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Geschwaderfahrt mit humanitärem Aspekt

 
     
 
Na, Sie machen ja Geschichten mit uns!" empfängt mich Kapitän zur See Klaus Kienast halb belustigt auf der Brücke des Troßschiffes "Spessart", als ich mich an Bord gemeldet habe. Triefend naß übrigens. So stehe ich vor dem Kommandeur des 1. Versorgungsgeschwaders aus Kiel. Hinter den regengepeitschten Brückenfenstern erkenne ich nur schemenhaft die Umrisse der anderen Schiffe des Verbandes: die Versorger "Lüneburg" und "Saarburg", den Tanker "Walchensee" sowie die Hochseeschlepper "Fehmarn" und "Norderney".

Achteraus in einigen Seemeilen Distanz flackert ein weißes Hecklicht: vom russischen Forschungsschiff "Akademik Sergej Wawilow". Vor einer guten halben Stunde bin ich dort noch an Bord gewesen. Die Marine-Kameraden betrachten daher meine uniformierte Erscheinung mit einer Mischung aus Staunen und Verwunderung. Der Verband formiert sich wieder, nimmt Fahrt und Kurs auf nach Pillau. Dort bin ich heute hergekommen mit dem langsam in Regenschauern verschwindenden Forschungsschiff. Doch der Reihe nach …

Bevor der Verband auslief, war ich bereits in Königsberg, wie es mittlerweile auch viele Russen (wieder) nennen. Das zum Passagierschiff umfunktionierte Forschungsschiff "Akademik Sergej Wawilow" brachte mich von Lübeck aus hin. Das nördliche Ostdeutschland stand auf meinem Besichtigungsprogramm. Dann wollte ich mich zum Dienstantritt als Presseoffizier – wie vorher abgesprochen – in Pillau auf der "Spessart" melden. Zugegeben: ein "etwas" ungewöhnlicher Weg, aber sei’s drum. Daß ich zum Dienst müßte, interessierte den russischen Grenztruppen-Major nicht die Bohne, trotz Schreiben von Kapitän zur See Kienast und Hinweis auf den deutschen Marine-Attaché, Kapitän zur See Hammer
.

"Entweder Sie bleiben in Königsberg und versuchen auf eigenes Risiko nach Pillau zu kommen oder Sie fahren heute mit der ,Wawilow‘ zurück nach Deutschland", lautete die mir von dem Grenzer gestellte Alternative. Pillau ist gesperrt, ich habe also keine Chance ohne entsprechende Papiere. Ich votierte für Sicherheit und damit für das Auslaufen, zumal mein Visum auch nicht verlängert wurde.

Während das schneeweiße Forschungsschiff – übrigens das sauberste Schiff im Königsberger Hafen – vier Stunden durch den Seekanal dampfte, vorbei an vergammelten Fischereifahrzeugen, made in DDR/Volkswerft Stralsund, überlegte ich fieberhaft, wie ich dennoch meinen Reportageauftrag erfüllen könnte, über den Besuch des 1. Versorgungsgeschwaders in Pillau zu berichten. Schließlich hatte ich eine quasi verpflichtende Einladung vom Kommandeur zu einer "dienstlichen Veranstaltung" in der Tasche.

Die "Wawilow" dampfte inzwischen unverdrossen am Marinestützpunkt Baltijsk vorbei: an Steuerbord zahlreiche Einheiten der Baltischen Flotte bei schönstem Fotografierwetter. Der Lotse von Bord, vor uns die Danziger Bucht, achteraus die Samland-Küste und die Frische Nehrung.

Plötzlich eine Lautsprecherdurchsage: "Der deutsche Marineoffizier bitte umgehend auf die Brücke!" Spätestens hier beginnt die ungewöhnliche "Geschichte", die Kapitän z. S. Kienast süffisant erwähnte, als ich mich auf hoher See, querab Rixhöft und der Halbinsel Hela, an Bord meldete.

Bevor der russische Kapitän recht zu Wort kommt, weiß ich, was läuft: an Backbord das Flottendienstboot "Oste". Meine Chance! Über UKW-Kanal 16 rufe ich das Bundesmarine-Schiff an: ",Akademik Sergej Wawilow‘ an ,Oste‘ – bitte kommen!" Und das gleich ein halbes Dutzend Male. Keine Reaktion von drüben. Was tun? Bis ich auf den rettenden Einfall komme, mich mit Dienstgrad zu melden und ein dringendes Anliegen vortragen zu wollen. Siehe da, es klappt auf Anhieb. "Oste" meldet sich, bittet um einen anderen Kanal – da könnte ja jeder mithören! – Und nennt mir im nächsten Anlauf die Position des Geschwaders von 07 Uhr sowie Kurs und Geschwindigkeit. Der russische Wachoffizier Andrej überträgt die notierten Daten in die Seekarte. "Zwischen 19 und 20 Uhr müßten wir sie treffen", höre ich ihn zu meiner Freude sagen. Ab 17 Uhr versuche ich die "Spessart" anzurufen, immer wieder. Dann endlich Aufatmen, als ich den Funker des Marine-Tankers höre. Dem muß ich meine beinahe haarsträubende Geschichte kurz vortragen, bis sich der Kommandeur persönlich einschaltet: "Bitte richten Sie dem Kapitän der ,Wawilow‘ aus, daß wir uns um 19.30 Uhr auf der errechneten Position treffen wollen, um Sie zu übernehmen. Wetter und Seegang sind zwar nicht gerade günstig dafür, aber wir versuchen es, Sie per Beiboot von der ,Lüneburg‘ abzuholen und zur ,Spessart‘ rüberzubringen. Für dieses Manöver möge er bitte Lee machen. Over."

Meine Begeisterung über diesen "Coup" kennt keine Grenzen mehr. In Windeseile die Sachen gepackt und Uniform angezogen. Auf dem Achterdeck ist ein Barbecue aufgebaut. Gelegenheit, noch schnell ein Steak zu erwischen (Bier und Wodka verkneife ich mir wegen des Übersetzmanövers und des Dienstantritts möglichst ohne "Fahne") und mich von meinen Mitfahrern, lauter alte Ostdeutschland auf Heimatbesuch, zu verabschieden. Der Kaleu ist umringt von Marine-Fans. Als dann unsere grauen Dampfer an der Kimm auftauchen, schwappt die Begeisterung auch auf die Passagiere über: "Daß wir so was noch erleben dürfen", schwärmt der eine, und ein anderer lobt: "Kompliment der deutschen Marine!" Eine Frau findet sogar: "Der Höhepunkt dieser Reise!" Aber man muß sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Da trifft sich ein deutscher Marineverband vor der polnischen Küste mit einem russischen Forschungsschiff, um einen Offizier übersetzen zu lassen. Kurios, allemal. Das Troßschiff "Lüneburg" kommt auf Rufweite heran, ein Beiboot wird zu Wasser gelassen. Die Spannung steigt, Wetten werden abgeschlossen, ob ich’s schaffe, ohne ins Wasser zu fallen. Ungewöhnlich rauh zeigt sich die Ostsee an diesem kühl-windigen Spätsommerabend. Wir stehen nahe der Versenkungsposition des Flüchtlingsdampfers "Wilhelm Gustloff". Ein fast historischer Augenblick demnach, als das Marine-Boot heftig auf und nieder tanzend beim Russen längsseits geht. "Das hat’s wohl auch noch nich jejeben", vernehme ich eine staunend-bewundernde Stimme aus der Ostdeutschland-Runde. Über die Jakobsleiter steige ich in die brodelnde Tiefe, das Gepäck schwebt an einer Wurfleine voraus. Ein Brecher erwischt mich. Ergebnis: nasser Hintern. "Spring!" brüllt ein Obermaat, und schon lande ich im Boot. "Fahrstuhlfahren" ist hier kein Vergnügen. Von oben herab ein wahres Blitzlichtgewitter. Schnell die Rettungsweste umgelegt, ein letztes Winken, die Abschiedsrufe verwehen im Wind. Aus der Froschperspektive sehen unsere Schiffe gewaltig aus. Ihre Schrauben schlagen in beängstigender Nähe von uns. Über die grobe See tänzeln wir auf die "Spessart" zu. Wieder eine Sprung- und Kletterpartie. An Deck schüttelt mir der Erste Offizier Uwe Bloching fast beglückwünschend die Hand zu diesem Übersetzmanöver: "Willkommen bei uns an Bord!" Meint er unterwegs zur Brücke: "Die Russen haben ja ganz schön geschossen, also mit den Fotoblitzen." Ich kläre ihn auf, daß das die Touristen gewesen seien. Was dann folgt, ist bekannt …

Die Nacht in der gemütlichen "Spessart"-Bar wird einige Biere lang. Meine unglaubliche Geschichte macht die Runde. Gefragt sind auch meine noch frischen Ostdeutschland-Eindrücke und Tips. Müde sinke ich in meine Hospital-Koje. Alle anderen sind bereits belegt von Reservisten. Neben mir logiert Fregattenkapitän d. R. Horst Spandau, Hauptschulrektor aus Hannover. Diese Wehrübenden ersetzen auch eine Reihe von Zivilbesatzungsangehörigen, die für diese Mob-Übung nicht mehr wehrdiensttauglich sind.

Frühstück wie im Hotel. Steward Helmut Bünting reißt sich förmlich ein Bein für uns aus – besonders bei den Empfängen, die er allein gemeistert hat.

Gegen 8 Uhr kommt Pillau als schmaler Landstrich mit aufragendem Lotsenturm voraus in Sicht. Um 9 Uhr steigen Lotse und Verbindungsoffizier über. Letzterer, ein alter Bekannter von der Kieler Woche ’93, besticht durch perfekte Deutschkenntnisse.

Kapitän Meschat, Korvettenkapitän d. R., und 3. Offizier Heino Weißenfels führen das Kommando. In langsamer Fahrt fädelt sich unser Verband zwischen den Molen an Neutief, dem ehemaligen Seefliegerhorst der Kriegsmarine, und der Stadt Pillau vorbei in das Frische Haff und das erste Stückchen Seekanal ein. Pünktlich um 10 Uhr beginnen Einlauf- und Festmachmanöver, untermalt von Militärmusik. Unsere Nachbarn sind Kampfschiffe der Baltischen Flotte, die uns noch vor gar nicht allzu langer Zeit keineswegs so friedlich wie heute gesonnen war. Freundliches Winken, Seitepfeifen. Unser Liegeplatz: der ehemalige Tiefwasserhafen der Kriegsmarine für Großkampfschiffe.

Von da an steht alles unter Streß. Das offizielle Programm dieses "Routinebesuchs" sorgt schon dafür. Während die einen an Empfängen teilnehmen, Fußball mit russischen Matrosen spielen oder eine Kinderparty organisieren, machen andere Sightseeing: per Bus oder Taxi nach Königsberg, Palmnicken, Cranz, Rauschen, zur Kurischen Nehrung, Wehlau, Insterburg, Tilsit. Alle wollen in dieser Zeit etwas von diesem bisher verschlossenen Fleckchen Erde sehen. Obenan steht für Kapitän z. S. Kienast "die Begegnung von Mensch zu Mensch." Dazu gibt es hier reichlich Gelegenheit.

Da ich bereits eine Woche Ostdeutschland hinter mir habe, bin ich jetzt neugieriger auf den geschichts- und politträchtigen Stützpunkt. Der ist reichlich "zugeparkt" mit Schiffen aller Art: Korvetten ("Parchim"), Fregatten ("Krivak", "Neustrashimy"), Zerstörer ("Sovremenny"). Von wegen Fotografierverbot! Keine Spur davon. Wir können (fast) alles machen, sogar an Bord gehen. Ein Offizier vom Dienst bittet uns, etwas später wiederzukommen.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Die russischen Marine-Kameraden haben in Windeseile ein buntes Mini-Buffet aufgebaut – aus dem Nichts sozusagen, denn sie haben ja kaum etwas. Fast beschämend für uns.

Auf die neuesten Landungsboote mit Luftkissen- und Propellerantrieb ("Pomornik"-Klasse) läßt uns ein Kalaschnikow-bewehrter Posten nicht. Schlagbaum runter. Mitten im Stützpunkt ein Sonder-Sperrgebiet. Die in ihren Machorka-Dunst-Wolken "schwebenden" Offiziere sind auch nicht zu erweichen: "Njet!" Morgen sollen wir wiederkommen. Nur: uns fehlt die Zeit dazu, schade. Die in einem anderen Hafenbecken vor sich hin rostenden Wracks sind auch nicht ohne. Mein Begleiter Kaleu Zander entdeckt "alte Bekannte" wieder, die er für "vermißt" gehalten hat. Für ihn klärt sich hier manches auf. Wir schlendern am Zaun entlang, dahinter auf einer Betonpiste vier "Pomorniks". Ein russischer Matrose mit roter Wach-Armbinde, die Mütze lässig ins Genick geschoben, winkt uns heran. "Zigarett", lautet sein schlichter Wunsch, dazu die entsprechende Handbewegung. Aber auch wir haben einen Wunsch, nämlich uns die Landungsboote aus der Nähe anzusehen und zu fotografieren. "Njet Problem" (zu deutsch: kein Problem), lautet die verblüffende Antwort des Postens. Dann schlüpfen zwei deutsche Marineoffiziere durch ein Loch im Zaun in die Sperrzone! Herumstehende Seeleute lassen sich schnell zu einem Gruppenbild in der heruntergeklappten Bugrampe arrangieren. Ich mittenmang, und mein Kaleu-Kamerad drückt ab. Ich schaffe es sogar, ins Innere eines der Boote vorzudringen – und alles auf die Platte zu bannen, was uns interessiert. Zum Abschied bekommen wir sogar noch eine Matrosenmütze, ein Schiffchen, Mützenbänder und Abzeichen im Tausch gegen eine einzige Schachtel Zigaretten. Winken durch das Zaunloch.

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