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Vertrieben und enteignet: Was bietet ein geeintes Europa den Entrechteten von 1945?

 
     
 
Es ist ein erstaunliches Phänomen, daß im deutschen Diskurs über die Osterweiterung der Europäischen Union das Thema Privateigentum so gut wie überhaupt nicht auftaucht. Dabei ist es doch der zentrale Begriff bei der Transformation einer sozialistische
n Gesellschaftsordnung, die Privateigentum nicht kennt - zumindest nicht an Grund und Boden sowie an Gewerbebetrieben - in eine freiheitliche Grundordnung westlicher Prägung, in der das Eigentum verbunden mit dem Erbrecht die tragende Säule der gesamten Rechtsordnung darstellt.

Eine merkwürdige Verkürzung bedeutet es, wenn der Diskurs über diese Problematik, welche die ost- und südosteuropäischen Reformstaaten vor eine gewaltige Herausforderung stellt, in der Bundesrepublik bestenfalls unter dem Stichwort "Entschädigungsfragen" geführt wird.

Verschärft wird diese Problematik noch durch die gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen des 20. Jahrhunderts: Mehr als 15 Millionen Deutsche verloren bei den Vertreibungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach ihre angestammte Heimat, zwei Millionen von ihnen sogar ihr Leben.

Mit dem Verlust der Heimat ging eben stets auch der des Privateigentums an Grund und Boden sowie anderer Vermögenswerte einher. Bis heute verdeutlichen zahlreiche Beispiele aus aller Welt, daß Vertreibung und Eigentumsverlust eng miteinander verbunden sind: Oft erfolgt die Vertreibung, um an das Eigentum der Menschen zu gelangen, enteignet man, um sich damit der Menschen, denen man die Lebensgrundlage raubt, zu entledigen.

Auf diese Zusammenhänge verwies der Marburger Staats- und Völkerrechtler Gilbert H. Gornig zu Beginn der von ihm wissenschaftlich geleiteten Fachtagung "Der Dialog über den Schutz des Eigentums der nationalen und ethnischen Minderheiten als Beitrag zur Verständigung mit den östlichen Nachbarn", die die "Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen" in Verbindung mit der "Studiengruppe für Politik und Völkerrecht" in Königswinter bei Bonn abhielt. Zirka 100 Wissenschaftler, Publizisten und weitere Interessenten aus Deutschland und den Nachbarländern diskutierten mit dem Eigentumsschutz in Zusammenhang stehende Fragen - dies sowohl auf der Grundlage allgemeiner staats- und völkerrechtlicher Überlegungen als auch von Berichten über die konkrete Rechtslage in einer Reihe von Reformstaaten des östlichen und südöstlichen Europa.

Dies aus gutem Grund: Auch wenn der Entzug des Eigentums im Zusammenhang mit Vertreibungen sowie die Möglichkeit von Restitutionen oder Entschädigungen zu den besonders sensibel zu behandelnden Themen im Dialog zwischen Völkern beziehungsweise Staaten gehören, erscheint es sinnvoll und wichtig, diese weder auszuklammern noch zu verdrängen, sie vielmehr sachlich und offen anzusprechen und zu diskutieren, um so zumindest zu einem verbesserten Verständnis der Positionen des Nachbarn, wenn möglich darüber hinaus zu einer vertieften Verständigung zu gelangen.

Mit der Definition des Begriffs des Eigentums tut man sich im Völkerrecht, wie Gornig in seinem Einleitungsreferat darlegte, schwer, wird dieses doch vor allem innerstaatlich geregelt. Lediglich die sogenannte Allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich an den nationalen Rechtsordnungen orientieren, fassen unter Eigentum recht blaß alle "vermögenswerten Rechte Privater". Ein Entzug des Eigentums sowohl eigener wie fremder Staatsbürger ist - sofern er völkerrechtsgemäß erfolgen soll - an die Voraussetzungen des öffentlichen Nutzens und der angemessenen Entschädigung gebunden und darf nicht eine bestimmte Person oder Bevölkerungsgruppe, etwa eine nationale oder ethnische Minderheit, diskriminieren.

Ist dieser Entzug indes einmal erfolgt - gleich ob völkerrechtsgemäß oder, wie im Falle der Vertriebenen, nicht -, so bietet das Völkerrecht den Betroffenen kaum eine Handhabe. So kann gemäß der Europäischen Konvention für Menschenrechte als Eigentum nur etwas tatsächlich Existierendes gelten beziehungsweise etwas, das wiederzuerlangen man "berechtigte Hoffnungen" hat - eine politische Aussage, die im konkreten Einzelfall an Rechtsverweigerung grenzen kann.

Kirsten Koopmann-Aleksin vom "MenschenRechtsZentrum" an der Universität Potsdam legte in ihrem Referat ergänzend die Schwierigkeiten dar, die selbst die Demokratien Westeuropas seinerzeit bei der Verabschiedung der Menschenrechtskonvention mit der Ausgestaltung eines Rechts auf Eigentum als eines Menschenrechts hatten. Bürgerliche und sozialdemokratische Regierungen waren hier uneins, doch immerhin wurde dem Recht auf Eigentum das erste Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention gewidmet.

In die geschilderten Auseinandersetzungen spielten ideologische Grundeinstellungen hinein, wie sie Hans-Detlef Horn von der Universität Marburg in seinem anschließenden Referat zum Eigentumsschutz des Grundgesetzes in europa- und völkerrechtlicher Verflechtung herausarbeitete. Am Beispiel des Grundgesetzartikel 14 zeigte er die zentrale Bedeutung auf, die dem Privateigentum in der Rechtsordnung der freiheitlichen Gesellschaft im Gegensatz zum kommunistisch/sozialistischen Gesellschaftsentwurf zukommt, gespeist von dem abendländischen, die Freiheit der Person betonenden Menschenbild. Einen gelungenen Versuch, in der heiklen Frage des Eigentums einen Ausgleich zwischen dem Allgemeinwohl und der Würde des Einzelnen herzustellen, unternimmt der Grundgesetzartikel 14. Daher bedeutet etwa der Ausschluß der Restitution des in der DDR enteigneten Vermögens durch den Einigungsvertrag von 1990 die Schaffung einer verfassungswidrigen Verfassungsnorm. Leider ist hier das Recht der Politik gefolgt.

Als Ausblick verwies der Referent auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der mit seiner neueren Rechtsprechung versucht, ein einheitliches Rechtsbild im Hinblick auf eine Stärkung des Eigentums auf europäischer Ebene zu entwickeln.

Einen Sonderblick auf die Eigentumsproblematik staatlicher und nicht-staatlicher Archive insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg gewährte Michael Silagi von der Universität Göttingen. In recht unterschiedlicher Weise wurde demnach im 20. Jahrhundert das Archivgut vertriebener beziehungsweise ausgesiedelter Volksgruppen - eine wesentliche Grundlage für deren historisches Bewußtsein - behandelt.

Zwischen Deutschland und Polen blieb die Zuordnung von Archivalien - ostdeutsche Familienbücher aus katholischen und evangelischen Gemeinden im Vertreibungsgebiet und die Archive des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums - strittig.

Die kürzlich erfolgte Übergabe der Familienbücher war gemäß Silagi nicht geboten, sind diese Archivalien aufgrund ihres öffentlich-rechtlichen Charakters doch als staatliche zu qualifizieren, ebenso bestehe für eine Übergabe der in Berlin lagernden Bestände des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums keine Veranlassung. Aus staatsrechtlicher Sicht gebietet vielmehr Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) im Einklang mit dem Völkerrecht, die deutschen Archivbestände, die bis 1945 aus den Ostprovinzen Preußens in den Westen gerettet worden waren, weiterhin in Deutschland zu sichern.

Eine abschließende Podiumsdiskussion erweiterte die auf der Tagung angesprochenen Themen um das deutsche Lastenausgleichsgesetz als Modell für die vorläufige Regelung von Entschädigungsansprüchen - Karlheinz Schaefer, Bad Homburg - und neueste Entwicklungen der Restitutionsgesetzgebung in Serbien und Kroatien - Georg Morgenthaler, Schifferstadt. Der Vorstandsvorsitzende der "Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen", Hans-Günther Parplies, hob als Tagungsergebnis zusammenfassend hervor, daß insbesondere die Bedeutung des Privateigentums für die Verwirklichung einer zivilen Rechtsordnung nach westlich-freiheitlichem Vorbild in den Reformstaaten des östlichen Europa deutlich geworden sei.

Darauf, daß bei Rückgabe- oder Entschädigungsgesetzen in allen betrachteten Ländern nicht eigens auf die Vertreibung oder auf Volksgruppen abgehoben wird, wies Siegrid Krülle, Aidlingen, hin. Betrüblich sei vor allem der explizite Ausschluß der aus den Oder-Neiße-Gebieten vertriebenen Deutschen von Entschädigungs- oder Restitutionsmaßnahmen.

Bei der Regelung der Eigentumsproblematik ist indes auch weiterhin, wie abschließend Tagungsleiter Gornig betonte, ein geduldiges und beharrliches, an die Vernunft der Menschen appellierendes Aufeinander-Zugehen geboten. Nicht 100prozentige, doch gute Zwischenlösungen sind so zu erzielen.

Als einen Teil des - in aller Freundschaft und Partnerschaft - mit den Nachbarn zu führenden Dialogs wertete er die Tagung selbst, die im kommenden Jahr mit der Erörterung weiterer grundsätzlicher Aspekte der Problematik und mit Berichten aus diesmal nicht ausdrücklich behandelten Nachbarländern eine vertiefende
 
     
     
 
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