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Der Untergang der Pamir

 
     
 
Es ist nur eine kurze Nachricht, doch die Nation hält den Atem an. „Pamir im Sturm gesunken“, verkünden am 21. September 1957 die Zeitungen und Radiostationen. Nicht nur die Menschen an der Küste wissen, daß sich fern im Atlantik eine Tragödie abspielt. Hier kämpfen 86 Seeleute in den tosenden Fluten ums Überleben. Doch obwohl gleich nach dem Absetzen des SOS-Rufes die größte zivile Rettungsaktion aller Zeiten anläuft, können die Helfer am Ende nur sechs Überlebende
retten. Dieses tragische Unglück markiert nicht nur das Ende des einst stolzen Segelschulschiffes „Pamir“, sondern es markiert zugleich das Ende einer ebenso stolzen Epoche der deutschen Seefahrtsgeschichte, der Epoche der frachttragenden Segelschulschiffe.

Dabei hatte vor 50 Jahren alles so hoffnungsvoll begonnen. Die deutsche Handelsflotte war in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zerschlagen worden. Ihre Einheiten lagen als zerbombte Wracks in den deutschen Häfen, ruhten auf dem Boden der Weltmeere, waren in neutralen Häfen interniert oder von den Feindmächten konfisziert worden. Doch deutscher Kaufmannsgeist und unternehmerischer Wagemut triumphierten auch in dieser schweren Zeit. So gingen Reeder und Kaufleute daran, mit unermüdlicher Kraft den Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte zu betreiben. Langsam fielen die Beschränkungen der Alliierten, die allerdings jedes Streben nach der Wiedererlangung einer bedeutenden Rolle Deutschlands in der internationalen Handelsschiffahrt mit größtem Argwohn verfolgten. Gesunkene Schiffe wurden gehoben und wiederauf- gebaut, andere im Ausland erworben und umgebaut, wieder andere entstanden auf den noch immer von der Demontage gezeichneten deutschen Werften.

Doch es gab ein weiteres Problem. Es fehlte an jungem seemännischen Personal. Zu viele junge Seeleute und Schiffsoffiziere hatten im Krieg den Blauen Rock der Kriegsmarine getragen und ihr nasses Grab in den Weiten des Atlantik, der Nord- und Ostsee, aber auch in fernen Seegebieten gefunden. Zudem bestand in den ersten Nachkriegsjahren kaum die Chance, seemännischen Nachwuchs auszubilden. Der Nachholbedarf war also groß, aber das Interesse der Jugend an der Seefahrt begann nach dem Schock des Krieges langsam wieder aufzuleben.

Der Reeder Heinz Schliewen erkannte die Zeichen der Zeit. Er wollte wieder frachttragende Segelschiffe zur Ausbildung für den nautischen Nachwuchs in Fahrt bringen. Für ältere Fahrensleute war und ist es keine Frage, daß nur ein Großsegler die idealen Voraussetzungen bietet, um junge Männer mit der Seefahrt vertraut zu machen und in ihnen die Charaktereigenschaften zu ent- wickeln, ohne die der harte und entbehrungsreiche Beruf des Seemanns nicht zu bewältigen ist. So machte er sich auf die Suche nach geeigneten Schiffen. In Antwerpen wurde er fündig. Hier lagen die Windjammer „Pamir“ und „Passat“ und sahen der Verschrottung entgegen. Schliewen verlor sofort sein Herz an die schönen Schiffe. Die alteingesessenen Reeder indes hatten kein Verständnis für das Engagement des Branchenneulings und sagten ihm ein baldiges Scheitern voraus. Und am Ende sollten sie tatsächlich recht behalten. Doch Schliewen ließ sich zunächst nicht entmutigen. Er rettete die beiden Schiffe vor dem Abwracken und ließ sie nach Travemünde bringen. Schon bald stand die Finanzierung, so daß er die Schiffe bei den Howaldtswerken in Kiel zu frachttragenden Segelschulschiffen umbauen ließ. Die Arbeiten gingen zügig voran, und vor 50 Jahren stellte er die „Pamir“ als Segelschulschiff in Dienst. Damit eröffnete er ein neues, wenn auch nur kurzes Kapitel in der langen Geschichte der deutschen Handelsschiffahrt.

Zu dieser Zeit hatte die Viermastbark „Pamir“ bereits ein bewegtes Leben hinter sich, das 1905 begann. In diesem Jahr war das baldige Ende der Großsegelschiffahrt längst absehbar. Doch der Reeder Ferdinand Laeisz setzte weiterhin auf den Wind, das billigste, aber auch unberechenbarste Antriebsmittel. Seine Reederei betrieb die legendären „Flying-P-Liner“, deren Schiffsnamen alle mit einem „P“ begannen. Schließlich hatte Laeisz 65 Großsegler dieser Flotte in Fahrt, davon 17 Viermastbarken wie die „Pamir“, die nicht mehr aus Holz, sondern aus Eisen gebaut waren. Die „Pamir“ wurde hauptsächlich in der Salpeterfahrt eingesetzt. Bei Kriegsausbruch 1914 rettete sie sich auf die Kanarischen Inseln. Nach dem Krieg wurde sie vorübergehend Beute der Siegermächte. Während der Weltwirtschaftskrise geriet auch Laeisz in Schwierigkeiten, so daß er seine Schiffe auflegen mußte. Die „Pamir“ und die meisten anderen Schiffe der Windjammerflotte kamen unter finnische Flagge und trugen auf ihren Fahrten die legendären Weizenregatten aus, bis der Zweite Weltkrieg dem ein Ende setzte. Nach dem Krieg war der Getreidetransport mit Segelschiffen kein einträgliches Geschäft mehr, so daß die Eigner die „Pamir“ und die „Passat“ als schwimmende Getreidespeicher im Hafen festlegten. Doch auch dies war bald nicht mehr rentabel. Als ein belgischer Schrotthändler ihnen das Angebot machte, die Schiffe zu einem guten Preis zu kaufen, nahmen sie sofort an. So landeten die beiden Halbschwestern schließlich in Antwerpen auf der Abwrack-werft, wo Heinz Schliewen sie in allerletzter Minute vor den Schneidbrennern bewahrte und umbaute.

Als Segelschulschiff verfügte die „Pamir“ über ungewohnten Komfort, denn Schliewen hatte sich den Umbau mehrere Millionen Mark kosten lassen. Es gab elektrisches Licht und fließendes warmes Wasser, Proviant-Kühlräume, Bäder, Zentralheizung, Waschmaschinen, Kaffeeautomaten und sogar Einzelkabinen für die Mannschaften. Die Sicherheitsstandards waren vorbildlich. So gab es einen Hilfsmotor, wasserdichte Schotts, Laufbrücken, Deckshäuser und ein besonderes Ladegeschirr. Schliewen hatte erkannt, daß die alten Maßstäbe hinsichtlich Komfort und Sicherheit überholt waren und daß man junge Leute nur dann für den Seemannsberuf gewinnen konnte, wenn man ihnen etwas zu bieten hatte. Damit jedoch ging er ein hohes finanzielles Risiko ein. Zunächst schien seine Rechnung aufzugehen, doch dann unterliefen ihm einige unternehmerische Fehler. Außerdem sprangen seine Finanziers ab. So kamen die Schiffe in den Besitz der Gläubigerbank.

Schliewen war gescheitert, doch seine Idee lebte weiter. Denn glücklicherweise saßen hier kluge Köpfe, die um die Bedeutung der See für eine Handelsnation und die Unverzichtbarkeit eines qualifizierten Nachwuchses wußten. Sie brachten die Schiffe in eine Stiftung ein, der alle bedeutenden deutschen Reedereien beitraten. Fortan betrieben sie die Schiffe gemeinsam als schwimmende Ausbildungsstätten für den seemännischen Nachwuchs der deutschen Handelsschiffahrt. Beide Schiffe wurden hauptsächlich in der Getreidefahrt nach Argentinien eingesetzt. So wurden die „Pamir“ und die „Passat“ zu einem Symbol für das Wiedererstarken der friedlichen deutschen Seegeltung. Doch dann bereitete eine einzige Sturmfahrt dieser Erfolgsgeschichte ein jähes Ende.

Es ist der 21. September 1957. Die „Pamir“ befindet sich mit 4.000 Tonnen Gerste an Bord auf der Heimreise von Buenos Aires nach Hamburg. Auf einer Position etwa 600 Seemeilen westlich der Azoren erreicht Kapitän Diebisch über Funk die Nachricht, daß der Hurrikan „Carrie“ plötzlich seine Richtung geändert hat und das Schiff bald einholen wird. Der Kapitän läßt sein Schiff sturmklar machen. Die Mannschaft, darunter 51 unerfahrene Zöglinge, dichtet die Lüfteröffnungen ab, zieht Strecktaue, um sich bei starkem Seegang daran festhalten zu können, spannt Netze, die verhindern sollen, daß die Männer über Bord gehen, und holt die Segel ein, solange ihnen der schnell herankommende Sturm noch Zeit dazu läßt. Doch die Arbeiten können nicht beendet werden, denn schnell kommen die Brecher über das Oberdeck. Der Kapitän läßt die noch nicht eingeholten Segel abschneiden, doch es ist bereits zu spät. Das Schiff legt sich um mehr als 40 Grad auf die Seite.

Dann nimmt das Schicksal unaufhaltsam seinen Lauf. Der Sturm hat inzwischen Orkanstärke erreicht. Die beiden Rudergänger können das Schiff nicht mehr vor den Wind legen. Die Wellen brechen über das Schiff, reißen Rettungsboote und alles nicht gesicherte Gut mit. Der Funker jagt die Position der „Pamir“ und verzweifelte Hilferufe in den Äther. Dann nimmt das Schiff stark Wasser auf. Der Kapitän läßt SOS funken. Kurz darauf rollt ein weiterer Brecher über das Schiff. Es kentert. Nur 30 Sekunden später ist die „Pamir“ von der Wasseroberfläche verschwunden.

Diejenigen, die nicht von ihrem Schiff in die Tiefe gezogen wurden, kämpfen in der tobenden See ums Überleben. Knapp fünf Stunden nach dem Untergang treffen die ersten Schiffe an der Unglücks-stelle ein. Damit läuft die größte Rettungsaktion in der Geschichte der Handelsschiffahrt an. Doch diejenigen, die jetzt noch leben, sind von dem starken Sturm zum Teil weit abgetrieben worden. Manche von ihnen verlieren noch im Angesicht der nahenden Retter ihr Leben. Sie haben sich auf Wrackteile gerettet oder sich an schwimmendes Gut geklammert. Als sie die herannahenden Schiffe bemerken, versuchen sie in ihrer Verzweifelung, ihnen entgegenzuschwimmen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Doch auch die Rufe ihrer Kameraden können sie nicht zurückhalten. Schnell verlassen sie die Kräfte. Die Retter aber sind noch zu weit entfernt, und auch eine Rückkehr zu den Kameraden ist nicht mehr möglich. So verschwinden sie - einer nach dem anderen - lautlos in den Fluten des Atlantik. 78 Schiffe aus 15 Nationen suchen noch eine Woche nach Überlebenden. Aber sie finden nur sechs der insgesamt 86 Besatzungsangehörigen.

Nicht nur an der Küste sorgte dieses tragische Ereignis für einen Schock. Die Menschen fühlten nicht nur mit den Hinterbliebenen der überwiegend blutjungen Seeleute. Wie schon 20 Jahre zuvor beim Absturz des Luftschiffes „Hindenburg“ waren sie sich auch der Tatsache bewußt, daß dieses Unglück das Ende einer Epoche bedeuten würde.

Die Seeamtsverhandlung im Lübecker Rathaus ergab, daß der Verlust der „Pamir“ vermutlich vermeidbar gewesen wäre. Kapitän Diebisch, der als Ersatzmann für den Stammkapitän des Schiffes eingesprungen war, hatte nur wenig Erfahrung mit Großseglern. Vermutlich hat er die Gefahr für den Segler unterschätzt. Da es nicht mehr gelungen war, rechtzeitig alle Segel einzuholen, hatte das Schiff zum Unglückszeitpunkt zu viele Segel gesetzt. Hinzu kamen Mängel in der Rettungsausrüstung, so waren beispielsweise die Schwimmwesten veraltet. Den schwersten Vorwurf aber erhob das Seeamt wegen der Getreideladung. Sie war nicht in Säcken gestaut, wie es in der Getreidefahrt sonst üblich war, sondern als loses Schüttgut in die Laderäume gefüllt worden. Zwar waren Längsschotten vorhanden, und die Mannschaft hatte noch Zwischenbretter eingezogen, aber auch diese Maßnahmen konnten nicht verhindern, daß die Getreideladung in dem schweren Seegang verrutschte und das Schiff so in schwere Schlagseite brachte. Denn selbst die eingebauten Tieftanks, die bei Sturm mit Ballastwasser gefüllt werden sollten, um dem Schiff eine stabilere Lage zu geben, waren mit losem Getreide gefüllt worden. Nach Ansicht einiger Sachverständiger wurde das rasche Kentern zudem noch dadurch begünstigt, daß die vier Stahlmasten des Schiffes zu schwer gewesen seien. Demnach wäre die Stabilität durch einen zu hohen Schwerpunkt beeinträchtigt gewesen.

Auch die annähernd baugleiche „Passat“ geriet während einer Sturmfahrt in Schwierigkeiten. Sie war ebenfalls mit einer Schüttgutladung Getreide unterwegs, die in der schweren See ins Rutschen geriet. Mit starker Schlagseite mußte das Schiff den Hafen der portugiesischen Stadt Lissabon anlaufen. Wäre der Sturm stärker gewesen, hätte die „Passat“ womöglich das Schicksal ihrer Halbschwester geteilt. Die Ergebnisse der Seeamtsverhandlung, die durch den Vorfall auf der „Passat“ bestätigt wurden, führten zu dem von vielen bereits befürchteten Ende der frachttragenden Segelschulschiffahrt in Deutschland.

Kluge Reeder hatten das Ruder der Entwicklung wenn schon nicht herumreißen, so doch wenigstens für einen Atemzug der Geschichte festhalten können. Heute kündet nur noch die „Passat“, die als stationäres Schul- und Museumsschiff in Travemünde liegt, von der großen Zeit der Segelschulschiffe der deutschen Handelsmarine

„Pamir“: Mitte der fünfziger Jahre vor der Westküste Kanadas

 
     
     
 
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