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Das "vergessene Land" oder das "Land im Schatten" nennt der deutsche Botschaftsrat Dr. Kirk Mildner seinen Dienstort Weißrußland, das rund zehn Millionen Einwohner zählt. Tatsächlich ist Belarus, das landschaftlich mit seinen vielen Wäldern, Seen und Wiesen an Ostdeutschland erinnert, im Westen wenig bekannt. Und daran ist es selbst schuld, an erster Stelle sein Präsident Lukaschenko. Er herrscht, so heißt es, autoritär aber nicht totalitär. Niemand außer ihm darf sich "Präsident" einer Universität oder Vereinigung nennen, dieser Titel steht nur ihm zu. Er beschäftigt einen mächtigen Geheimdienst, hütet in seiner Hauptstadt Minsk das Denkmal des Gründers des KGB und schaut aus seinem Regierungspalast auf den in Erz gegossenen Lenin. Auch für den verbrecherischen Staatspräsidenten und Stalingefährten Kalinin, nach dem die Sowjets Königsberg benannt haben, gibt es hier noch ein Denkmal.
Lukaschenko verbietet oppositionelle Zeitungen, "informiert" mit seinem staatlichen Fernsehen und dem staatlichen Journalistenverband, regiert mit seinem von ihm selbst berufenen Parlament und läßt schon einmal einen nicht willfährigen Minister verschwinden. Das Absurde: Darüber kann offen geredet werden, selbst an der Universität, ohne daß der KGB eingreift. Demonstrationen sind erlaubt. Aber selbst Diplomaten bekommen den Staatspräsidenten kaum zu Gesicht.
Einreise
Auf dem Minsker Flughafen ist es still. Es gibt wenige ankommende oder startende Maschinen. Von der Lufthansa allerdings verkehrt täglich ein Flugzeug von Frankfurt am Main aus, gerade zwei Stunden dauert der Flug. 120.000 Visa erteilte die deutsche Botschaft im vergangenen Jahr. Es lohnt sich also für die Lufthansa, obwohl viele auch mit dem preiswerten Bus nach Deutschland fahren. Was fehlt sind Investoren, die das Land so nötig hätte. Wer will sich schon einem unsicheren Rechtssystem aussetzen oder einer Steuergesetzgebung, die der Präsident eigenmächtig auch rückwirkend festsetzen kann? So sind Repräsentanten deutscher Banken wieder weg. Wirtschaftlich ist das Land zu 90 Prozent von Moskau abhängig.
Wer aus Deutschland kommt, findet Unterkunft im IBB, der vom Land Nordrhein-Westfalen und der Evangelischen Kirche erbauten und betreuten Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte. Sie hat 45 Zimmer und einschließlich eines Saales fünf Konferenzräume sowie ein gut geführtes Restaurant. Für drei Euro fährt man mit dem Taxi in die Innenstadt. Die IBB muß sich selbst unterhalten, also für Konferenzteilnehmer und Besucher sorgen. Das geschieht mit
Erfolg, viele Fortbildungsveranstaltungen für weißrussische Studenten und Führungskräfte werden durchgeführt. Die IBB ist eine Insel für deutsche Institutionen und die unter deutscher Führung stehende fünfköpfige Beobachtergruppe der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Tourismus
Ein Reiseland ist Belarus bisher nicht. Im nächsten Jahr soll mit Radeltourismus begonnen werden. Der Kriegsgräberfürsorge werden bisher nur Schwierigkeiten gemacht. Deutschland hat einen Vertrag für die Neuanlage von etwa 300.000 Kriegsgräbern ratifiziert, Weißrußland noch nicht. Besucher, von denen sich die Regierung etwas verspricht, bekommen einen Bus aus der Präsidentengarage, aber auch der kann bei der Fahrt in die Brüche gehen, wie es einer kleinen deutschen Journalistengruppe erging. Vier Stunden dauerte es, bis Ersatz da war. Statt tatenlos zu warten und die wenigen Autos zu zählen, wurde zu einem typisch weißrussischen Dorf gewandert.
Stadtbild und Wirtschaftslage
Kukowec besteht fast nur aus in hübschen Gärten gelegenen Holzhäusern. Dorfmittelpunkte sind katholische Kirche, Kriegerdenkmal und ein Tante-Emma-Laden. Die Grundnahrungsmittel sind preiswert, müssen es auch sein bei einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 100 und einer Rente von 50 Euro. Einen Unterschied gibt es im Vergleich zu anderen GUS-Staaten: Die Renten werden pünktlich ausgezahlt. Kukowec zählt 1.500 Einwohner, die Jugend wandert ab, da sie weder Arbeit hat noch Perspektiven sieht. Die einst kinderreichen Familien haben jetzt so wenig Nachwuchs, daß die Schule wohl bald geschlossen wird. Die Kolchose ist ruiniert, verantwortlich dafür sind die "Räte". "Alles wird seit zehn Jahren immer schlechter", erzählt eine junge Frau, die fließend Deutsch spricht. Sie arbeitet in einer Textilfabrik nahe Minsk, die nach Deutschland liefert. Aber auch dort gibt es weniger zu tun. "Wir spüren hier, daß es den Deutschen wirtschaftlich auch nicht mehr so gut geht, die Aufträge gehen zurück, im Frühling und im Herbst gibt es Arbeitspausen".
Die pünktliche Bezahlung entspricht der Ordnungsliebe des Präsidenten. Das von deutschen Kriegsgefangenen wiederaufgebaute Minsk ist in seinem Zentrum makellos sauber. Geputzt wird anscheinend in der Nacht. Zu Straßenarbeiten werden selbst Soldaten in Uniform herangezogen. Die im Land herrschende große Armut wird versteckt. In der Innenstadt mit seiner sechsspurigen Prachtstraße, dem früheren Hitler-, dann Stalin-, Lenin- und heute Frantsischka Skaryny Prospekt ist kein Bettler, kein Obdachloser, kein Betrunkener zu sehen. Dabei ist die Lebenserwartung der Männer seit der Wende um acht Jahre gesunken. Grund: Das nahe der weißrussischen Grenze gelegene Tschernobyl und der Alkoholkonsum. McDonalds kann sich über einen Mangel an Besuchern nicht beklagen. Das gilt auch für das große staatliche und das fast daneben liegende private Kaufhaus. Woher die Menschen das Geld nehmen? Die Oberschicht und die Mafia haben es. Das beweisen die zahlreichen Limousinen, darunter viele BMW und Mercedes . Die Schere zwischen arm und reich klafft weit auseinander.
Häßliche Plattenbauten aber auch kleine Holzhäuser umgeben die City. 23.000 US-Dollar kostet dort eine Eigentumswohnung von 70 Quadratmetern. Wer es sich leisten konnte, kaufte seine Mietwohnung. Bedürftige wohnen umsonst.
Tschernobyl
Ganz billig oder kostenlos wohnt man in den kontaminierten Gebieten, die ein Viertel des Landes ausmachen. Eigentlich müßte man rund zwei Millionen Weißrussen aus der Region um Tschernobyl umsiedeln. Dafür aber hat der Staat, der nur noch sieben Prozent seines Haushaltes für die Linderung der Atomkraftschäden aufwendet, kein Geld. Junge Hochschulabsolventen werden dort als Ärzte oder Lehrer für kurze Zeit hingeschickt, das ist der Preis für das kostenlose Studium an einer staatlichen Universität. Fast tausend deutsche private Hilfsorganisationen, Verbände, Vereine, Pfarrgemeinden kümmern sich um Tschernobylopfer.
So auch um das Kinderdorf Nadeshda (Hoffnung), 70 Kilometer von Minsk entfernt, mitten im Wald an einem See. 2.000 Jugendliche sind über das Jahr verteilt je drei Wochen dort. Für sie gilt also nicht der in Weißrußland oft zitierte Spruch: "Verstrahlt, vergiftet, vergessen". Aufgenommen werden nur Patienten, die eine wirkliche Überlebenschance haben. Die Kinder leben in schmucken Häusern und schlicht aber gut eingerichteten Zimmern, tollen auf den Spielplätzen herum oder sitzen beim Malen, Handwerken oder Basteln. Vormittags haben sie Schulunterricht. Sie werden nicht nur medizinisch betreut, sondern auch mit einer neuen Eßkultur vertraut gemacht. Obst, Gemüse, Salate und möglichst Fettfreies kommt auf die Tische. Die Heimleitung hofft, daß die Kinder später auch ihre Eltern zu gesunder Nahrung bekehren. In einem Behandlungsraum hängt ein Poster: "Dein Zahnarzt ist nett." Die schweren Fälle kommen im August, Schilddrüsenkranke. Das sind 140 Jugendliche im Alter von 18 bis 20 Jahren.
Grundsätzlich hat jedes Kind aus den verstrahlten Gebieten Anspruch auf jährlich zwei Monate Erholung. Der Staat gibt dafür pro Tag zehn Euro. Eine Lehrerin erzählt: "Ich weiß, was es bedeutet, wenn nur zwei Prozent der Kinder einer Klasse gesund sind". Als Studienbewerber wird man bevorzugt, wenn man aus kontaminierten Gegenden kommt, in denen man nach deutschen Richtlinien gar nicht wohnen dürfte.
Unternehmertum
Der 41jährige Wassilij Wergeitschik ist einer der wenigen weißrussischen Unternehmer, die eigene Wege gehen und damit erfolgreich sind. Der gelernte Ingenieur wagte es trotz Niedergang der meisten Kolchosen, eine eigene Farm zu bauen und mit 150 Arbeitern zu betreiben. Er lädt möglichst oft Gäste ein, die er im Garten mit eigenen Erzeugnissen, viel russischem Wein und Wodka gegen harte Dollar bewirtet. Er baut nicht nur Graupen, Gerste, Weizen und Roggen an und verarbeitet das Getreide in der eigenen Mühle, sondern hat sich auf Störe spezialisiert. Im nächsten Jahr will er den ersten weißrussischen Kaviar verkaufen. Er bezieht kleine Störe aus dem russischen Astrachan und das Futter aus Frankfurt an der Oder und hält derzeit 15.000 Störe in Becken zu je 300 Stück. Um sein Ziel zu finanzieren, muß er schon jetzt große Störe schlachten und verkaufen. Eins seiner Probleme: Die Verbraucher in Deutschland sind an den Störgeschmack nicht gewöhnt. "Man muß sie erst dazu bringen, diesen Fisch zu essen". Ein Kilo Stör kostet 36 Dollar.
Zukunftsaussichten
Niemand weiß so recht, wie es mit Weißrußland weitergehen soll. Präsident Lukaschenko setzt auf Mos-kau und hat sein Land voll im Griff. Ob Putin ihn weiter stützen wird, ist ungewiß. Wenn Moskau Lukaschenko fallen läßt, ist seine Macht dahin. Die Opposition im Lande ist schwach und zerstritten. Es gibt zwar Demonstrationen gegen die Regierung, gegen das Verbot einer unabhängigen Zeitung aber ist man hilflos. Die Bevölkerung tut sich schwer, zu einer eigenen Identität zu finden. Zu selten war das Land, zu dessen Geschichte 286 Jahre Krieg gehören, selbständig. Für diesen Herbst wird mit einem Referendum gerechnet, das Lukaschenko die Wiederwahl im kommenden Jahr garantieren soll. Zwar sinkt seine Popularität wie selbst in der englischsprachigen Zeitung Belarus today zu lesen ist.,aber wirklich freie Wahlen hat es trotz der Anwesenheit von OSZE-Beobachtern bisher nicht gegeben.
Zeitreise: Die weißrussischen Dörfer sind zum Großteil von alten Menschen bewohnt. Greise Mütterchen am Wegesrand, karge Holzhäuser, kleine Tante-Emma-Läden und eine Kirche prägen das Erscheinungsbild.
Wozu eine eigene Meinung?
Ab Mai 2004 ist Weißrußland direkter Nachbar der Europäischen Union. Als demokratisch kann man das Land jedoch nur schwerlich bezeichnen. Schon die Wiederwahl des Präsidenten Alexander Lukaschenko soll nicht mit rechten Dingen vonstatten gegangen sein. Lange Zeit verweigerten die USA dem Präsidenten sowie Regierungsmitgliedern sogar die Einreise in die Vereinigten Staaten, da sie die Machenschaften des Staatschefes keineswegs gutheißen.
Presse- und Meinungsfreiheit sind in Weißrußland zwar nicht untersagt, aber wer gegen die Regierung schreibt, findet sich schnell im Gefängnis wieder. Politische Verhaftungen sind in dem Land keine Seltenheit. Der Staat, in dem als einzigem in Europa noch die Todesstrafe vollstreckt wird, nimmt es allgemein mit den Menschenrechten nicht so genau.
Außenpolitisch hat sich Lukaschenko lange Zeit nur Richtung Osten orientiert. Er hoffte, durch Zusammenarbeit mit dem schwachen Jelzin selbst die Macht in Moskau zu erlangen. Der Regierungswechsel in Rußland zerstörte jedoch Lukaschenkos Pläne. Putin erstickte jegliche Einflußnahme des nachbarlichen Staatschefs schon im Keim. Seitdem es im Osten nicht wie erwünscht verlief, gibt es Bestrebungen, mit der EU zu kooperieren. Die wiederum steht Weißrußland sehr reserviert gegenüber. Eine mögliche EU-Mitgliedschaft wird zur Zeit nicht einmal in Erwägung gezogen.
Die wirtschaftliche Lage in Weißrußland wird unterschiedlich bewertet. So betont das weißrussische Konsulat in Berlin, es herrsche nur eine Arbeitslosigkeit von wenigen Prozent. Grennadij Gruschewoj, einer der führenden Oppositionellen, ist hingegen der Auffassung, daß aufgrund der verfehlten Wirtschaftsdekrete des Präsidenten ein Drittel der Bevölkerung ohne Beschäftigung sei.
Umstrittener Staatschef: Alexander Lukaschenko |
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