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In kaum einem anderen Bereich ist der Grad dessen, was "sagbar" ist, so eng gesteckt wie in der sogenannten "jüngeren Zeitgeschichte", worunter insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus verstanden wird. Wer hier bestimmte Grenzen überschreitet, wie beispielsweise der Historiker Ernst Nolte im sogenannten "Historikerstreit ", darf sich der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgrenzung sicher sein.
Im Laufe der Jahrzehnte sind allerdings die Grenzen dessen, was "bewältigungshistorisch" als erwünscht gilt, immer enger gezogen worden. Analog dazu werden den Deutschen immer neue Wellen der "Aufarbeitung" zugemutet, die im Endeffekt darauf abzielen, das Band zwischen den Generationen zu zerstören. Ob nun die Goldhagen-Debatte oder die sogenannte "Wehrmachtsausstellung" der Herren Reemstma und Heer: beide "Diskurse" verfolgen den Zweck, die Kriegs- und Wiederaufbau-Generation zu dämonisieren. Zum anderen befördern sie die Entfremdung der Deutschen von sich selbst.
Diese Entfremdung geht inzwischen sogar so weit, daß bezüglich der furchtbaren Leiden auch der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg eine Art "Klageverbot" herrscht. Ein Verfemter unserer Tage, der Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg, hat für die Austreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten folgende Worte gefunden: "Die Stätten der Kultur wurden zerstört, und niemand durfte weinen. Stoff für Jahrhunderte eines Homer, der Ilias und Äneis." Eine Hekuba, die dieses Leid beklagen könnte, ist im heutigen Deutschland weit und breit nicht zu sehen und auch nicht erwünscht. "Wehe dem Volk aber", um noch einmal Syberberg heranzuziehen, "das ohnmächtig verkommt in der Unfähigkeit musealer Erinnerungspflege und aufklärerischer Institute, vertrocknet und eingeschüchtert in eine verstümmelnde Technik, die nur noch vorne Flucht zuläßt, nicht abzutragen, was das Recht wäre jeder Geschichte, die zur Kultur wird."
Den heutigen Deutschen ist jedes Bewußtsein für das Verhängnis, das sie 1945 und danach ereilte, gänzlich abhanden gekommen. Jede Erinnerung an ihre Tragödie wird von interessierten Kreisen als "Revanchismus" und "Aufrechnung" abgekanzelt. Dabei sollte, so schreibt der Autor der hier anzuzeigenden kleinen Schrift "Die Vertreibung der Deutschen aus Breslau und Königsberg im Wandel deutscher und amerikanischer Nachschlagewerke 1951 bis 1997", Professor Helmut Sauer, die Erinnerung "an die deutsche Vergangenheit der
Ostgebiete
unser aller moralische Verpflichtung bleiben".
Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, daß sich die verwirrten Deutschen von heute moralisch auf alles mögliche verpflichten lassen, nicht aber auf die Pflege der Erinnerung an die Leiden des eigenen Volkes. Um so verdienstvoller ist die Arbeit, die Sauer nun vorgelegt hat. Er hat sich in seiner Untersuchung insbesondere der "Deutschen aus Königsberg und Breslau im Wandel" der Umerzieherzeit gewidmet und kommt zu dem Ergebnis, daß die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in den Jahren 1945 bis 1947 in diesen Nachschlagewerken zunehmend weniger Niederschlag findet. Heute wird über dieses Verbrechen in diesen Werken in der Regel mit Stillschweigen hinweggegangen.
Sauer sieht insbesondere seit den 70er Jahren Berührungsängste vor Begriffen, "die auch nur bescheiden nationales Denken ausdrücken". Begriffe wie "Volk" und "Deutschland" seien durch "Gesellschaft" und "Republik" ersetzt worden. Sauer terminiert diesen "Paradigmenwechsel" in Deutschland durchaus richtig, setzten sich doch in dieser Zeit bestimmte sozialwissenschaftliche Methoden, transportiert durch die sogenannte 68er-Generation, in ganzer Breite durch. Diese haben mit ihrer Begrifflichkeit auch ihre gesellschaftspolitischen Ambitionen durchgesetzt. Der Soziologe Friedrich Tenbruck hat diesen methodischen Ansatz wie folgt charakterisiert: "Wo die Erfindung der Gesellschaft zur Matrix der Daseinsdeutung wird, da sinken konkrete Entitäten wie Volk, Nation, Ehe, Familie u.ä. als bloße Befangenheiten in das Nichts, aus dem am Ende der verzweifelte Ruf nach der eigenen Identität ertönt, dem die Wirklichkeit nicht mehr antworten kann, weil sie ... den Blick nur noch auf jene Tatsachen fallen läßt, die im Sinne der Soziologie als ,gesellschaftliche gelten dürfen."
Mehr und mehr sind die Deutschen heute auf der Suche nach ihrer Identität. Wie können sie diese aber finden, wenn z. B. westdeutsche Lexika und Enzyklopädia und dies weist Sauer minutiös nach augenscheinlich systematisch die Vertreibung der Deutschen aus den Nachschlagewerken entfernen. Als Beispiel führt Sauer u. a. die Stichwörter "Breslau" und "Königsberg" in den verschiedenen Ausgaben des "Großen Brockhauses" seit den 50er Jahren an.
War in der Brockhaus-Ausgabe aus dem Jahre 1953 unter dem Stichwort Breslau noch davon die Rede, daß "die gesamte deutsche Bevölkerung nach 1945 vertrieben und durch mittel- und ostpolnische Bevölkerung, die zum Teil zwangsumgesiedelt wurde, ersetzt" wurde, fehlt dieser Passus in der Brockhaus-Ausgabe von 1978 ganz!
Ähnlich wurde in der "Brockhaus-Enzyklopädie" verfahren. Doch nicht nur die Vertreibung der Deutschen findet seit den 70er Jahren keinen Niederschlag mehr, sondern auch das Wort "deutsch", das konsequent gemieden wird. Ein ähnliches Bild bieten die Nachschlagewerke von Herder, Duden, Knaur, Harenberg und Meyer. Noch krasser fällt das Bild in englischsprachigen Nachschlagewerken aus, in denen sich zudem feststellen läßt, daß sie zumeist wesentliche Geschichtsklitterungen der polnischen Propaganda übernommen haben, die die deutschen Ostgebiete als von jeher polnisch für sich reklamierte und die deutsche Geschichte Schlesiens und Breslaus tabuisiert hat. Konsequent sprechen die Polen daher von den "wiedergewonnenen Westgebieten". Daran ändern auch die vagen Korrekturmaßnahmen nichts, die die Polen seit der "Wende" 1989/90 vornehmen. Den Protesten Sauers ist es im übrigen zu verdanken, daß die gröbsten Geschichtslügen, die sich in den englischsprachigen Nachschlagewerken finden, zumindestens zum Teil korrigiert worden sind.
Im Falle von Königsberg, das bekanntlich durch den Deutschen Ritterorden gegründet wurde, kommt Sauer zu einem ähnlichen Ergebnis. Wenn auch hier die deutsch geprägte Stadtgeschichte nicht ohne weiteres übergangen werden kann, so läßt sich doch feststellen, daß auch im Falle Königsbergs das Leiden und die Vertreibung der Deutschen konsequent übergangen werden. Auch die deutschen Kulturleistungen werden seit den 70er Jahren in der Regel ausgespart oder in ihrer Bedeutung verkleinert. Das gleiche Bild findet sich, analog zu den Ausführungen über Breslau, in den englischsprachigen Nachschlagewerken.
Sauer kommt daher zu dem Schluß: "Das Verschweigen, das Weglassen, das Nicht-direkt-Erwähnen des schrecklichen Vorgangs der Vertreibung der gesamten Bevölkerung des deutschen Ostens, für den hier exemplarisch die Breslauer und die Königsberger stehen, eines Geschehens, das die Kriterien eines Völkermordes erfüllt, ist eine dramatische Verfälschung der Geschichte." Dies ist ein Schlag ins Gesicht für alle Überlebenden, für die es das Wichtigste ist, daß ihr Schicksal zur Kenntnis und ernst genommen wird. Diese leiden erneut, so Sauer, wenn man "über ihr Schicksal einfach hinweggeht oder es gar mit einem Tabu belegt".
Die "Kulturoffiziere des westdeutschen Sonderbewußtseins", wie sie der Publizist Ulrich Schacht einmal nannte, erklären das deutsche Leid für gerechtfertigt, da es die Folge eines mißlungenen Eroberungskrieges gewesen sei. Ein moralisches Urteil aber, so Schacht, "das den Angeklagten zu einem menschenunwürdigen Dasein verurteilt, also zu einem Dasein, das den Menschenwert des Verurteilten schmälert, statt ihn zu vergrößern, ... hat sich selbst seine Existenzberechtigung entzogen".
Das Buch von Helmut Sauer ist ein notwendiger Protest gegen den selektiven Humanismus unserer Tage, ein Protest gegen den Haß gegen Deutschland und alles Deutsche. Er hat auf den Zugriff der Geschichtsklitterer auf eines der zentralen Themen unseres Jahrhunderts aufmerksam gemacht und daran erinnert, daß die Patria da ist, wo die Gräber der Väter sind. Stefan Gellner
(Helmut Sauer: Die Vertreibung der Deutschen aus Breslau und Königsberg im Wandel deutscher und amerikanischer Nachschlagewerke 1951 bis 1997, Hrsg. Vereinigung Angehöriger der Gerhart-Hauptmann-Oberrealschule Breslau. Dr. Albrecht Zappel, Paul-Klee-Straße 65, 51375 Leverkusen. Heft 13, 63 S., Leverkusen 1997)
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