dem Berliner Siedler-Verlag, der Goldhagen in Deutschland betreut. Schon wenige Tage später teilte mir die Katholische Akademie Hamburg, wo die Veranstaltung stattfinden sollte, mit, sie müsse auf meine Mitwirkung verzichten, da Siedler Einspruch erhoben habe. Offenbar hatte man zwischenzeitlich in meinem Buch gelesen und die Stelle entdeckt, wo es heißt:

"Von der geradezu manischen Schuldbesessenheit mancher Christen war eben die Rede. Diese Feststellung trifft auch auf viele Deutsche zu. Paradigmatisch dafür ein bei Rowohlt erschienenes Buch mit dem bezeichnenden Titel ‚Ich will schuldig sein . Im Klappentext heißt es: ‚Maria Erlenberger [die Autorin] begann in der psychiatrischen Anstalt zu schreiben, in die sie nach einem "Selbstmordversuch durch Verhungern" eingeliefert worden war. Eine psychische Verwandtschaft ist all jenen Deutschen zu attestieren, die das unsägliche Goldhagenbuch ‚Hitlers willige Voll- strecker beifällig aufnahmen. Nicht daß derlei geschrieben wird, ist das Bitterste, sondern daß derlei bis hin zu ‚Mein Kampf einen Verleger und Leser findet."

Eine solche Kritik macht verständlich, daß der Kritiker seitens der Angesprochenen in Ungnade fiel und seine Teilnahme an der Diskussion tunlichst verhindert werden sollte. Auf Drängen Hamburger Katholiken wurde ich wieder eingeladen und durfte mich mit zweimal sechs Minuten in die Diskussion einbringen.

Daß sich viele Juden inmitten eines Volkes, dessen Selbstwertgefühl so sehr beschädigt ist, nicht wohl fühlen, ist nur zu verständlich. Deshalb zögern viele Juden mit deutschem Paß immer noch, als Deutsche aufzutreten (Zentralrat der Juden in Deutschland!).

Hier und heute füge ich dem eben Zitierten hinzu: Schuldstolz statt Wahrheit ist offenbar die ungeschriebene Devise gewichtiger Meinungsführer der deutschen Gesellschaft. Wer es wagt, die Deutschen gegen den ungeheuerlichen Vorwurf, ein Tätervolk zu sein, in Schutz zu nehmen, läuft Gefahr, von der deutschen Gesellschaft an den Rand gedrängt zu werden, wer es aber wörtlich oder sinngemäß als Mördervolk charakterisiert, der wird umjubelt und als "König der Herzen" gefeiert. Hitlers willige Vollstrecker mordeten, wie gezeigt, nicht primär aus einem anerzogenen Antisemitismus heraus, sondern - soweit sie nicht von der absoluten Verbindlichkeit eines Befehls ausgingen (Befehlsnotstand?) - aus der Sorge, andernfalls der Ächtung durch Vorgesetzte und Kameraden zu ver- fallen, eine Schwäche, die selbst in einem freiheitlichen Gemeinwesen auf Schritt und Tritt anzutreffen ist. Lieber beim Unrechttun nicht abseits stehen, als gegen den Teamgeist verstoßen, die "Solidarität" aufkündigen! Wäre Antisemitismus das Hauptmotiv gewesen, hätten die Vollstrecker nicht den anderen "Minderwertigen" gegenüber die gleiche kalte Brutalität gezeigt wie gegenüber den Juden.

Ich schließe mit einer Einsicht, die der Jude und Emigrant Robert Waelder so vorzüglich ausformuliert hat: "Es gibt keinen Grad der Unsinnigkeit, der in den Augen der Moralisten ein Argument für die Verurteilung ihrer eigenen Gesellschaft unbrauchbar machen könnte". Beweis: Goldhagens Buch über "Hitlers willige Vollstrecker".

Belebte schon 2002 die Antisemitismusdebatte neu: Der umstrittene amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen (r.) diskutierte mit dem Altbischof von Trier, Hermann Josef Spital, beim SWR in Mainz über die Rolle der Kirche während des Holocausts.
 
     
     
 
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