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Im Jahre 1910 erschien im Jüdischen Verlag in Köln und Leipzig eine über 500 Seiten starke Dokumentation mit dem Titel "Die Judenpogrome in Rußland", in der die seit 1881 im zaristischen Rußland (also auch in der Ukraine, Weißrußland und in Polen) geschehenen Verfolgungen, Mord-, Plünderungs- und Vertreibungsaktionen sowie die vielfältige Beschränkung und Benachteiligung der dort ansässigen jüdische n Bürger festgehalten wird.
In zahllosen Städten, von Warschau, Lodz, Minsk, Kiew, Tschernigow, Odessa, Kischinew, Schitomir bis Jekaterinoslaw, und unzähligen Dörfern fanden in den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder brutale Ausschreitungen statt, bei denen aus nichtigen oder provozierten Anlässen jüdische Menschen geschlagen, getötet, beraubt und vertrieben wurden, häufig unter den Augen und mit Hilfe der Polizei, der Amtsinhaber, der Kosaken und der Soldaten. Diese Aktionen des Pöbels, des Stadtproletariats und der Bauern wurden von politischer Seite zum Teil angeordnet, unterstützt und anschließend gerechtfertigt. Die jüdische Selbstwehr erwies sich als zu schwach und wurde obendrein von den "Staatsorganen" behindert und vielfach ausgeschaltet.
Von 1881 bis 1890 kamen so fast 900.000 Juden in die Vereinigten Staaten, um der fortwährenden Diskriminierung und Bedrohung und der Rechtsunsicherheit in Rußland zu entgehen.
Im Jahr 1996 verfaßt der tschechische Historiker Thomas Stanek das Buch "Persekuce", das erst jetzt in deutscher Übersetzung im Böhlau-Verlag Wien/Köln/Weimar zum stolzen Preis von 31,80 Euro zu haben ist. (Zu bestellen beim Buchhandel, Telefon 0 40/41 40 08 28.)
Fast hundert Jahre liegen zwischen diesen beiden Büchern, aber die Schrecken - dort die Judenpogrome in Rußland, hier die tschechoslowakischen Massaker an den Sudetendeutschen - gleichen sich in erschütternder Weise. Stanek beschränkt sich in dem 228 Seiten starken Band auf die Diskriminierungen, außergerichtlichen Verfolgungsmaßnahmen, die Ausschreitungen und Massenhinrichtungen in der Öffentlichkeit, da er schon vorher mit anderen Forschern über die "Tabory" (die Lager) geschrieben hatte. Zirka 3,5 Millionen deutsche Zivilpersonen befanden sich bei Kriegsende auf dem Staatsgebiet der alten CSR, gegen die nicht nur die Rote Armee, sondern nach 1945 die tschechoslowakischen Staatsorgane und "Revolutionsformationen" zahllose Gewalttaten verübten. "Verhaftungen, Internierungen, Hausdurchsuchungen, Ausweisungsmaßnahmen, Beschlagnahme von Eigentum und Aussiedlungen über die Grenzen hinweg erreichten sehr große Ausmaße, vielerorts kam es zu Standgerichten, Exekutionen und Mord" (Seite 29). Und weiter: "Viele Deutsche kamen praktisch um alles, es blieb ihnen lediglich das, was sie am Leibe trugen" (Seite 36). Im Juli 1945 wurden täglich rund 5.000 Menschen vertrieben, so daß bis Ende Juli (noch vor der Potsdamer Konferenz) schon 448.307 Sudetendeutsche verjagt worden waren. Verteidigungsminister Ludvik Svoboda forderte als Mitglied der Benesch-Regierung die Beschleunigung der Deportationen mit allen Mitteln. Mehrfach wurden die tschechoslowakischen Militärs bei den Sowjets vorstellig, um diese Ziele schneller zu erreichen und um die Anglo-Amerikaner vor vollendete Tatsachen zu stellen.
In der außerordentlich genauen, minutiös belegten, ungemein komprimierten Darstellung zeichnet der Verfasser ein Bild der "Sturzflut an Gewalt", die in den ersten Maitagen über die böhmischen Länder hereinbrach. Weder die gefangenen deutschen Soldaten noch die Zivilisten waren von da an, trotz offizieller Zusicherungen auf "korrekte" Behandlung, ihres Lebens sicher, "Nationalausschüsse", Volks- und Militärgerichte, sogenannte Partisanen und "Revolutionsgardisten" übten Rache an tatsächlichen oder vermeintlichen Nazis, gemeine Verbrecher und ehemalige Kollaborateure tobten sich in sadistischer Weise an der völlig wehrlosen deutschen Zivilbevölkerung aus, die rechtlos und ohne jeden Schutz dem staatlich verordneten und organisierten Terror ausgeliefert war.
Im Unterschied zu den Pogromen in Rußland mit der damaligen jüdischen Selbstwehr war die sudetendeutsche Bevölkerung ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr, da auch nur der geringste Versuch dazu mit neuen brutalen Grausamkeiten und Gewalttaten beantwortet wurde.
Das Buch wird nun zu einem schauerlichen Register von Verbrechen, die in den Städten und Dörfern geschehen, darunter schon lange bekannte wie die in Prag, Theresienstadt, Aussig, Kaaden, Ostrau (Hanke-Lager), Postelberg, Saaz, Komotau, Landskron, Brünn, Pohrlitz (Todesmarsch) oder Prerau.
Dazu werden viele weniger oder nur teilweise bekannte Massaker genannt wie die von Vollmau, Nachod (von den dortigen Verbrechen hörte der Verfasser dieses Beitrags in den 80er Jahren durch eine jüdische Familie in Prag), Budweis, Türnau, Schwarzbach, Nieder-Georgenthal, die Morde in Reichenberg, Schumburg, Freudenthal, Grottau, Neu-Prerau, Duppau, Wekelsdorf, Taus, Podersam, Maria-Ratschitz, ... die Reihe ließe sich weiter fortsetzen.
Der für viele der "Aktionen" verantwortliche tschechische General K. Klapalek hielt die Massaker von Postelberg und Saaz für "ganz und gar angemessen", wie er einer 1947 eingesetzten Untersuchungskommission der verfassunggebenden Nationalversammlung berichtete.
Stanek urteilt demgegenüber: "... das, was sich hier abspielte (die Verbrechen von Postelberg), gehörte dabei offenkundig zum Allerschlimmsten aus einer ganzen Reihe von Tragödien des Zeitabschnitts im Mai und Juni in Böhmen ... Das Schicksal der in Postelberg internierten Deutschen war grauenvoll ..." (S. 144 ff.).
Die Verbrechen nahmen solche Ausmaße an, daß beispielsweise in Reichenberg die Gendarmerie Schießbefehl gegen die "Partisanen" erhielt, nachdem kurz zuvor ein achtfacher Mord in der Ehrlichgasse verübt worden war (dort erdrosselte man die Ehefrau, die Tochter, Schwiegermutter und erschlug die Hausbesorgerin mit einer Axt).
Bei den hier angeführten Verbrechen nennt der Autor vielfach auch die Namen der verantwortlichen Generäle, Offiziere, der "Partisanen", der paramilitärischen Einheiten aller Art, der "Lagerleiter", der Sicherheitsorgane, die die Bestialitäten und Morde anordneten oder selbst ausführten. Auch hier blickt man erschauernd in ein Verbrecheralbum, Verbrechen, die mit wenigen Ausnahmen wegen des Benesch-Dekrets Nr. 115 (Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946) nie geahndet wurden, was wohl in der europäischen Geschichte einmalig ist. Hier wünschte man sich eine eigene Dokumentation, damit der Nachwelt der dunkle Spiegel dieser tschechischen Chauvinisten und Menschenschinder vor Augen gehalten werden kann.
Am Fall der Verbrechen von Postelberg wird von der geheimgehaltenen Exhumierung im Jahre 1947 berichtet, bei der Hunderte Leichen aufgefunden wurden, u. a. 349 Leichen bei der Fasanerie von Levanitz und 225 Leichen bei der Schule. Insgesamt wurden dort 763 Leichen ausgegraben, wodurch die in sudetendeutschen Berichten angegebene Zahl von ca. 800 Ermordeten ziemlich genau bestätigt wurde (S. 146 ff.).
Das ungeheuerliche Geschehen wird von Stanek immer wieder allgemein und im einzelnen kritisiert und verurteilt. Er nimmt an, daß die oft als Vorwand für Exekutionen, Mißhandlungen oder Vertreibungen angeführten "Provokationen" oder "Sabotageakte" in vielen Fällen inszeniert wurden oder auf Zufällen beruhten, daß die "Werwolf-Geschichten" ebenfalls unbegründet waren, sieht hier aber auch weiteren Bedarf für Untersuchungen. Im Falle des Massakers von Aussig hat Otfrid Pustejovsky den Nachweis der staatlichen Inszenierung der Explosion von Schönpriesen erst kürzlich geliefert.
Unerhört und unentschuldbar ist das Wüten der damaligen tschechoslowakischen Armee gegen eine friedliche, wehrlose deutsche Zivilbevölkerung, und dies nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Das bleibt eine ewige Schande. Zu so einer deutlichen Aussage findet der Verfasser dieses Werkes nicht, wenn er in seiner Schlußbemerkung über die Ursachen des Werteverfalls, der Abnahme der Wertschätzung menschlichen Lebens, der Deutschenfeindschaft, der "Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Unrecht und Übel jeder Sorte" nachdenkt. Dies scheint ihm wegen der "doch verhältnismäßig zivilisierten tschechischen Gesellschaft" eine ungeklärte Frage.
Beispiele von Menschlichkeit und Zivilcourage waren wohl vorhanden, aber selten erfolgreich, hier sei nur der Gendarmeriehauptmann J. Bartl genannt, der in Rottenschachen im Kreis Wittingau Exekutionen verhinderte.
Ein weiterer Teil der Publikation widmet sich den "Aus- siedlungsaktionen", also der organisierten Vertreibung der Sudetendeutschen. Hier erfährt man naturgemäß als Betroffener wenig Neues. Schließlich zieht Stanek eine Zwischenbilanz, in der Angaben über die Opfer an Menschenleben und über die Höhe der materiellen Verluste gemacht werden. Diese sind kaum so beweissicher belegt wie die von ihm zuvor berichteten Ereignisse. Es bedarf zweifellos weiterer Untersuchungen. Er konstatiert jedoch, daß "die deutsche Bevölkerung nach dem Mai 1945 in der Tschechoslowakei unter häufig dramatischen Umständen um bedeutende Eigentumswerte gebracht wurde".
Das ist allerdings eine vornehme Umschreibung für die allen Menschenrechten widersprechende gewaltsame Enteignung des in vielen Jahrhunderten redlich erarbeiteten Besitzes.
Stanek sieht die Notwendigkeit einer substantiellen historischen Auf-arbeitung auch der Enteignungen, bewertet jedoch den Stellenwert falsch, den sie für Menschen allgemein und für die Sudetendeutschen insbesondere besitzen.
Mit der Vertreibung sollte der große Raubzug gesichert werden. Sozialneid, Gewinnsucht spielten neben dem aggressiven tschechischen Nationalismus und der verqueren Geschichtsideologie eine große Rolle bei der Austreibung.
Die zitierten Betrügereien und Unterschlagungen beim Raub des sudetendeutschen Eigentums und die betrügerische Rechnungslegung gegenüber dem tschechoslowakischen Staat können deutschen Bürgern nach all den vorausgegangenen Schandtaten wirklich völlig gleichgültig sein.
In diesen beiden letzten Kapiteln begibt sich der Verfasser aufs politische Glatteis, wo er nicht mehr so klar, übersichtlich und abgewogen argumentiert wie bei der Schilderung der "großen Säuberung" und Verfolgung.
In vielem ist ihm zuzustimmen. Die Vergangenheit von Tschechen, Sudetendeutschen und Deutschen insgesamt (wozu hier auch die Österreicher gehören) muß objektiv und unvoreingenommen betrachtet werden.
Dieses Bemühen ist bei Stanek zu erkennen. Das Ziel wird in vielen Teilen der Abhandlung erreicht. Die vorgelegten Beweise aus den Archiven untermauern unerschütterlich eine der schrecklichsten Verfolgungen in Mitteleuropa und das von einem Staat, der sich Demokratie nennen wollte und in Wirklichkeit die niedrigen Instinkte von Verbrechern und Räubern exekutierte und der in vielen seiner staatstragenden Organisationen und Personen heute noch diese Gesinnungen zur Schau stellt.
Um "Rechtsbewußtsein und moralisches Gewissen", das der Historiker durch München 38 und die seit 1939 folgende NS-Besatzungszeit gestört sieht, wiederherzustellen, ist das Buch "Verfolgung 1945" dringend notwendig und äußerst wichtig.
Man wird und kann nicht alle Schlüsse des Verfassers zu diesem Thema teilen. Aber man muß die hervorragende tiefschürfende Darstellung und die Bemühungen um eine menschlich-rechtlich ausgewogene Bewertung hoch anerkennen.
Die Brisanz der "Verfolgung" ist offensichtlich, das Thema längst nicht erschöpft, der Konflikt nicht gelöst und der Vorgang von höchster Aktualität. Vertreibungen, Völkermordaktionen werden nie vergessen und wirken solange und in unberechenbare Richtungen fort, solange sie nicht rechtlich und politisch einer menschlichen Lösung zugeführt werden. Dazu leistet Tomas Stanek mit seinen Veröffentlichungen wertvolle Beiträg |
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