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Daß die Sudetendeutschen und der Bund der Vertriebenen in Tschechien häufig als antideutsche Schreckgespenster herhalten müssen und ihr Einfluß von der Presse grotesk übertrieben wird, ist manchen hiesigen Beobachtern wohl noch bewußt.
Anders sieht es beim Nachbarn Polen aus: Zwar gibt es jenseits von Oder und Neiße unter den heranwachsenden Generationen eine wachsende Bereitschaft, alte deutschfeindliche Geschichtsbilder schrittweise zu berichtigen, aber man findet immer wieder auch Belege für gegensätzliche Strömungen.
Ein alarmierender Fall aus jüngster Zeit ist ein Artikel in der Zeitschrift Wprost vom 3. August. Man könnte über diesen polemischen und nicht selten böswilligen Beitrag einer gewissen Krystyna Grzybowska über die bundesdeutsche Politik und die Vertriebenen hinweggehen, wäre er nicht im vielbeachteten Wochenmagazin Wprost (Direkt) erschienen - einer Art polnischem Spiegel mit Elementen von Focus und Bild.
Schon der Einstieg offenbart einen emotionalen Ansatz: "Die in Deutschland regierenden Linken haben mit ihrer Feinfühligkeit aufgehört. (...) Es ist ein gewisses Verständnis in bezug auf die territorialen Ressentiments aufgetreten, und zwar sogar bei Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem deutschen Außenminister Joschka Fischer. Bisher wird dies durch den verstärkten Druck auf Tschechien zum Ausdruck gebracht, die Benesch-Dekrete zu annullieren."
Abgesehen davon, daß die Bezeichnung "territoriale Ressentiments" für das Bemühen um eine Aufarbeitung der Massenvertreibung von Deutschen aus dem Osten oder für völkerrechtlich gestützte Forderungen nach Heimatrecht und Eigentumsschutz eine Frechheit ist, fragt man sich erstaunt, wie die in Posen ansässige Zeitschrift zu ihrer Einschätzung der deutschen Regierungspolitik kommt.
Zwar gab es in jüngster Zeit zaghafte Zugeständnisse aus Prag - etwa die Erklärung vom 19. Juni zur EU-Volksabstimmung, in der die Vertreibung der böhmischen Deutschen als "aus heutiger Sicht unannehmbar" bezeichnet wird -, jedoch stellen diese zuallerletzt eine Antwort auf massiven "Druck" seitens der deutschen Zentralregierung dar.
Auch der Vorschlag des Bundesrates vom Juli, den 5. August zum "Nationalen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung" zu erheben, geht bekanntlich nicht auf Rot-Grün, sondern auf die in der Länderkammer maßgeblichen Unionsparteien zurück.
Somit entbehrt schon die argumentative Ausgangsposition Frau Grzybowskas jeder Grundlage. Doch auch so sind die nachfolgenden Thesen haarsträubend. Zum Beispiel ihre Bewertung des BdV: "Je besser die Beziehungen (zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen; Anm. d. Verf.) waren, desto geringer war die Bedeutung des Vertriebenenverbandes. (...) Um den Bund der Vertriebenen ist es jedoch heute besser bestellt als je zuvor."
Hier wird der Popanz eines aggressiven anti-polnischen Interessenverbandes aufgebaut, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. In Wahrheit waren es in der Nach-Wende-Zeit insbesondere vertriebene deutsche Schlesier, Pommern, West- oder Ostdeutschland, die jenseits der Grenze ihre Heimat besuchten und vielfältige Beziehungen zu heute dort lebenden Polen knüpften.
Zu einer Zeit, da die Masse der bundesdeutschen Bevölkerung gegenüber den Nachbarn im Osten noch immer von tiefer Skepsis und noch mehr von völliger Unwissenheit und Desinteresse geprägt wird, kommt den Vertriebenen eine Vorreiterrolle zu, wenn es gilt, den Europa zerteilenden eisernen Vorhang in den Köpfen endgültig zu zersprengen.
Jenseits solcher Einsichten wird in der gemeinhin als konservativ, antikommunistisch und pro-amerikanisch eingestuften Zeitschrift Wprost publizistisches Gift verspritzt: "Jeder, der sich während der Nazizeit nur einen Moment außerhalb des Gebietes der heutigen Bundesrepublik Deutschland aufhielt und dann zurückkehrte, verfügt über den Status eines Vertriebenen. Joschka Fischer hat demnach den Status eines Vertriebenen aus Ungarn.
Nach der deutschen Interpretation können sogar sowohl der Sohn des Gouverneurs Hans Frank als auch die Kinder der Belegschaft von Auschwitz als Vertriebene anerkannt werden. Auf diese Weise
wurde auch Erika Steinbach selbst als Vertriebene anerkannt, deren Vater einige Jahre im Gebiet der polnischen Region Pomorze (Pommern) diente."
Hier soll der Eindruck erweckt werden, als ob es sich bei den deutschen Vertriebenen mehrheitlich um Personen handelte, die sich infolge der NS-Herrschaft kurzzeitig aus dem Gebiet zwischen Rhein und Oder auf polnischem Boden niederließen und nach Kriegsende in den Westen "zurückkehrten".
Der Großteil der polnischen Leser dürfte tatsächlich nicht wissen, daß die Masse der rund 15 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus Gebieten wie Schlesien, Pommern oder Ostdeutschland stammten, die inzwischen zu weiten Teilen zum polnischen Staat gehören, aber bis zum Ende des Krieges zu über 90 Prozent von alteingesessenen Deutschen bewohnt waren.
Anders geartete Formen des Heimatverlustes wie die Umsiedlungen der Baltendeutschen, der Wolhynien-, Galizien-, Buchenland- und Bessarabiendeutschen oder der Deutschen aus der Gottschee sind demgegenüber mit einer Gesamtzahl von rund einer halben Million Betroffener quantitativ zu vernachlässigen. Erst recht gilt das für jene Personen, die zum Zeitpunkt der Vertreibung beispielsweise aus beruflichen Gründen oder auf Weisung der Partei erst kurze Zeit im Osten des Reiches lebten und dann gezwungenermaßen wieder gen Westen gingen.
"Joschka" alias Joseph Fischer hielt sich nie in der ungarndeutschen Heimat seiner Eltern auf, doch deren Vertreibungsschicksal hat unbewußt zweifellos seinen Werdegang beeinflußt.
Seine Familie mußte wie mehr als 220 000 Ungarndeutsche das von den Vorfahren im 18. Jahrhundert nach großen Strapazen neuerworbene Zuhause aufgeben. Für die Fischers hieß das, im März 1946 mit nur 50 Kilo Gepäck aus Wudigeß (Budakeszi), einem Vorort Budapests, aufzubrechen, um im Schwäbischen neu anzufangen. Dort wurde 1948 auch Sohn Joschka geboren.
Während bei der Familie des Metzgermeisters Jakob Fischer nur die Urahnen einen direkten Bezug zu Binnendeutschland hatten, stammten Erika Steinbachs Eltern tatsächlich aus Westdeutschland. Genauer: aus Bremen bzw.Hanau. Kennengelernt haben sie sich aber in Westpreußen, wohin Steinbachs Vater als Offizier versetzt wurde und wo in Rahmel im Juli 1943 Tochter Erika zur Welt kam.
Die Vertreibung der eigenen Familie und der Masse alteingesessener westpreußischer Deutscher erlebte die heutige BdV-Vorsitzende somit nicht bewußt mit, doch auch sie erlitt ein nicht selbst verschuldetes Kriegsfolgenschicksal.
Zu dem von der Verfasserin wörtlich erhobenen Vorwurf, die deutsche Seite würde die Unterschiede zwischen Evakuierungen, zwangsweisen Umzügen, Flucht und Vertreibung "verwischen", sei mit dem amerikanischen Völkerrechtler und Historiker de Zayas darauf hingewiesen, daß praktisch alle Betroffenen nach dem Ende der Kämpfe heimkehren wollten. Daran wurden sie dann von den polnischen, tschechischen oder sowjetischen Behörden gehindert und so zu Vertriebenen gemacht.
Besonders abwegig ist die folgende Passage: "Die Vertreibung" wurde "niemals rücksichtslos und konsequent umgesetzt. Wenn es so wäre, gäbe es heute keine deutsche Minderheit in Polen sowie deren Vertretung im Sejm. Weder die Flüchtlinge und Aussiedler noch die falschen Deutschen, die in der Zeit des Kommunismus in die Bundesrepublik Deutschland gelangten (...), sind Vertriebene."
In aller Kürze sei zu diesen Behauptungen, die einem schier die Sprache verschlagen, Folgendes angemerkt: Die Warschauer Kommunisten setzten die ethnischen Säuberungen nur dort nicht konsequent durch, wo sie Deutsche als Fachkräfte für die Wirtschaft brauchten (etwa bei Waldenburg) oder wo sie - wie in Oberschlesien und Masuren - in Anwendung der "Autochthonen"-Theorie auf eine rasche Polonisierung hofften.
Daß letzteres kaum Erfolg hatte und es immer mehr "falsche Deutsche", wie Grzybowska Teile der schlesischen oder masurischen Aussiedler nennt, wegzog, hat viele Gründe. Nicht zuletzt besteht ein Zusammenhang mit der Entdeutschung der Oder-Neiße-Gebiete durch die Massenvertreibungen. Denn diese entfremdeten auch die Verbliebenen von ihrer Heimat.
Gegen Ende des Wprost-Artikels schwadroniert die Verfasserin darüber, daß die angebliche neue deutsche Interpretation des Krieges und seiner Folgen einen "Verlust an Sensibilität" beweise, da die "Leiden des Verursachers und das Leiden des Opfers (...) niemals moralisch gleichgestellt werden" könnten.
Damit redet die Wprost-Autorin einer Kollektivschuld-Mentalität und der Zweiteilung in gute und böse Opfer das Wort, deren ethische Fragwürdigkeit den Keim für neuen Völkerhaß legen.
Statt dessen sollte sie sich an Sätze aus einem Memorandum erinnern, das Robert Murphy, Berater der US-Militärregierung in Berlin, am 12. Oktober 1945 angesichts der zahllosen Vertriebenen verfaßte: "Sieht man das Elend und die Verzweiflung dieser Unglücklichen, spürt man den Gestank des Schmutzes, der sie umgibt, stellt sich sofort die Erinnerung an Dachau und Buchenwald ein. Dies ist Strafe im Übermaß - aber nicht für die Parteibonzen, sondern für Frauen und Kinder, die Armen, die Kranken (...)."
BdV als anti-polnischer Interessenverband dargestellt Bilder aus einem besiegten Land: Ostdeutsche Vertriebene in den Westzonen (oben) und polnische Neusiedler in einer kleinen masurischen Ortschaft zwischen Nikolaiken und Lyck (unten) Fotos: Archiv/Charles Wassermann´ |
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