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Beiseite geschoben

 
     
 
Kurz vor der Reise von Bundeskanzler Brandt im März 1970 nach Erfurt, wo er sich mit dem Vorsitzenden des "DDR-Ministerrats", Willi Stoph, traf, wurde das Ostbüro der SPD vom Kanzleramt um einen Vermerk über das ehemalige KZ Buchenwald gebeten. Der Kanzler plane einen Besuch der dortigen Gedenkstätte, hieß es.

In dem Vermerk wurde detailliert auf die Nutzung des früheren Konzentrationslagers der National
sozialisten durch die Kommunisten bis zum Frühjahr 1950 und auf die Tatsache hingewiesen, daß auch unzählige Sozialdemokraten, vor allem Gegner der Vereinigung ihrer Partei in der Sowjetischen Besatzungszone mit der KPD zur SED, von den Kommunisten in diesem KZ eingesperrt wurden. Viele von ihnen kamen dort ums Leben. Brandt besuchte gemeinsam mit dem Spitzenfunktionär des SED-Staates Buchenwald. Doch fand der Vorsitzende der SPD und Bundeskanzler kein einziges Wort des Gedenkens an die Opfer kommunistischen Terrors. Brandt schwieg darüber, trotz aller schriftlichen Informationen, die er vor seiner Reise erhalten hatte, und trotz seines Wissens über den kommunistischen Terror in Mitteldeutschland.

Im September 1948 hatte der gleiche Willy Brandt als Vertreter des SPD-Parteivorstands in Berlin auf einer Pressekonferenz eine Denkschrift des Ostbüros der SPD mit dem Titel "Terror in der Ostzone – Tatsachen klagen an!" der Öffentlichkeit präsentiert. Das Konvolut enthält präzise Angaben zu inhaftierten oder verschleppten Personen, über Verhaftungswellen in der SBZ und auch über Konzentrationslager wie etwa Buchenwald und Sachsenhausen.

Hatte Brandt bei seinem Besuch in der nur den Opfern nationalsozialistischen Terrors gewidmeten Gedenkstätte Buchenwald im März 1970 auch eine andere, erst neun Jahre zurückliegende Szene "vergessen"? Auf einem "Kongreß sozialdemokratischer ehemaliger Häftlinge in der Sowjetzone" im April 1961 wurde eine Ausstellung über den "SED-Terror" gezeigt. Bei der Eröffnung waren SPD-Chef Erich Ollenhauer und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, anwesend. Auf einem Foto ist festgehalten, wie beide gemeinsam mit anderen Ausstellungsbesuchern ein Modell des KZ Buchenwald betrachten. Das gleiche Bild wird auch im Jahrbuch der SPD 1960/61 zum Beitrag "Sozialdemokratie und Widerstand in der sowjetisch besetzten Zone" abgedruckt.

Das Verhalten Brandts im März 1970 ist bezeichnend für die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre beginnende, zum Beginn der sogenannten "Neuen Ostpolitik" gesteigerte Aufweichung der SPD-Führung und großer Teile der SPD in der offensiven Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und im Verhältnis der Partei zu den sozialdemokratischen Freiheitskämpfern in Mitteldeutschland und zu den sozialdemokratischen Opfern kommunistischen Terrors.

Im Dezember 1970 erklärte ein alter Sozialdemokrat – ab 1919 Mitglied der SPD, als sozialdemokratischer Widerstandskämpfer gegen die SED von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Straflager verurteilt – seinen Austritt aus der SPD mit der Klage, daß die ehemaligen Häftlinge, welche die besten Jahre ihres Lebens hingaben, um der SPD die Treue zu halten, in ihrer Partei "beiseite geschoben" würden. Ein Fanal: In den folgenden zehn Jahren verließen unzählige ehemalige politische Häftlinge und politische Flüchtlinge verbittert ihre Partei.

Im Frühjahr 1971 indes veranstaltete der "Freundeskreis ehemaliger politischer Häftlinge aus den Reihen der SPD" anläßlich des 25. Jahrestages der Vereinigung der SPD und KPD in der SBZ zur SED noch ein deutschlandpolitisches Seminar. Die Teilnehmer verabschiedeten einen offenen Brief an das Zentralkomitee der SED. Überraschend für die meisten der ehemaligen politischen Häftlinge war die Tatsache, daß das über den Inhalt des Briefes informierte Präsidium der SPD (u. a. Brandt, Helmut Schmidt, Georg Leber und Herbert Wehner) keine Einwände dagegen erhob. Wollte sich die Parteiführung damit ein Alibi gegenüber den von Kommunisten verfolgten Sozialdemokraten verschaffen?

Der offene Brief beginnt mit der Feststellung:

"Wenn in Deutschland und in Berlin tatsächlich eine politische Entspannung eintreten soll, müssen aus Gründen der Gerechtigkeit auch die schwerwiegenden Verletzungen von Recht und Gesetz in der Vergangenheit im Machtbereich der SED geklärt werden. Während und nach der im Jahre 1946 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone von der KPD auf Geheiß der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführten Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED wurden Tausende aufrechter Sozialdemokraten, bewährte Antifaschisten, allein wegen ihrer Überzeugung auf Veranlassung zentraler und örtlicher SED-Organe von sowjetischen Sicherheitsorganen verhaftet und von sowjetischen Militärtribunalen auf Grund fiktiver Anklagepunkte zu langjährigen Freiheitsstrafen, in der Regel zu 25 Jahren Zwangsarbeit, verurteilt ... Weit über 100 000 Sozialdemokraten konnten sich diesen Verfolgungen nur durch die Flucht in den freien Teil Deutschlands entziehen." (Hervorhebung vom Verfasser.)

Ein parteiinterner Überwachungsapparat, der sogenannte "Ifo-Dienst" wurde bereits bei der (Wieder-)Gründung der KPD im Juni 1945 aufgestellt. Dieser wurde in die im April 1946 gebildete SED übernommen und war bis Mitte 1948 das wichtigste Organ zur Überwachung aller Widerstandsregungen von innen und von außen. Der "Ifo-Dienst", beziehungsweise die jeweils zuständigen Leitungsgremien der Partei lieferten ihre Informationen an die sowjetischen Sicherheitsorgane und somit auch zahlreiche Menschen ans Messer. Nach der Proklamation der SED zur "Partei neuen Typus" übernahmen die "Säuberungsarbeiten" die Parteikontrollkommissionen (PKK) und die Personalpolitischen Abteilungen (PPA) auf allen Organisationsebenen der SED. Die PPA sammelten Informationen, die PKK entschieden über das Schicksal der "Beschuldigten": Kategorie 1: Entfernung aus der Partei (mit zumeist erheblichen "Spätfolgen" im Beruf und in den allgemeinen Lebensumständen). Kategorie 2: Maßregelungen unterschiedlicher Art, Entfernung aus allen Positionen, Ämtern oder Funktionen, Zwangsversetzung "in die Produktion". Kategorie 3: Meldung an die sowjetische Geheimpolizei NKWD zur Verhaftung (mit Hilfe des berüchtigten Kommissariats Fünf [K 5] der von den Kommunisten beherrschten Volkspolizei) und Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal. Zu dieser Kategorie gehörten fast alle der Sozialdemokraten, die gegen die Vereinigung der SPD mit der KPD Widerstand leisteten.

Die enge Zusammenarbeit zwischen der sowjetischen Militäradministration und insbesondere der sowjetischen Geheimpolizei mit der SED oder die von der sowjetischen Geheimpolizei der SED "als einer Bruderpartei der internationalen Arbeiterklasse" geleistete "Hilfe, konterrevolutionäre Elemente in ihren Reihen auszumerzen" (das schrie ein NKWD-Vernehmer einem Häftling ins Gesicht), basierte auf einer Vereinbarung zwischen dem politischen Chef der Sowjet-Militäradministration in Deutschland, Oberst Tulpanow, und dem General des NKWD, Serow, mit dem Sicherheitschef im ZK der SED, Walter Ulbricht (später Generalsekretär), und dem Vorsitzenden der Zentralen Parteikontrollkommission der SED, Hermann Matern.

Nach fundierten Schätzungen wurden etwa 2000 Demokraten unterschiedlicher politischer Couleurs, überwiegend Sozialdemokraten, zumeist in den Jahren 1948 bis 1950 nachweisbar von der SED an die sowjetische Geheimpolizei und damit an die sowjetischen Militärtribunale ausgeliefert.

Das ambivalente Bedauern von PDS-Chefin Gabriele Zimmer und ihrer Stellvertreterin Petra Pau über die Opfer, welche die Vereinigung von SPD und KPD zur SED 1946 gefordert hat, und die hohle "Entschuldigung" dafür, sind nicht neu. Bereits auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED am 17. Dezember 1989 wurden in einer Grundsatzrede über die "Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED" zu den Opfern der SED auch "Sozialdemokraten, die von sowjetischen Sicherheitsorganen, später auch von Organen unserer Staatssicherheit verhaftet wurden", gezählt.

Eine alte Sozialdemokratin, wegen Widerstands gegen die SED von dieser der Sowjet-Geheimpolizei ausgeliefert und vom sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, strengte Mitte der 90er Jahre in Abstimmung mit etlichen in gleicher Weise Betroffenen gegen die PDS als Nachfolgerin der SED eine Musterklage auf Schadenersatz an. Die PDS ließ die Klage abweisen mit der Begründung, sie verfüge nicht über ihr Altvermögen, also über das der SED. Nunmehr wurde eine Klage gegen die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) als treuhänderische Verwalterin des SED/PDS-Altvermögens gerichtet.

Von Beginn des Verfahrens an wurde sichtbar lasch und zurück-haltend mit der Sache umgegangen. Es wurde deutlich, daß die dem Bundesfinanzministerium unterstellte BvS entschlossen war zu "mauern" und keine Bereitschaft zeigte, auch nur einen Pfennig aus dem von ihr verwalteten SED/PDS-Vermögen herauszurücken. Sachverständige Zeugen wurden nicht gehört, der Inhalt von Erklärungen, Aussagen und Beweismitteln angezweifelt oder als unbedeutend und nicht überzeugend abgetan. Nach dem Motto: "Das hat es ja gar nicht gegeben, daß die SED Verhaftungen durch das NKWD veranlaßt hat!" Das Landgericht Berlin schmetterte im März 1998 die Klage ab. Die Berufung gegen dieses Urteil führte zu keinem anderen Ergebnis. Die Urteilsbegründung enthält zahlreiche hanebüchene Behauptungen, wie beispielsweise diese: Man müsse "den Sowjets ein berechtigtes Interesse an solchen Verurteilungen zubilligen", oder daß die SED, selbst wenn sie deutsche Demokraten an den NKWD denunziert haben sollte, damit nicht hätte wissen können, welchen Verbrechen an der Menschlichkeit die Betroffenen dann ausgesetzt werden würden.

Die vorgesetzte Behörde der BvS, das Bundesfinanzministerium, und die Minister Waigel (CSU) und Eichel (SPD) tragen an dieser Affäre einen großen Teil Verantwortung. Die Klägerin und ihre Leidensgenossinnen und Leidensgenossen erhielten weder aus dem Ministerium noch von den Ministern Unterstützung, im Gegenteil: Das Ministerium beteiligt sich an der Infragestellung belegbarer Fakten.

Die Klägerin ist Ende vergangenen Jahres verstorben. Ihr Mann, auch einer der von der SED an den NKWD ausgelieferten Sozialdemokraten, vermerkt in einem Brief an alle Bundestagsabgeordneten verbittert, daß die Bürokratie des Bundesfinanzministeriums "offensichtlich auf eine ,biologische Lösung‘ setzt". Die noch lebenden ehemaligen politischen Häftlinge sind fest entschlossen, einen zweiten Versuch zu unternehmen, einen Pilotprozeß gegen die SED-Nachfolgerin PDS auf Schaden- ersatz für die beweisbar von der SED verursachte politische Haft zu führen.

 
     
     
 
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