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Türkei - Eurasisch statt europäisch

 
     
 
Schon die bloße Frage ist ein he ßes Eisen, an dem sich kein ve antwortlicher Politiker gern die Finger verbrennt: Hat die Türkei eine Perspektive Mitglied der EU zu werden oder ist sie Beitrittskandidat? Die Union hatte sich bisher vo einer klaren Antwort gedrückt. Auch derzeit halten die Eiertänze an. Hat die Türke eine Perspektive, Mitglied zu werden, oder ist sie Beitrittskandidat? Die Türkei wünsch eine rechtsverbindliche Form für ihre Kandidatur und stellt in einer Erklärung de türkisch
en Außenministeriums vom 14. Dezember 1998 fest: "Obwohl die ,Strategie‘ für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union auf dem Wiene Gipfeltreffen bekräftigt wurde, wurde im Vergleich zu den Beschlüssen des Gipfeltreffen vom 15. Juni 1998 in Cardiff und dem Bericht der EU-Kommission vom 4. November 1998 kei zusätzlicher Fortschritt in der Frage der Kandidatur der Türkei verzeichnet."

Die Enttäuschung der Türken über die Nichtaufnahme von Beitrittsverhandlungen mi der Europäischen Union ist verständlich. Allzulange sind auf beiden Seiten falsch Erwartungshaltungen gepflegt worden. Für die Zurückhaltung der EU gibt es jedoch gut Gründe, die jeder objektive Beobachter akzeptieren muß. Leider ist die objektiv Sachlichkeit kein ausgeprägtes Merkmal türkischer Politik.

Die Reaktionen in der Türkei auf die Entscheidung der Europäischen Union waren zu Teil irrational, töricht, falsch und kontraproduktiv. Als oberster Scharfmacher hat sic dabei der letzte Ministerpräsident, Mesut Yilmaz, betätigt. Für ihn mutierte Helmu Kohl vom Freund zum Feind, die deutschen Touristen brauche man künftig nicht mehr in de Türkei, der europäische Ratspräsident Juncker habe nur die Befehle Helmut Kohl ausgeführt, und Deutschland sei der eigentliche Widersacher des Beitritts. Schließlic kam er zu der Erkenntnis, die Türkei müsse lernen, ohne Europa auf eigenen Füßen zu stehen.

Mag er es versuchen. Aus guten Gründen wird man ihm jedoch diesbezüglich in de Türkei selbst widersprechen. Wir sollten uns daran nicht beteiligen oder gar die Zumutungen des abgewiesenen Liebhabers zum Anlaß nehmen, ein schlechtes Gewissen zu bekommen oder gar Canossagänge nach Ankara zu planen. Die Reaktionen de Ex-Ministerpräsidenten Yilmaz sind ebenso unangemessen wie falsch. Es wäre fatal, wollt man schließlich die Rolle des beleidigten Liebhabers, die Yilmaz spielt, mit Erfol krönen. Es gibt keinen Grund für ein schlechtes Gewissen der Europäischen Union ode insbesondere der Deutschen.

Dies gilt auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Wenn sich die amerikanisch Außenpolitik derzeit beflissen an die türkische Linie annähert und die Länder de Europäischen Union ständig ermahnt, die Türkei als Mitglied aufzunehmen, dann sollt nicht übersehen werden, daß dies nur getan wird, weil man damit geostrategisch Interessen Amerikas vertritt. Die Position der USA in der Türkei erklärt sich aus ihre Interesse am Öl im Bereich des Golfes und des Kaspischen Meeres und den israelische Interessen. Infolge der sinkenden Akzeptanz der USA in den arabischen Ländern und de Labilität ihrer Regime erscheint die Türkei als stabiler und verläßlicher Partner.

Den Amerikanern wäre es offenbar auch gleichgültig, ob in der Türkei das Militä und nicht eine Zivilregierung das letzte Wort hat. Von Menschenrechten ganz zu schweigen Hier stimmen europäische und amerikanische Interessen eben nicht überein. Gelasse abwarten bis sich bessere Einsichten durchsetzen, sollte die Devise sein. Die Union ha keine Veranlassung, bestehende Beschlüsse kurzfristig zurückzunehmen. Und eine Verbündeten ist man eine klare Antwort schuldig.

Dabei war mehr oder weniger der Eindruck entstanden: wenn denn nur die Menschenrechtsfrage in der Türkei einigermaßen befriedigend beantwortet werde, sei de Weg für den Beitritt offen. Die Türkei jedoch muß unbeschadet einer mögliche Mitgliedschaft in der Gemeinschaft die Verbesserung der Menschenrechtslage erreichen. Da ist sie sich selbst, den Menschenrechten und vor allem der Gemeinschaft schuldig Zweifellos ist die Einhaltung der Menschenrechte eine wichtige Voraussetzung für de Beitritt eines Landes, aber keineswegs die allein entscheidende Bedingung.

In der Türkei selbst wurde schon die Frage der Aufnahme in die Zollunion und nun die Vollmitgliedschaft als Voraussetzung dafür angesehen, daß nur so der Weg der Türkei in den Fundamentalismus, Islamismus und weg von Europa vermieden werden könne. Indes: Die Krise des Kemalismus (Trennung von Kirche und Staat, Absage somit an islamische Fundamentalismus oder gar "Gottesstaat") in der Türkei ist durch die Mitgliedschaft in der Nato und Zollunion nicht verhindert worden. Auch die Vollmitgliedschaft in der EU würde daran nichts ändern. Die Hoffnung, die Türkei werd durch eine bloße Mitgliedschaft in der Union ihre Probleme lösen, ist ein Irrtum. Da heißt: Die mögliche Mitgliedschaft in der EU darf nicht für den Zwec instrumentalisiert werden, die inneren Probleme der Türkei zu lösen. Nicht die Einbeziehung der Türkei in die Europäische Union wird die Türkei von ihren Probleme befreien, sondern die Türkei muß ihre Probleme selbst lösen, ehe sie Mitglied werde kann. Auch die Vereinigten Staaten sind hier immer noch geneigt, die Dinge auf den Kopf zu stellen. In einer Ausarbeitung des Washingtoner Instituts für Nahost-Politik vom 20 November 1998 heißt es aus der Feder von Alan Makovxky: "Die beste Hoffnung au einen Einfluß der EU auf die Kurdenfrage der Türkei ist die von der EU bishe verweigerte Einbindung der Türkei als Kandidat für die Vollmitgliedschaft und die detaillierte Diskussion seiner Kriterien."

Alldieweil die USA nun Druck auf die Europäische Union ausüben, die Türkei als Vollmitglied aufzunehmen, scheint das Argument jedenfalls dort auf fruchtbaren Bode gefallen zu sein, die Türkei müsse am europäischen Wesen genesen. Das ist äußers bedauerlich und macht deutlich, daß die Nordamerikaner offenbar die Bedeutung des Thema für Europa nicht begreifen. Sie haben offensichtlich wenig Verständnis für die Gefährdung der europäischen Identität durch eine Masseneinwanderung von Muslimen nac Europa. Es ist jedenfalls an der Zeit deutlich zu sagen, daß die Türkei in de Europäischen Union in absehbarer Zeit keinen Platz hat. Die Frage de Beitrittsperspektive ist bereits durch den Assoziierungsvertrag beantwortet. Daran mu sich nichts ändern. Für die absehbare Zukunft spricht alles dafür, mit der Türke zusammenzuarbeiten, sie der EU näher zu bringen, nichts aber spricht dafür, sie als Vollmitglied in die Union aufzunehmen.

Die Gründe sind offenkundig:

1. Eine Aufnahme in die Europäische Union würde über kurz oder lang zu eine Freizügigkeit mit einer millionenfachen Einwanderung von türkischen Muslimen nach Europ führen. Es mag möglich sein, die Freizügigkeit im Vertragstext um einige Jahr hinauszuzögern. Einerseits kann diese Frist nicht zu lang sein, andererseits wird man in der Praxis Einreisende aus einem Mitgliedsland nicht zurückweisen können. Ein millionenfache Zuwanderung müßte die Probleme auf den Arbeitsmärkten massi verstärken. Deshalb ist ein Land mit hohem Bevölkerungswachstum, hoher Arbeitslosigkei und relativ niedrigem Lebensstandard kein geeigneter Beitrittskandidat.

Die negativen Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt werden dadurch verstärkt, daß die türkische Regierung bewußt und gewollt die Instrumentalisierung der in Deutschlan lebenden Türken betreibt. Sowohl im Vorfeld der Bundestagswahlen als auch im Zusammenhan mit dem Öcalan-Konflikt ist dies deutlich geworden. Die türkische Regierung will die in Europa und insbesondere in Deutschland lebenden Türken benutzen, um die deutsch Innenpolitik zu beeinflussen. Das widerspricht eindeutig dem Ziel der Integration. Nur vo diesem Ziele her versteht man auch die Haltung der türkischen Regierung zur Frage de Staatsangehörigkeit. Trotz der Reformen Atatürks ist die Türkei ein islamisches Lan geblieben. Die massive Zuwanderung von Muslimen wäre auch geeignet, die soziale Spannungen in Deutschland und Europa zu erhöhen.

Die Türkei ist heute faktisch ein rein muslimisches Land und insofern homogen. Sie ha sich auf manchmal böse, zuweilen subtil listige Art der Christen und anderer Nichtmuslim in der Türkei entledigt. Ein Beispiel für religiöse Toleranz bietet sie bis heut nicht. Für Europa jedenfalls wäre eine Masseneinwanderung von Muslimen in relativ kurze Zeit eine schwere soziale Herausforderung, die sich Europa nicht zumuten sollte.

2. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derzeit und für absehbare Zeit so desolat daß eine Aufnahme zur Schwächung der Gemeinschaft führen müßte. Die Inflation is seit Jahren erheblich. Sie lag und liegt zwischen 50 und 100 Prozent. Die Privatisierun ist unzulänglich. Der Staat ist hochgradig verschuldet. Die Korruption ist beachtlich Mitglieder der Regierung und der Behörden sind stark involviert.

3. Die Verletzung der Menschenrechte und die ungelöste Kurdenfrage lassen die Türke nicht als geeignetes Mitglied der Europäischen Union erscheinen. Seit Jahrzehnten habe alle Ministerpräsidenten Besserung versprochen und in der Tat minimale Schritt geleistet, die aber allesamt nicht zu einer Lösung des Problems geführt haben. Folter das Verschwindenlassen von Personen unter quasi staatlicher Beteiligung, die Weigerung die Kurden als Volksgruppe mit entsprechen Rechten zur Kenntnis zu nehmen und anderes meh machen die Türkei nach wie vor zum Staat, der es mit den Menschenrechten nich ausreichend ernst meint.

4. Die Türkei sieht sich gern als funktionierende parlamentarische Demokratie, was mi gutem Grund bezweifelt werden darf. Zwar ist der bestimmende Einfluß des Militärs nich klar gesetzlich festgelegt. Aber die Armee hat keinen Zweifel daran gelassen, daß si sich als Wahrer der Staatsdoktrin des Kemalismus versteht und sich zur Wahrung desselbe in die Politik einmischt. Nicht nur die islamistische Regierung von Yilmaz-Vorgänge Erbakan wurde ein Opfer, sondern auch in vielen Entscheidungen konnte die bestimmend Rolle des Nationalen Sicherheitsrates nachgewiesen werden. Man darf sich einer Bemerkun Carl Schmitts erinnern, der gemeint hat: Souverän sei der, der über den Ausnahmezustan verfüge. Dies tut in der Türkei die Armee. Und schon mancher Ministerpräsident ist nac großen Ankündigungen kleinlaut aus dem Nationalen Sicherheitsrat herausgekommen, kurzum Die Rolle des Militärs in der Türkei läßt sich mit den Grundsätzen eine parlamentarischen Demokratie nicht vereinbaren.

5. Durch eine Aufnahme würde sich die Europäische Union zusätzlich mit de Konflikten der Türkei und Griechenlands in der Ägäis und auf Zypern belasten. Beid Länder haben bisher weder Kraft noch Fähigkeit besessen, diese Konflikte zu lösen.

Natürlich kann und sollte es nicht das Ziel der EU sein, die Türkei von Europ fernzuhalten. Tatsächlich haben wir allen Grund zur Zusammenarbeit. Dies drückt sic inzwischen in einer hochgradigen vertraglichen Verflechtung aus. Doch fest steht auch daß eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union auf absehbare Zei weder möglich noch wünschenswert erscheint. Von all dem ist die Frage de Nato-Mitgliedschaft nicht berührt. Allerdings ist auch hier die veränderte Ausgangslag zu beachten. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Bedeutung der Türkei für die Sicherheit Europas erheblich gesunken. Die Türkei selber begreift ihre geostrategisch Rolle zunehmend als Brücke zwischen Europa und Zentralasien sowie dem Nahen Osten. Sei dem Ende der Sowjetunion bemüht sie sich sehr darum, für die Turkstaaten ein Fördere und Partner zu sein. In diesem "eurasischen" Bemühen sollten wir die Türke durchaus fördern. Der türkische Außenminister Cem hat in einer Rede am 1. Dezember 199 vor der WEU in Paris ausdrücklich auf diese neue Funktion der Türkei in de Außenpolitik hingewiesen.

Diese Funktion setzt eine Vollmitgliedschaft in der Union aber nicht voraus. Vielleich würde diese Rolle durch eine Vollmitgliedschaft sogar eher behindert. Eine solch Brückenfunktion würde auch der geographischen und gesellschaftlichen Situation de Türkei entsprechen. Die türkische Gesellschaft, die seit Atatürk von dem manchmal scho hysterischen Bemühen gekennzeichnet ist, ein Teil Europas zu werden oder zu sein, ist in ihrer ganzen Tradition viel stärker in Asien verhaftet als ihr möglicherweise lieb ist Sie ist faktisch ein "eurasischer" Staat. Diese Rolle sollte die Türke annehmen, weil sie in ihrem wie in unserem Interesse liegt.

Heinrich Lummer (CDU), Diplompolitologe, war von 1981 bis 1986 Berliner Innensenato und saß von 1987 bis 1998 im Bundestag.


 
     
     
 
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