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Der ungarische Reichsteil der Donaumonarchie war im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein alles andere als minderheitenfreundlich.
Ein starker madjarischer Nationalismus bewirkte eine Assimilationspolitik, die insbesondere nach der Erklärung des Ungarischen zur Staatssprache 1843/44 zum massenhaften Aufgehen anderer Volkszugehöriger in der Staatsnation führte. Fortan bildete Ungarisch die Unterrichtssprache an sämtlichen Schulen und fand Einzug in die Gottesdienst e aller Konfessionen.
Heute hat sich die Situation stark verändert. Das infolge des verlorenen Ersten und Zweiten Weltkrieges zusammengeschrumpfte mitteleuropäische Land wird europaweit wegen seiner "minderheitenfreundlichen" Politik gelobt.
In bezug auf das vorerst gescheiterte Vorhaben einer EU-Verfassung machte sich die Republik Ungarn bis zuletzt für die Berücksichtigung von Minderheitenrechten stark. Nicht von ungefähr unterbreitete Ministerpräsident Medgyessy außerdem im Oktober letzten Jahres vor dem Europarat die Idee eines Europäischen Minderheiten-Zentrums mit Sitz in Budapest. Einerseits ist die Volksgruppenpolitik dieses Landes ohne jeden Zweifel vorbildlich, nämlich was die Fürsorge für die eigenen ungarischen Minderheiten jenseits der Grenzen betrifft.
Die Republik Ungarn ist äußerst rege, wenn es darum geht, das Los der 1,43 Millionen ungarischsprachigen Madjaren in Rumänien (Volkszählung 2002), der ungefähr 500 000 Landsleute in der Slowakei, der knapp 300 000 Ungarn in der serbischen Wojwodina oder der über 150 000 Madjaren in der Karpaten-Ukraine zu verbessern.
Gegenwärtig besteht die Sorge, daß der bevorstehende EU-Beitritt eine stärkere kulturelle wie wirtschaftliche Isolierung von den in den Nachbarstaaten lebenden Landsleuten bewirken könnte. Das Thema der nationalen Solidarität bewegt mehr denn je die ungarische Öffentlichkeit.
Ganz besonders in Wahlkampfzeiten spielt es eine nicht zu unterschätzende Rolle, während bei den etablierten deutschen Parteien und den hiesigen Massenmedien diesbezüglich bekanntlich Desinteresse vorherrscht, oft sogar grundsätzliche Ablehnung.
Im Prinzip genießt die Hilfe für die Auslandsungarn sowohl bei rechtsgerichteten Parteien wie auch bei linksgerichteten einen hohen Stellenwert. Allerdings kann man der im Jahr 2002 abgelösten nationalliberalen Regierung Orbán im Vergleich zur gegenwärtigen Linkskoalition von Ministerpräsident Medgyessy ein noch deutlich größeres Engagement bescheinigen.
Orbán hatte die "Wiedervereinigung aller Ungarn" sogar zur Kernaufgabe seiner Regierungsarbeit erhoben - allerdings nicht im Sinne etwaiger Grenzverschiebungen, sondern in kultureller und sozialer Hinsicht. Alljährlich findet in Budapest ein "Gipfeltreffen" höchster ungarischer Regierungsvertreter mit Abgesandten der madjarischen Volksgruppen in der Diaspora statt.
Hartnäckig stritt man mit Rumänien und der Slowakei über das vor gut zwei Jahren in Kraft gesetzte Statusgesetz für Auslandsungarn. Trotz eines ständigen Hickhacks sowie wiederholter Warnungen von EU-Vertretern vor einer "nationalistischen" Außenpolitik erwirkte die Budapester Führung letztlich einen Kompromiß, der durch grenzüberschreitende Finanzhilfen in den Bereichen Bildung, Soziales und Verkehr die Lage der heimatverbliebenen madjarischen Volksgruppen entschieden verbessert.
Das ist auch bitter nötig, da die Auslandsungarn infolge eines massiven Geburtenrückgangs und einer fortgesetzten Abwanderung vor allem jüngerer Leute ins Mutterland schleichend "ausbluten". Neben dem Statusgesetz bewegen vor allem zwei minderheitenpolitische Themen die Öffentlichkeit: die Diskussion um die parteipolitische Spaltung der Madjaren in Rumänien und die Auseinandersetzung um eine Autonomie für das im Nordosten Siebenbürgens gelegene Szeklerland.
In Rumänien stehen sich der von den derzeitigen Regierungen in Budapest und Bukarest favorisierte Demokratische Verband der Ungarn in Rumänien (dieser ist in einer Koalition mit den machtha-benden rumänischen Postkommunisten verbunden) sowie das von den oppositionellen Jungdemokraten und anderen konservativen ungarischen Gruppierungen unterstützte Bürgerliche Forum gegenüber. Während letzteres von dem charismatischen Laszlo Tökes, seines Zeichens kalvinistischer Bischof und Revolutionsheld von 1989/90, geführt wird, steht der Ungarnverband unter Leitung Béla Markós.
Beide liefern sich seit Monaten eine Propagandaschlacht, bei der die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen, bei denen die "Falken" erstmals eigene Bewerber ins Rennen schicken wollen, bereits ihre Schatten vorauswerfen. Unter Mitwirkung von Tökes wurde im vergangenen Herbst ein "Nationaler Szeklerrat" gebildet, der einen Gesetzentwurf zur Autonomie der Region ausarbeitete. Im Dezember folgte die Ausrufung eines ähnlich ausgerichteten, nur weiter gefaßten "Nationalrats der Ungarn Siebenbürgens".
Das erst seit der Zwischenkriegszeit bzw. nach 1945 rumänisch beherrschte Siebenbürgen hat in den Herzen sehr vieler Menschen im ungarischen Mutterland einen festen Platz. Man weiß, daß dort bis heute Landsleute leben, die ihr Ungarntum über Jahrhunderte hinweg - selbst in den schwersten Zeiten der Türkenherrschaft - zäh bewahrten und deren Ungarisch als "besser" gilt als das eigene.
Der madjarische Stamm der Szekler mit seinen 700 000 Angehörigen begreift sich zwar als besondere ethnische Gruppe, aber an ihrer ungarischen Identität lassen die unbeugsamen, nicht selten hochmütigen Szekler keinen Zweifel.
Der bereits kurz nach der Wende begonnene Streit um eine Territorialautonomie ihres geschlossenen Siedlungsgebietes ist weit mehr als eine innerrumänische Angelegenheit, die in der Landespresse für immer neue Schlagzeilen über den latenten "Separatismus" der Ungarn sorgt. Hier wird auch ein Propagandakrieg über den künftigen Kurs der Minderheitenpolitik der Republik Ungarn geführt.
Weit weniger heftig als bei auswärtigen Volksgruppenfragen sind die Auseinandersetzungen um die heimische Minderheitenpolitik. Auf den ersten Blick scheint diese ebenfalls vorbildlich zu sein. So gibt es seit 1993 ein Minderheitengesetz, das die Bildung staatlich finanzierter Minderheitenselbstverwaltungen einschließt, die erstmals 1995 gewählt wurden. Wer zum Beispiel durch die südungarische Branau reist, sieht allerorten mehrsprachige Ortsschilder.
Doch schaut man sich die aktuelle Lage der 13 alteingesessenen andersnationalen Ethnien genauer an, entsteht der Verdacht, daß es der Regierung in Budapest gelungen ist, die Minderheitenpolitik im eigenen Land mit einem allzu schönen Schein zu versehen.
Gesa Hambuch, ein führender Vertreter der gut 200 000 Ungarndeutschen, klagte im Dezember gegenüber dem Sonntagsblatt (Organ der Jakob Bleyer Gemeinschaft): "Für die unmittelbaren Minderheitenbelange hatte die Regierung, wie übrigens alle ihre Vorgänger, in ihrem Programm nicht viel Handgreifliches parat. (...) Formulierungen wie ‚hervorgehobene Unterstützung für die Wahrung der Minderheitenkultur konnten und können beliebig ausgelegt und somit nicht eingefordert werden."
Zur Untermauerung seiner Kritik verweist Hambuch darauf, daß die schon kurz nach dem Umbruch begonnene Debatte über eine feste Vertretung der Minderheiten im Nationalparlament nach wie vor keine Ergebnisse gebracht hat. Auch mit der vielzitierten kulturellen Autonomie der Minderheiten sei es nicht weit her. Die Ungarndeutschen müßten ebenso wie andere nicht-madjarische Volksgruppen auf kommunaler Ebene immer neue Hindernisse überwinden, bevor Schulen und andere Kultureinrichtungen in eigene Trägerschaft überführt werden könnten.
Darüber hinaus sei die finanzielle Unterstützung durch den Staat viel zu niedrig, so Hambuch. Während allein für die ungarische Universität in Siebenbürgen in den Haushaltsjahren 2003 und 2004 jeweils etwa zwei Milliarden Forint (rund 3,8 Millionen Euro) bereitstünden, seien der Kulturarbeit aller Minderheiten nur je 440 Millionen Forint zugedacht.
Weitere Probleme kommen hinzu: der stockende zweisprachige deutsch-ungarische Schulunterricht oder der Mangel an gut ausgebildeten Deutschlehrern, den auch das 1998 gegründete Ungarndeutsche Bildungszentrum in Frankenstadt (Baja) mit seinem Fortbildungsinstitut für Lehrer nur ungenügend ausgleichen kann.
Immerhin gibt es dieses Zentrum in der Batschka, zu dem außerdem ein Kindergarten, eine Grundschule sowie ein Gymnasium mit Internat gehören, an dem zusätzlich zum ungarischen Sekundarschulabschluß das deutsche Abitur abgelegt werden kann. Allein hier wachsen etwa 600 Schüler der Klassen 1-12 und gut hundert Kindergartenkinder mit der Muttersprache ihrer Vorfahren auf.
Darüber hinaus existiert in Ungarn ein rundes Dutzend deutsche Nationalitätengymnasien sowie die Ende 2002 eröffnete deutschsprachige Andrássy-Universität in der Hauptstadt Budapest.
Die Kritik, wie sie nicht nur ungarndeutsche Vertreter vorbringen, hat ihre Berechtigung und sollte international mehr Gehör finden. Doch angesichts der Situation beispielsweise der Deutschen in der Republik Polen ist auch die interne Minderheitenpolitik Ungarns so schlecht nicht.
Schöner Schein: Mehrsprachige Schilder wie im ungarn-deutschen Nimmersch oder pittoreske Volksgruppen-Feste (unten: "Festival europäischer Minderheiten" in Jászberény) täuschen über manche Mängel der Budapester Politik hinweg
Fotos: Archiv/Hailer-Schmidt |
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