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Bibliophile wissen es: Bücher aus den 1920er, 30er und 40er Jahren überschwemmen seit einiger Zeit die Flohmärkte und sind dort oder bei Haushaltsauflösungen zu Spottpreisen zu haben.
Zahllose Bibliotheken mit Werken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie Ordner mit verschiedenstem "Privatkram" werden nach dem Tod ihrer Besitzer in alle Winde zerstreut. Vieles landet auf dem Müll, darunter manch seltenes Stück und nicht weniges, was für spätere Generationen von großem Erinnerungswert sein könnte.
Zum Glück gibt es Einrichtungen, die das Bewahrenswerte sammeln. Zum Beispiel das Museum für Kommunikation in Berlin.
Da bisher nur ein Bruchteil der insgesamt fast 40 Milliarden deutscher Feldpostbriefe und -karten aus dem Zweiten Weltkrieg in Archiven aufbewahrt wird und riesige Bestände dieser zeit- und mentalitätsgeschichtlich interessanten Briefe achtlos im Papierkorb landen, veröffentlichte das Museum im Januar 2001 einen Aufruf an die Bevölkerung in Berlin und Brandenburg.
Im Privatbesitz befindliche Dokumente sollten dem unweit des Potsdamer Platzes gelegenen Haus übereignet werden und zum Aufbau eines speziellen Feldpostarchivs verhelfen.
Das Echo übertraf alle Erwartungen und zeigte, daß es für derartige Rettungsversuche nicht zu spät ist: Bereits innerhalb eines Monats gingen über 10 000 Schriftstücke, Fotos, Soldbücher, Flugblätter usw. ein. Für die Initiatoren bedeutet das eine außerordentliche Herausforderung hinsichtlich Sichtung und Sortierung. Schließlich will man die Inhalte der Briefe in Form eines Online-Kataloges einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Die Mitarbeiter des im Januar 1998 von Frauke von Troschke im badischen Emmendingen gegründeten "Deutschen Tagebucharchivs e. V." machten vergleichbare Erfahrungen.
Nach dem Vorbild des 1985 entstandenen Tagebucharchivs im italienischen Pieve San Stefano (Toskana) will man bisher unveröffentlichte Tagebücher, Briefwechsel, Memoiren, Haus- und Hofbücher etc. sammeln, da sie von der alltäglichen "Lebenswirklichkeit ihrer Schreiber (...) berichten, vergessenes Brauchtum, technische Entwicklungen, Denk- und Vorstellungsweisen einer bestimmten Zeit, einer Berufsgruppe oder einer sozialen Schicht dokumentieren."
Auch im 25 000-Einwohner-Städtchen Emmendingen durfte man sich über zahlreiche Reaktionen freuen. In den gut vier Jahren seit Gründung der im Alten Rathaus untergebrachten Sammelstelle gingen über 700 autobiographische Dokumente ein.
Die Texte landen zunächst zur Lektüre bei einem der 40 ehrenamtlichen Mitglieder der "Lesegruppe" und werden mit einer Kurzbeschreibung in Findbüchern notiert, ehe die Inhalte nach und nach in eine Datenbank einfließen.
Die literarisch anspruchvollsten Lebenserinnerungen, Tagebücher und Briefwechsel zu bestimmten Themenbereichen erfahren besondere Ehren: Sie werden auf einer jährlich stattfindenden "Zeitreise" öffentlich verlesen und als Broschüren unters Volk gebracht. Die örtliche Presse nimmt daran ebenso wie am sonstigen Geschehen im Tagebucharchiv regen Anteil. Auch überregionale Medien wie die Fernsehsender Südwest 3 und 3-SAT oder das Bahnmagazin mobil berichteten mittlerweile über das ungewöhnliche Archiv.
So ist die Eigenwerbung fast zum Selbstläufer geworden, zumindest was Tagebücher, Briefe usw. aus der Epoche der beiden Weltkriege einschließlich Flucht und Vertreibung anbelangt, die in großer Zahl mit der Post eingehen oder persönlich abgeliefert werden.
Über zwei Drittel des Materials hat diesen Zeithintergrund. Silke Seemann von der Freiburger Universität, die dem wissenschaftlichen Beirat des Archivs angehört, spricht vom "Krisencharakter" autobiographischer Schriften. In Kriegszeiten werde bekanntlich viel mehr Tagebuch geschrieben als in Friedensperioden.
Darüber hinaus sind persönliche Krisen wie die Pubertät, Krankheiten und Todesfälle, aber auch außergewöhnliche Reisen starke Motive dafür, Gedanken und Beo-bachtungen aufzuzeichnen. Fast immer gehören deren Verfasser allerdings den gehobenen Bevölkerungsschichten an.
Wer in den Findbüchern blättert, stellt fest, daß aus dem 16. und 17. Jahrhundert fast keine Texte vorhanden sind (bis vor kurzem ging man sogar davon aus, daß in dieser Zeit überhaupt keine Tagebücher verfaßt wurden) und daß das 18. Jahrhundert nur sporadisch vertreten ist, während die große Masse der Schriftstücke aus dem 19. und vor allem dem 20. Jahrhundert stammt.
Hier wiederum sind die 1950er, 60er und 70er Jahre stark unterrepräsentiert, erklärt Frau Seemann gegenüber dem . Insbesondere die gesamte DDR-Zeit und auch die aufregenden Monate der Wiedervereinigung. Es
wird wohl noch längere Zeit dauern, bis die Nachlässe mit den entsprechenden Schriften in Umlauf kommen. Ihre Besitzer leben in der Regel noch, und die meisten Menschen wollen - wenn überhaupt - intime Berichte wie Tagebücher erst nach ihrem Tod in fremden Händen wissen.
Was die Ära der DDR betrifft, starteten die Emmendinger Forscher sogar einen gezielten Sammelaufruf. Der Erfolg war gering. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich einstweilen auf die zeitgeschichtlichen Perioden zu konzentrieren, die reichlich dokumentiert sind. An Arbeit mangelt es dabei sicherlich nicht. Im Gegenteil: Die zwei festangestellten Kräfte, eine Historikerin und eine Literaturwissenschaftlerin, sowie etwa 60 ehrenamtliche Helfer kommen mit der Aufbereitung des Materials kaum nach.
Wie wichtig ihre Tätigkeit ist, wird dem Archivbesucher spätestens beim Stöbern in den Findbüchern klar. Schon die Kurzbeschreibungen der Dokumente machen neugierig und deuten die große Vielfalt der Inhalte an.
Da gibt es aus der Ära der Auseinandersetzungen mit dem revolutionären Frankreich das "Kriegstagebuch des Feldpredigers Johann Heinrich Ludolph Holekamp 1793-95", ferner eine "Zeitreise durch die hundertjährige Geschichte der Firma Schoeller & Schmitz (Pharmazeutische Großhandlung in Bonn) 1888-1988", das "Tagebuch eines unbekannten Auswanderers, Beginn 1893 (Ankunft in New York) bis nach 1945" und ein Selbstzeugnis aus dem "Frauenarbeitsdienstlager Königshorst 1936".
Manche Texte stecken voller Gefühl und poetischer Kraft, andere sind nüchtern gehalten, von unbeholfenem Stil oder pedantischer Genauigkeit.
Vom Zweiten Weltkrieg aus Landsersicht zeugen das "Logbuch von Hans Liese, geführt als Kadett während der Dienst- und Ausbildungszeit bei der Kriegsmarine in der Zeit von Oktober 1943 bis Februar 1945", ein "Kriegstagebuch von Kurt Kramer 1943/44 (Feldkommandantur Heeresgruppe Mitte)" oder ein "Tagebuch aus russischer Gefangenschaft vom 10.5.-17.8.1945". Ein auslandsdeutsches Fluchtschicksal spiegelt sich im Erlebnisbericht aus "Gajdroba. Der Beginn vom Ende einer friedlichen donauschwäbischen Dorfgemeinschaft".
Auch Ostdeutschland taucht aus der Vergessenheit auf - etwa in Gestalt der Findbuchnummern 232 und 251: "Kagenau - Erinnerungen an Ostdeutschland" bzw. "Kreis Gerdauen 1945-48. Was ein Kinderherz ertragen kann - Zwei Marjellchen erleben die Russenzeit".
Auffällig viele Tagebücher dokumentieren den Heimatverlust von Schlesiern. Sie tragen Titel wie "Mitten in der Zeitenwende - Tagebuch von der Flucht aus Breslau bis zum Neuanfang in Hersfeld" oder "1945. Ich war 15. Festung Breslau, Wroclaw, Ausweisung".
Die 17jährige Evamaria Scheffel aus Liegnitz dürfte wohl allen ostdeutschen Schicksalsgefährten aus dem Munde gesprochen haben, als sie 1945 niederschrieb: "Das war eine Flucht, die ich in meinem Leben nie vergessen werde. Erst da habe ich gemerkt, was ein Mensch aushalten kann."
Aber auch manch neuere Texte verdienen sicherlich Beachtung, beispielsweise ein "Hüttentagebuch 1955-73" oder die Aufzeichnungen über "Ein Jahr mit fremder Hilfe. Erlebnisse mit Pflegekräften und Zivis, niedergeschrieben im Winter 1998/99".
Den dokumentarischen Wert jüngerer Reiseberichte, etwa über eine "Moskau-Leningrad-Reise vom 30.5.-6.6.1993" oder über eine Fahrt nach "Ost-Pommern und Danzig vom 3.6.-27.6.1995" werden wohl erst künftige Generationen voll erfassen können.
Archivbesucher, die wissen möchten, ob es Tagebuchnotizen, Erinnerungen oder Briefe zu einem bestimmten Ort jenseits von Oder und Neiße gibt, können mit etwas Glück sofortige Einsicht erhalten - nämlich dann, wenn das entsprechende Schlagwort schon in die Datenbank eingearbeitet wurde. Das ist bislang jedoch nur bei den ersten 250 Eingängen der Fall.
Für den Hauptteil bleibt bis auf weiteres nur die mühsame Durchsicht der Findbücher. Aber auch die kann höchst anregend sein, selbst wenn das eigentlich Gesuchte nicht zu entdecken ist.
Kontakt:
- Museum für Kommunikation Berlin-Mitte, Tel.: 030-20294303
Deutsches Tagebucharchiv e. V., Marktplatz 1, 79312 Emmendingen, Tel.: 07641-574659, Fax: 07641-931928, Internet: www.tagebucharchiv.de&nbs |
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