|
"Es ist der deutsche Schuldkomplex, der uns lähmt. Er verhindert auch die nötigen Reformen, weil wir jedem Streit aus dem Weg gehen wollen." Mit dieser scharfsinnigen Beobachtung erklärte Hans-Olaf Henkel vor kurzem den Reformstau in Deutschland. Der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie verfolgt die Entwick-lungen in der deutschen Wirtschaft und Politik schon seit langer Zeit. Der Freiheits-Depesche verriet er seine Therapievorschläge für den Patienten Deutschland.
Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten einer Konjunkturverbesserung?
Henkel: Ich glaube, die Chancen stehen nicht so gut für dieses Jahr. Ich rechne damit, daß wir nur wenige Zehntelprozentpunkte Wachstum haben werden. Das bedeutet, daß dann drei Jahre Stagnation hinter uns liegen. Aber vielleicht sieht es im nächsten Jahr ja schon wieder besser aus. Durch die Steuerreform, die in den kommenden Jahren greifen soll, wird es ja sicher auch einen kleinen Impuls geben. Ich rechne damit, daß ein Teil der Ersparnisse, die der Staat dem Bürger dann beläßt, eben nicht auf das Sparbuch geht, sondern wieder in die Läden getragen wird.
Wie stellt sich für Sie in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Arbeitslosigkeit dar, sowohl national als auch international?
Henkel: Es gibt nach meiner Meinung kein Phänomen internationaler Arbeitslosigkeit. Es gibt das Phänomen hoher Arbeitslosigkeit in einzelnen Nationen. Aber dort, wo die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden, gibt es diese Erscheinungen nur über einen sehr kurzen Zeitraum, wie in den USA oder in Großbritannien. Dort beträgt die Arbeitslosenrate weniger als die Hälfte der unsrigen, und Irland, das klassische Land für Arbeitslosigkeit, hat heute Vollbeschäftigung. Das liegt eindeutig an der fortgeschrittenen Liberalisierung in diesen Ländern. Gibt es doch eine deutliche und empirisch nachprüfbare Korrelation zwischen dem Liberalisierungs- und dem Privatisierungsgrad einer Gesellschaft und damit der Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen. Gesellschaftsmodelle, die auf Eigenverantwortung und vor allem auf Liberalisierung des Arbeitsmarktes gesetzt haben, werden mit der Arbeitslosigkeit nun einmal besser fertig als Gesellschaften, deren Arbeitsmarkt so einbetoniert ist wie bei uns.
Worin sehen Sie die Ursache für die schwindende Attraktion des Standortes Deutschland?
Henkel: Wenn man die Nettoumsatzrendite der gesamten deutschen Industrie nimmt und sie mit jener der Industrie der USA, Großbritanniens oder selbst Hollands vergleicht, dann kann man feststellen, daß von 100 Euro Umsatz nach Abzug aller Steuern, Abgaben und Kosten bei uns nicht einmal zwei Euro übrigbleiben. In den USA liegt die Durchschnittsrendite bei fünf Dollar, in England bei sechs Pfund, und die Holländer behalten sogar sieben Euro übrig. Das zeigt deutlich: Bei uns sind die Verdienstchancen zu gering. Das ist auch der Grund dafür, warum wir im letzten Jahr 40.000 Pleiten hatten und im ersten Quartal dieses Jahres schon mehr als 10.000 Insolvenzen gemeldet wurden. Das ist auch der Grund dafür, warum es in Deutschland so wenig Unternehmensgründungen gibt, und das ist der Grund, warum das Ausland bei uns so zögerlich investiert und auf der anderen Seite die großen deutschen Unternehmen sich gern im Ausland engagieren. Wenn wir das ändern wollen, dann müssen wir die deutsche Wirtschaft wieder in die Lage versetzen, Geld verdienen zu können. Das kann man am besten, indem man die Bürokratie abbaut, indem man die Arbeitskosten nicht weiterhin so dramatisch ansteigen läßt, die Lohnzusatzkosten herunterschraubt und die Steuern senkt. Arbeit ist zu teuer geworden. Wir neigen immer dazu, die Arbeitslosig- keit als die Ursache der Probleme darzustellen. Dabei ist sie nichts weiter als ein Symptom. Die Ursache liegt bei den schlechten Verdienstmöglichkeiten der Unternehmen in Deutschland.
Welche Ansätze sehen Sie für einen neuen Aufschwung? Zum Beispiel betriebliche Tariflösungen?
Henkel: Die sind meiner Meinung nach überhaupt der springende Punkt von allen Reformen, die im Augenblick diskutiert werden. Dabei ist gerade an dieser Reform das Charmante: sie kostet nichts. Sie kostet den Steuerzahler nichts. Sie kostet keinen Beitragszahler etwas. Das einzige, was sie kostet, sind die Privilegien der Arbeitgebervertreter und der Gewerkschaftsfunktionäre. Abschlüsse für ein ganzes Land alleinverantwortlich und im Monopol zu verantworten, das gibt es heute nirgendwo mehr in der Welt. Nur bei uns muß ein Unternehmen, das kurz vor der Pleite steht, genau die gleichen Entgelte zahlen wie ein Unternehmen mit Super-Gewinnen, nur bei uns wird man in Emden, wo die Lebenshaltungskosten besonders gering sind, genauso viel bezahlen müssen wie in Stuttgart oder in München, wo oft allein schon die Miete die Hälfte des Verdienstes auffrißt.
Diese Gleichmacherei des Flächentarifvertrages, auf den diese Zustände zurückgehen, sind Resultate des Tarifkartells, das der Gesetzgeber vorschreibt. Dagegen kämpfe ich seit Jahren. Ich vertrete die Ansicht, daß man auch bei uns betriebliche Abschlüsse zulassen muß, vorausgesetzt, drei Viertel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stimmen dem in geheimer Wahl zu. Dann können Betriebsleitung und Betriebsrat miteinander aushandeln, was für das Unternehmen das Beste ist. In Hamburg gibt es für solche Situationen einen hervorragenden Spruch: "Leute, die am Meer wohnen, wissen selbst, wie hoch der Deich sein muß." Deshalb lautet mein Vorschlag: "Knackt das Tarifkartell." Jeder, der es gern möchte, kann sich weiter nach einem Flächentarifvertrag richten. Das Problem besteht ja letzten Endes darin, daß es nur diesen einen Flächentarif gibt und kein anderes Modell, das betriebsbezogene Lösungen zuläßt. Schließlich haben sich auch andere Länder von derart vereinheitlichenden Modellen abgewandt und haben damit Erfolg gehabt, wie beispielsweise Holland oder Schweden.
Das wäre auch für den deutschen Mittelstand von Bedeutung. Welche Rolle schreiben Sie den kleinen oder mittleren Betrieben in Deutschland überhaupt zu?
Henkel: Die kleinen und mittleren Betriebe spielen in Deutschland eine ganz entscheidende Rolle. Es gibt kaum ein Land vergleichbarer Größenordnung, wo die Bedeutung kleiner Betriebe so groß ist wie bei uns. Wenn man aber die Kehrseite der Medaille betrachtet, dann kann man auch sagen, daß es kaum ein Land gibt, wo die Bedeutung großer Firmen so gering ist wie bei uns. Es gehört zum Charakteristikum der deutschen Wirtschaft, daß sie mehr als in Frankreich, der Schweiz, Großbritannien oder Schweden vom Mittelstand bestimmt wird. Große deutsche Unternehmen können im Ausland investieren, wenn die Rahmenbedingungen hierzulande nicht stimmen. Das heißt, daß Arbeitsplätze, Investitionen, Forschungsaufwendungen immer öfter ins Ausland gehen, damit die Unternehmen überleben können. Der Mittelstand hingegen kann das oft gar nicht bewerkstelligen. Deshalb kann man sagen, daß Deutschland eine besonders hohe Abhängigkeit vom Mittelstand hat.
Neben dem Faktor "Mittelstand" gibt es in Deutschland ja auch noch einen anderen zum Wirtschaftsfaktor gewordenen Begriff, die Mitbestimmung, der Sie nie besonders grün waren. Wie sehen Sie das heute?
Henkel: Ich erlebe in deutschen Führungsetagen, daß es den einen oder anderen Typ gibt, der gern populistisch, schulterklopfend durch den Betrieb läuft, um sich die Stimmen der Arbeitnehmervertreter bei der nächsten Aufsichtsratswahl zu erheischen. Oder noch schlimmer: Oftmals wagt ein Vorstandsvorsitzender eine entscheidende strukturelle Änderung nicht in den Aufsichtsrat zu bringen, weil die Arbeitnehmer dagegen sind. Also unternimmt er es erst dann, wenn eine Gefahr nicht mehr zu übersehen ist. Das heißt, erst, wenn Verluste gemacht werden, dürfen Maßnahmen beschlossen werden, um diese Verluste auszugleichen. In anderen Ländern kann man vorausschauender handeln. Also diese Mitbestimmung, auf die wir in Deutschland ja stolz sind, und die auch noch moralisch begründet wird, diese Mitbestimmung wird langfristig zu einem Mühlstein um den Hals der deutschen Wirtschaft. In der Personalführung hat sie sich ja bereits als schleichendes Gift erwiesen. Auf der anderen Seite gibt es bessere und weniger bürokratische Modelle für die Beteiligung der Mitarbeiter. Denn im Entscheidungsfalle ist Mitarbeiterbeteiligung eminent wichtig.
Nicht selten kann man feststellen, daß Qualitätsprobleme dadurch entstanden sind, daß sich die Chefs entschieden haben, ohne die Erfahrung ihrer Mitarbeiter auszukommen. Dabei gibt es erprobte Modelle, um die Mitarbeiter bei Entscheidungsfindungen mit einzubeziehen.
Welche Strategien und Maßnahmen halten sie dann für besonders wichtig, um die Mitwirkungsmöglichkeit der Mitarbeiter, aber auch die Handlungsfreiheit der Unternehmen zu verbessern?
Henkel: Wir müssen auf Wissen setzen, auf Weiterbildung und sowohl aktuelle als auch künftige Anforderungen mit berücksichtigen. Die Pisa-Studie hat ja gezeigt, wo wir stehen. Die durchschnittliche Studienzeit ist obendrein mittlerweile von zehn auf 14 Semester angewachsen. Allerdings haben wir im internationalen Vergleich immer noch ein System, mit dem wir vorbildlich sind, und das ist das duale System, die Ausbildung unserer Lehrlinge.
Das ist ein rein deutsches System, finanziert durch die deutsche Wirtschaft, nicht durch den Staat. Wir dürfen uns nur nicht darauf ausruhen, sondern müssen auch im dualen System mit der Entwicklung Schritt halten. Wir dürfen nicht an der historischen Ausbildung von Schuhmachermeistern festhalten und gleichzeitig keine Möglichkeit finden, für die Leute ein Berufsbild zu entwickeln, die unsere Computer warten. Deshalb halte ich die Liberalisierung der Handwerksrolle für überfällig. Natürlich gibt es dabei viel Gegenwind. Aber das ist ähnlich wie mit den Zwangsmitgliedschaften bei den Handelskammern. Überall in der Welt ist das eine freiwillige Angelegenheit. Bei uns wird die Mitgliedschaft gesetzlich verlangt. Doch darüber sollte jeder selbst entscheiden. Also weg mit dem Gesetz. Dann werden die Handelskammern sehr schnell den Service liefern, für den man auch zu zahlen bereit ist. Und wenn man dann noch das Tarifkartell dazu nimmt, dann sieht man, in welchen Zwangsjacken die Unternehmen bei uns stecken und daß sogar große deutsche Unternehmensverbände reformfeindlich sein können.
Wie ließe sich das ändern? Durch eine Angleichung europäischer Arbeits- und Sozialpolitik?
Henkel: Ich halte es nicht für richtig, die Sozialpolitik zu einem europäischen Thema zu machen. Europa leidet bereits unter einem Mangel an Wettbewerbsfähigkeit, verglichen mit den USA, Asien oder Südamerika. Wir müssen im Gegenteil wettbewerbsfähiger werden, auch unter den EU-Ländern. Wenn die Portugiesen zum Beispiel 40 Wochenstunden für weniger Geld arbeiten wollen, um Investitionen nach Portugal zu locken, dann sollte man sie das tun lassen. Sie haben inzwischen eine niedrigere Arbeitslosenquote als wir. Das Recht, eine solche Entscheidung für die Gesellschaft zu treffen, sollte man jedem Land selbst überlassen. Irgendwann wird dann der Druck auf das deutsche System durch die Konkurrenz so groß, daß wir es auch ändern müssen. Deshalb brauchen wir Wettbewerb. Auf die Frage, wie wird Deutschland wieder wettbewerbsfähig, sage ich immer: ganz einfach, durch Wettbewerb.
Arbeitslosigkeit ist nicht Ursache, sondern Symptom der Probleme. Die deutsche Form der Mitbestimmung lähmt die Unternehmen
Wirtschaftskenner: Der berechnende Geschäftsmann setzt sich jetzt auch im vor wenigen Monaten ins Leben gerufenen Bürgerkonvent für ein besseres Deutschland ein. Foto: Leibniz-Gemeinschaft
Hans-Olaf Henkel, langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, BDI, ist heute Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, zu der 80 außeruniversitäre Forschungsinstitute und Serviceeinrichtungen für die Forschung, einschließlich der führenden Wirtschaftsforschungseinrichtungen Deutschlands, gehören. Sie beschäftigen insgesamt 12.500 Menschen, verfügen über einen Gesamtetat von 950 Millionen Euro und werden von Bund wie Ländern gefördert. Henkel sagte einmal, als er nach den Eigenschaften gefragt wurde, die er im Arbeitsleben für besonders wichtig hält: "Die sogenannten preußischen Tugenden habe ich immer für wichtig gehalten. Meine Schwester hat ihrem kleinen Bruder einmal einen Spruch ins Poesiealbum geschrieben, der den Kern dieser Tugenden ausdrückt: ,Das Schwerste immer zuerst. " |
|