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Wer ist der Staat, und warum kann er angeblich nicht in Konkurs gehen? Die formale Antwort hierauf könnte etwa lauten: Der Staat ist die gesellschaftspolitische Organisation einer Gemeinschaft von Menschen innerhalb einer geographischen Abgrenzung mit souveränen Selbstbestimmungsrechten. Nicht die Bürger selbst sind der Staat, sondern die auf der Grundlage gemeinsam geteilter Werte und Lebensformen geschaffene Organisation bildet den Staat. Die zur Wahrnehmung festgelegter staatlicher Funktionen berufenen Organe repräsentieren ihn.
Das Gebilde Staat wird in qualifizierten Demokratien von politischen Vertretern geführt und bestimmt. Damit wird der Staat zur Spielwiese der Politiker und der Staatsbürger zum Zuschauer mit der Pflicht zur Bezahlung von Unterhaltskosten und dem Recht des Sympathieentzuges für einzelne Spieler oder ganze Mannschaften. Die Politiker können sich solche Sympathien entweder durch persönliche Leistungen erwerben oder durch finanzielle Zuwendungen an bestimmte Gruppen auch erkaufen.
Was der Staat aber mit den finanziellen Zuwendungen seiner Bürger macht, bleibt weitgehend ein Geheimnis der Finanz- und Haushaltsexperten in Regierung und Parlament. Zur Rechenschaftslegung des Staates gegenüber seinen Bürgern ist dieser nicht verpflichtet. Die Rechnungslegung (Art. 114 GG) erfolgt durch die Regierung gegenüber dem Parlament und wird durch dieses entlastet. Dies bedeutet im aktienrechtlichen Sinne, daß sich Vorstand und Aufsichtsorgane gegenseitig beauftragen, kontrollieren und entlasten. Die "Aktionäre" des Staates, d. h. die Staatsbürger erhalten gelegentlich bruchstückhafte Informationen über das Finanzgebaren ihrer staatlichen Organe, sind jedoch nicht in der Lage, den wirtschaftlichen Erfolg oder die Vermögenslage ihres Staates zu überblicken und zu beurteilen. Sie können auch nicht auf "Aktionärsversammlungen" der Regierung die Entlastung verweigern, sondern nur alle vier Jahre die "Aufsichtsratsmitglieder" aus einer vorbestimmten Gruppe untereinander austauschen.
Damit entsteht die Frage, wie die Staatsbürger die wirtschaftliche Lage ihres Staates erkennen und beurteilen können, um ihre eigene wirtschaftliche Situation richtig einschätzen zu können.
"Alle Einnahmen und Ausgaben
sind in den Haushaltsplan einzustellen; Bei Bundesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden.
" (Art. 110 [1] GG). Der Staat besteht aber nicht nur aus dem Bundeshaushalt. Zu ihm gehören ebenso die Haushalte der 16 Länder und 14 561 Gemeinden sowie selbständiger öffentlich-rechtlicher Einrichtungen. Haushaltspläne von Bund, Ländern und Gemeinden werden in stark verkürzter Form nach Funktionsbereichen (Ministerien) veröffentlicht und geben keinerlei systematischen Aufschluß über Geschäfts- bzw. Aufgabenfelder. Bilanzen werden nicht erstellt.
Haushaltspläne sind Meisterwerke der Ergebnisverschleierung und der Bilanzunklarheit. Am Beispiel des Bundeshaushaltes läßt sich illustrieren, daß die Einnahmen und Ausgaben nicht kompatibel sind, d. h. während die Einnahmen mit 86 Prozent des Gesamthaushaltes von der Finanzverwaltung aus verschiedenen Steuereinnahmen in einer Summe ausgewiesen werden, verteilen sich die Ausgaben mit 77 Prozent auf rund zwanzig Bundesorgane, und 17 Prozent fließen in die Bundesschulden.
Es fehlt eine spezifische Zuordnung der Einnahmen zu der entsprechenden Einzelleistungen und damit die Möglichkeit zur Ermittlung von Kosten-Nutzen-Relationen, worunter die Durchschaubarkeit erheblich leidet. Man kann den staatlichen Quellen zwar eine ganze Menge Erläuterungen entnehmen und sicherlich bekommt man auch als einfacher Bürger Antworten auf gezielte Fragen. Was man nicht kann, ist sich aus noch so vielen Unterlagen eine Gesamtdarstellung im Sinne einer aktienrechtlichen Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung erstellen. Dies aber wäre unabdingbar für die Erkennung und Beurteilung der Finanzwirtschaft des Staates.
Nun wird neuerdings immer häufiger von der "Deutschland AG" gesprochen und geschrieben. Diese Bezeichnung wurde auch in einer Ende 1999 in den Handel gelangte Veröffentlichung von Peer Ederer und Philipp Schuller unter dem Titel "Geschäftsbericht Deutschland AG" übernommen. Die beiden Autoren haben mit Unterstützung eines großen Teams von Seminarteilnehmern der Universität Witten/Herdecke und zahlreicher Persönlichkeiten und Institutionen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Staat in dreijähriger Recherche versucht, auf rund 270 Seiten mit zahlreichen Einzeldaten und Graphiken so etwas wie einen wirtschaftlichen Gesamtbericht der Bundesrepublik vorzulegen. Was diesem Geschäftsbericht trotz seiner unzweifelhaften Verdienste fehlt, ist eine konsolidierte Vermögens- und Ergebnisdarstellung des Konzerns "Deutschland AG", der aus Bund, Ländern und Gemeinden bestehend erst die Finanzwirtschaft unseres Staates offenlegen würde.
Die Rechnungslegung hat auf Grund einer veralteten, ineffizienten und undurchsichtigen Buchführung keine Aussagekraft. Damit wird in erheblichem Maße die Entscheidungsfindung und eine effiziente Umsetzung von getroffenen Entscheidung behindert. Insoweit sind die Politiker, ja selbst der Bundesrechnungshof, die Wissenschaft und Institutionen wie der Bund der Steuerzahler in dem berühmten Wettlauf zwischen Igel (Staat) und Hasen (Staatsbürger) immer zweiter Sieger. Deshalb wird auch immer wieder zu Recht die Forderung nach einer Umstellung der staatlichen Haushaltsführung auf die Doppelte Buchführung gefordert, durch die erst eine betriebswirtschaftliche Bewertung möglich wird. Erst dann könnte die Frage, ob unser Staat konkursreif ist wofür sehr vieles spricht , korrekt beantwortet werden.
Der deutsche Staat produziert seit dreißig Jahren Verluste, die sich bis heute auf einen Schuldenberg von 2383 Milliarden Mark aufgehäuft haben. Hinzu kommen zirka 783 Milliarden für bereits feststehende künftige Zahlungsverpflichtungen, die als Schulden noch nicht eingebucht wurden. Handelsrechtlich müßte dieser Betrag gleichfalls als Verbindlichkeit ausgewiesen werden. Damit muß bereits heute von einer gesamtstaatlichen Verschuldung von über 3100 Milliarden Mark ausgegangen werden.
Der Staat finanziert laufende Verluste durch permanente Kreditaufnahme, d. h. er kann Zinsen und Tilgungen nur noch dadurch bezahlen, daß er immer wieder neue Kredite aufnimmt. Durch weitere Neuverschuldung erhöht sich die Staatsschuld jährlich um 80 bis 100 Milliarden Mark.
Die staatlichen Gesamtausgaben sind seit 1950 im Durchschnitt jährlich um neun Prozent gewachsen und lagen damit um gut ein Prozent höher als das volkswirtschaftliche Gesamtwachstum. In diesen fünfzig Jahren hat sich der Anteil der staatlichen Haushalte an der Volkswirtschaft (Staatsquote) von rund 30 auf über 50 Prozent erhöht. Dies bedeutet, daß jede zweite Mark am Bruttoinlandsprodukt durch staatliche Hände fließt.
Ederer und Schuller kommen bei der Gesamtbewertung der "Deutschland AG" auf ein negatives Eigenkapital von 5875 Milliarden Mark, was einem Anteil von fast 60 Prozent der Bilanzsumme entspricht. Gegen das Unternehmen "Deutschland AG" müßte eigentlich ein Insolvenzverfahren wegen "betrügerischen Konkurses" eingeleitet werden. Ob dabei eine Eröffnung des Verfahrens mangels Masse überhaupt zustande kommen könnte, beantwortet sich aus der gesamtschuldnerischen Haftung aller Staatsbürger.
Der Staat verfügt über ein umfangreiches Vermögen. Neben beträchtlichem Immobilienbesitz zählen insbesondere Industriebeteiligungen und Finanzinstitute zu den wesentlichen Vermögenswerten des Staates.
Der Wert des gesamten Immobilienbesitzes ist vermutlich nicht einmal annähernd zu schätzen. Das Land Nordrhein-Westfalen will ab 1. Januar 2001 ein zentrales Bau- und Liegenschaftsmanagement etablieren, das sämtliche Immobilien der öffentlichen Hand des Landes (zirka 23 Milliarden Mark Verkehrswert) verwalten, betreiben und sanieren soll. Damit soll der Haushalt in den kommenden zehn Jahren mit fünf Milliarden entlastet werden. Es wäre wünschenswert, daß der Bund, die anderen Länder und die Gemeinden ähnliche Maßnahmen treffen und dabei Synergie- und Rationalisierungseffekte freigesetzt werden.
Der Besitz an Straßen, Brücken und sonstigen Verkehrseinrichtungen hat ebensowenig einen Markt- oder Verkehrswert wie Eisenbahnen.
Ederer/Schuller kommen zu dem Ergebnis, daß "die Deutschland AG" "an mindestens 100 000 Unternehmen Mehrheitsbeteiligungen hält", "deren konsolidierte Bilanzsumme mehr als 1300 Mrd. DM beträgt". Nicht eingeschlossen sind die dem Staat gehörenden, als Universalbanken fungierenden 589 Sparkassen und zwölf Landesbanken, die zusammen eine Bilanzsumme von etwa 3600 Milliarden Mark vertreten und damit mehr als doppelt so groß sind wie die Deutsche Bank.
Nun sind Bilanzsummen noch lange keine Beteiligungswerte. Der Marktwert der Sparkassen und Landesbanken kann auf 210 bis 250 Milliarden Mark geschätzt werden. Der Verkehrswert der 100 000 Mehrheitsbeteiligungen ist kaum verifizierbar. Andererseits stehen den Aktivposten in einem Sondervermögen fast 500 Milliarden DM Schulden gegenüber, die "über einen langen Zeitraum bei Fusionen oder Verkäufen von Eigenkapitalbeteiligungen" sowie dem Fonds Deutsche Einheit entstanden sind.
Seit Jahren lautet die Zauberformel zur Sanierung öffentlicher Haushalte "Privatisierung". Früher nannte der Volksmund dies, wenn ein fürstliches Haus sich sanieren mußte, das "Tafelsilber verscherbeln". Vielfach ist dies nur möglich, wenn entsprechende Beteiligungen vorher saniert, d. h. in der Regel auf Staatskosten entschuldet und ausgegliedert werden. Spektakuläre Einzelfälle der Privatisierung wie beispielsweise der Deutschen Telekom sind noch kein Beweis einer systematischen Vermögensverwertung. Solange keine Klarheit über die gesamte Vermögenslage des Staates, sprich ihre Zusammensetzung und Werthaltigkeit besteht, kann auch kein Konzept einer systematischen Vermögenspolitik entwickelt werden.
Der Staat bzw. seine politischen Organe haben rein theoretisch die Macht, die Gesamtheit der Staatsbürger zur Begleichung seiner Verbindlichkeiten in Regreß zu nehmen. Dies bedeutet entweder die Ausgabenseite durch Kürzungen von Zuwendungen wie beispielsweise Sozialleistungen, Abbau von Beschäftigung, Einstellung von Investitionen u. ä. drastisch zurückzuführen oder aber die Einnahmenseite durch Erhöhung von Steuern und Abgaben entsprechend zu erhöhen. Haftungsrechtlich bürgen immer alle Staatsbürger mit ihrer Leistungskraft und ihrem Eigentum für die Verbindlichkeiten des Staates, und nur deswegen kann er rein theoretisch auch niemals in Konkurs gehen.
Da beide Leistungsseiten in der "Deutschland AG" entweder durch Besitzstände festgezurrt sind oder bereits die Schmerzgrenze der Staatsbürger überschritten haben, bleiben ohne Gefahr einer sozialen und gesellschaftspolitischen Revolution keine wesentlichen Handlungsspielräume mehr frei.
Nachdem das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert nach den beiden Weltkriegen gleich zweimal auch finanziell bankrott war, haben seine Bürger das Vertrauen in den Staat, der ja angeblich nicht in Konkurs gehen kann, weitgehend verloren. Selbst das Wirtschaftswunder der Nachkriegsrepublik wurde inzwischen so weitgehend aufgezehrt, daß die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven Deutschlands alles andere als blühende Aussichten widerspiegeln. Es darf daher nicht verwundern, daß sich die Bürger mehr an kurzfristigen Ergebnissen orientieren und grundsätzliche, aber langfristige Richtungsänderungen scheuen.
Jede Gemeinschaft, ob Wirtschaftsunternehmen oder ein Staat, braucht, wenn sie auf Dauer angelegt sein will, eine kohärente langfristige Strategie. Diese muß zukunftsorientiert sein. Sie muß die Verhältnisse realistisch beurteilen.
Ebenso müssen die Möglichkeiten der Zukunft in einem gesunden Verhältnis von Einsatz, Risiko und Ertrag realistisch eingeschätzt werden. Träger der Unternehmung "Deutschland AG", die das Leistungspotential der sozialen Gemeinschaft der Staatsbürger bestimmen, sind die hervorragend ausgebildeten und leistungsfähigen Arbeitnehmer, Selbständigen und Unternehmer. Was der "Deutschland AG" fehlt, sind die Ziele und die strategischen Visionen, die sich an den Interessen ihrer Bürger orientieren.
Unser Staat ist de facto konkursreif, was aber weitgehend verschleiert wird. Er überlebt nur noch vom Vorgriff auf die Leistung künftiger Generationen, was einen schlimmen Betrug darstellt. Alle gesellschaftspolitischen Sachdiskussionen müssen so lange Makulatur bleiben, solange nicht eine konsequente Bestandsaufnahme aller finanziellen Ressourcen, also ein totaler Kassensturz von Bund, Ländern und Gemeinden sowie öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, klarstellt, was wir uns überhaupt noch leisten bzw. eben nicht mehr leisten können.
Nicht die krampfhafte Befriedigung von ideologisierten Ansprüchen kann mehr Aufgabe staatlicher Finanzwirtschaft sein, sondern die Rückkehr zu einem bescheidenen Staat. Wenn sich Demokratie nur durch Einkauf politischer Macht auf Kosten des Staatsvolkes realisieren läßt, wird sie sich als nicht überlebensfähig erweisen müssen, weil die gesellschaftspolitischen Kosten auf Dauer nicht finanzierbar sein werden.
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