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Als Alexander Wyneken vor 150 Jahren am 16. April 1848 in Syke als Sohn des späteren Hildesheimer Obergerichtspräsidenten Friedrich Wyneken geboren wurde, ahnte niemand, daß der bekannteste Journalist des Deutschen Ostens zur Welt gekommen war. In seiner Jugend schrieb er gute Schulaufsätze und saß mit seinem Bruder Karl zum vierhändigen Spielen am Klavier. Sein Berufsweg führte ihn zunächst als Bankkaufmann nach Genf , London und St. Petersburg, wobei der die internationale Welt kennenlernte.
In Breslau war er Mitarbeiter der "Schlesischen Zeitung", als ihn 1875 das Angebot traf, eine Stelle als einziger Redakteur einer kleinen Zeitung in Königsberg anzutreten. Er griff sofort zu und entfaltete in dem Blatt, das zunächst "Kommunalblatt für Königsberg und die Provinz Preußen" hieß, eine rege Tätigkeit als lokaler Berichterstatter und Theater- und Musikkritiker. Königsberg hatte ein zum damaligen Jahrhundertbeginn erbautes Theater, das der Oper und dem Drama diente. Konzerte bot ein städtisches Sinfonie-Orchester in der Börse, einem schönen klassizistischen Bau am Pregelfluß (flankiert von zwei Löwen, genannt "Gebrüder Löwenstein"). Seit Wyneken den Geiger Joachim das Violin-Konzert von Brahms spielen hörte, war er ein begeiserter Brahmsianer, Königsberg wurde später sogar "Brahmsopolis" genannt. Auch Richard Wagner gehörte für ihn zu den ganz Großen unter den deutschen Komponisten. Nach Besuchen des Bayreuther Festspielhauses schilderte er in seiner Zeitung ausführlich das Neuartige dieser Gesamt-Kunstwerke und ihrer Motivarbeit und brach als einer der Ersten Lanzen für die Gruppe der Wagnerianer.
Bald nach Übernahme durch Wyneken florierte die Zeitung, nahm an Abonnenten zu. Der Grund war nicht nur der allgemeine wirtschaftliche Aufstieg nach dem Krieg von 1870/71, sondern vor allem die Tatkraft und journalistische Begabung Wynekens sowie seine nationale Haltung als großer Verehrer Bismarcks. Dazu übernahm Wyneken das nationalliberale Gedankengut Bennigsens im Reichstag und gab seiner Zeitung auch ein politisches Gepräge. Damit gab es in Königsberg eine Zeitung, die zwischen der rechts orientierten "Ostdeutschen Zeitung" und der altbewährten "Hartungschen Zeitung", dem Organ der Intelligenz, stand.
In den Jahrzehnten über die Jahrhundertwende hinaus ging die Kurve der Abonnenten der "Königsberger Allgemeinen Zeitung", wie Wyneken das Blatt inzwischen benannt hatte, steil nach oben. Er war zum Chefredakteur ernannt worden und sorgte mit seinen nationalliberalen Leitartikeln für politische Orientierung und für Treue zu Heimat und Volkstum des Deutschen Ostens. Die Berichte von seinen Reisen zu den Weltausstellungen in Paris und Brüssel, im Ausland, oder zu Festspielen in Bayreuth oder Oberammergau wurden gerne gelesen. Die "Aljemäi-i-ne" hatte in Königsberg viele Leser aller Schichten, nicht zuletzt deshalb, weil Wyneken seine Redakteure immer wieder ermahnte, sich populär wie Luther auszudrücken. Bei seiner immer größer werdenen Gefolgschaft war er beliebt wegen seiner meisterlichen Güte und sozialen Gesinnung. Die Gründung einer Angestellten-Pensionskasse legte Zeungnis von seiner vorausschauenden Fürsorge ab. Die Finanzierung der Zeitung hatten inzwischen Bankdirektoren der Familie Simon übernommen. Wyneken nahm als Geschäftsführer an den Vorstandssitzungen teil. Er wurde Mitglied des Vorstandes des Vereins Deutscher Zeitungsverleger.
Das neue Jahrhundert brachte der Zeitung ein großes Ereignis. In der Theaterstraße, nahe der Universität und der großen Buchhandlung Gräfe und Unzer, entstand ein neues Geschäfts- und Verlagsgebäude. Das großzügig angelegte Haus mit dem klassizistischen Portal machte einen repräsentativen Eindruck. Auf dem hinteren Teil des Grundstücks stand ein zweites Gebäude für die Druckerei und die modernen Rotationsmaschinen.
Nun konnte Wyneken seine organisatorischen und journalistischen Fähigkeiten entfalten. Der ganze Betrieb wurde vergrößert, der redaktionelle Stab erweitert, Angestellte und Arbeiter eingestellt. Durch telefonische Verbindung mit einem Büro der Zeitung in der Hauptstadt Berlin erfuhr man stets die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Im Feuilleton glänzte Wynekens Sohn Hans mit witzigen und geistreichen Theaterkritiken. Von Walter Harich, dem Romancier und E.T.A. Hoffmann-Herausgeber, einem Schwiegersohn Wynekens, las man originelle "Berliner Briefe". Der Komponist Otto Besch schrieb professionelle Musikkritiken. Und eine Reihe anderer Redakteure sorgte für Berichte aus den anderen Bereichen.
Wynekens gastfreies Haus war jahrzehntelang Mittelpunkt harmonischer Geselligkeit, in der sich Politiker, Musiker, Schauspieler zusammenfanden. Auch bestanden freundschaftliche Verbindungen mit Hermann Sudermann und Agnes Miegel.
Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte entwickelte sich die "Königsberger Allgemeine Zeitung" zum bedeutendsten Blatt des Deutschen Ostens. Ohne die umsichtige und kenntnisreiche Führung durch ihren Chefredakteur Alexander Wyneken hätte sie diesen Rang nicht erreichen können.
In den zwanziger Jahren konnten meine Schwester Christine und ich unseren Großvater und die Vorgänge der Zeitung persönlich erleben.
Das 50jährige Jubiläum der Zeitung und ihres Chefs wurde 1925 festlich begangen. Bei der Gratulationscour am Vormittag im Hause Wyneken überreichte eine Abordnung des Vereins Deutscher Zeitungsverleger eine Marmorbüste von Goethe aus der Werkstatt des berühmten Bildhauers Rauch. Besonders erfreut war Wyneken durch ein Glückwunsch-Telegramm des Reichspräsidenten von Hindenburg. Am Abend versammelte sich die gesamte Belegschaft der Zeitung mit ihren Familien in der Oper, die Wyneken für diesen Abend gemietet hatte. Man spielte die "Fledermaus" von Strauß. In der Pause gab es ein üppiges Buffet, an dem sich sogar die an der Oper wartenden Droschkenkutscher beteiligten.
An Sonntagen waren wir öfter zum Mittagessen in der großen Wohnung in der Tragheimer Pulverstraße eingeladen. Vorher warteten wir in der großen Bibliothek, wo ringsum Regale mit Büchern fast bis an die Decke reichten. Unter anderem gab es eine große Goethe-Bücherei. Oben auf den Regalen standen die Köpfe der Götter aus der Griechischen Mythologie. Zwischen zwei Fenstern sah man Bilder der "Götter" Wynekens: Luther, Goethe, Bismarck und Richard Wagner. Die Köchin hatte stets ein vorzügliches Essen bereitet, der Diener Karl servierte und sorgte für klassische Weine aus dem Weinkeller. Im Anschluß an das Essen saß der Großvater gerne mit seinem Weinglas und einer Zigarette noch länger am Tisch und erzählte aus seinem Leben. Als alter Herr mit weißem Bart, gepflegt und in eleganter Kleidung, machte er stets einen noblen Eindruck auf uns. Berühmte Leute waren bei ihm zu Gast. Zum Beispiel der große Dirigent Hans von Bülow, der als groß gewachsener Mensch auf die ängstlichen Blicke des kleinen Sohnes Hans antwortete: "Hab keine Angst, ich bin der große Hans, du bist der kleine Hans." Oder Max Reger, der zuerst zu viel Bier trank und dann beim Klavierspiel einschlief. Auch Richard Strauß war Gast bei Wynekens, als er in Königsberg seinen "Rosenkavalier" dirigierte. Privat zeichnete er sich durch exzellentes Skatspielen aus. Gelegentlich hörten wir von meinem Großvater: "Neulich habe ich mit Stresemann gefrühstückt." Der berühmte Außenminister legte wegen der nationalliberalen Haltung der "Königsberger Allgemeinen Zeitung" großen Wert auf die Bekanntschaft mit Wyneken und kam von Berlin nach Königsberg.
Im Sommer ging es mit der altmodischen Samlandbahn nach Rauschen an die Ostsee. Dort mietete der Großvater jedes Jahr die "Villa Josetti", eine der alten holzgeschmückten Badeortvillen. Seine großen Spaziergänge führten ihn auf dem Steilküstenweg nach Lappönen bis zur Venusspitze mit dem weiten Blick über Meer und bewaldete Küstenbuchten bis zum Brüsterorter Leuchtturm. Später wurde dieser Weg als "Wyneken-Weg" beschildert. Manchmal saßen wir auf dem schattigen Freiplatz eines Cafés in dem Badeort Neukuhren. Dazu machte, auf Anregung meines Großvaters, eine Kapelle Unterhaltungsmusik. Auch dieser Platz hieß später "Wyneken-Platz".
In Rauschen empfingen wir auch eines Tages den Großvater mit einem bekränzten Gratulationsschild an der Hauspforte, als er von seiner Ernennung zum Dr. h. c. durch die Königsberger Albertus-Universität zurückkehrte.
Ende der zwanziger Jahre hatte die Leitung des Provinzblattes eine für die damalige Zeit bemerkenswerte Zahl von etwa sechzigtausend Abonnenten erreicht. Wyneken hielt trotz seines Alters von 80 Jahren noch jeden Tag seine Redaktionskonferenz ab. Man nannte ihn im Haus nur den "Alten Herrn", er wurde von allen verehrt und geliebt. Im großen Saal für die Anzeigen-Annahme im Parterre stand von ihm eine Bronze-Büste des bekannten Akademieprofessors Heinrich Wolff, die leider verloren ist.
Im Jahr 1929 ging Wyneken in den Ruhestand. Im Alter von 91 Jahren ist er am 5. April 1939, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, gestorben. So wie er im Leben stets ein Glückskind war, hatte er das Glück, den Untergang Königsbergs und seiner geliebten Zeitung nicht mehr erleben zu müssen.Hans-Rolf Wyneken
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