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Wie sehen die Russen vor Ort ihre Zukunft?

 
     
 
Schon seit Monaten erhitzt die Frage nach der Zukunft des Königsberger Gebietes die Gemüter in Ost und West. Wird Königsberg der Europäischen Union beitreten oder der Bundesrepublik Deutschland angegliedert? Werden Litauen und Polen in die EU aufgenommen? Was wird die EU unternehmen? Wird das Gebiet sich abschotten, indem es einen eisernen Vorhang errichtet oder könnte es gar sein, daß Rußland seine Bürger zufriedenstellt, damit sie weniger aufbegehren? Bei allen Gesprächen über geopolitische und staatliche Interessen hat sich bisher jedoch kaum jemand um die Gefühle und Ansichten der Einwohner gekümmert.

Diesem Defizit ist die in Berlin erscheinende Zeitung "Russkaja Germania" (Russisches Deutschland
) nachgegangen, indem sie in einem Artikel verschiedenen Meinungen von Bürgern des Gebiets Gehör schenkte.

"Ich lebe seit 32 Jahren hier", erzählt beispielsweise Alexander Nikolajewitsch, ein Major a.D. "Aber bis heute fühle ich mich nur als Gast. Schon mein Großvater hat mir vorausgesagt: ,Laß Dich nicht auf fremdem Boden nieder, Enkel, der Hausherr wird zu-rückommen.‘ Als die Polizei einmal einen Betrunkenen angehalten hat, einen Deutschen, wie sich herausstellte, legte der dann los: ,Das ist unser Land! Und wir werden es zurücknehmen! Und Ihr russischen Schweine könnt froh sein, wenn Ihr das Pflaster blankputzen dürft! In was habt Ihr die Stadt verwandelt, Ihr Schurken!‘ Eines Abends wirst du Dich schlafen legen und am nächsten Tag in einem anderen Land aufwachen. Mit den Deutschen kämpfen werde ich nicht – ihnen gehört hier eh alles. Es wäre nur gut, wenn sie uns 24 Stunden zur Räumung ließen, so wie wir ihnen. Aber wenn sie uns nur zwölf Stunden lassen?"

An Ostdeutschland mit seiner Hauptstadt Königsberg hat niemand der heute hier Lebenden eine persönliche Erinnerung. Die Rote Armee hat dieses Gebiet im Jahr 1945 erobert. Seine Bewohner wurden deportiert, die Städte umbenannt und mit Umsiedlern aufgefüllt.

Galina Dmitriewa, Juristin des örtlichen Unternehmerverbandes, ist alteingesessen. Die Eltern brachten sie gleich nach dem Krieg als kleines Mädchen von Moskau hierher. Zur Arbeit fährt sie mit einem grünen Mercedes 230, der ihr gut zu Gesicht steht. "Die Stadt ist wirklich verdorben worden", sagt sie. "Wenn man nur die Kutusowskij-Straße nimmt. Häuser wie die früheren deutschen sieht man hier nicht mehr. Als die Deutschen noch nicht ausgesiedelt waren, war hier alles wunderschön. Statt die alten Gebäude wie die Universität oder das Königsschloß zu renovieren, wurden sie zerstört. Statt dessen wurden Klötze aufgestellt. Erst seit fünf Jahren entstehen wieder normale Gebäude – die neuen Russen lieben den deutschen Stil".

Eine Exklave ist nun ein- mal eine Exklave. "Nach Rußland", sa-gen die Bewohner Königsbergs, "kommst Du von hier aus seltener als ins Ausland." Viele Schüler des Gebiets waren schon in Litauen, Polen und Deutschland, aber noch kein einziges Mal in der Hauptstadt. Patriotisch gesinnte Eltern sparen Geld, um ihren Kindern einmal Moskau zu zeigen. An europäische Sehenswürdigkeiten gewöhnt, kehren die Kinder von Moskau oft schockiert zurück. Ein kluger Siebtkläßler schildert seine Eindrücke von der Basilius-Kathedrale mit folgenden Worten: "Ich dachte, ich wär in Istanbul." Diese Reaktion ist ganz typisch. Selbst 13jährige bestrachten das übrige Rußland oft als ein Land fremder Kultur. Exotisch und fremd.

Um nach Litauen oder Polen zu reisen, brauchen die Einheimischen bloß einen Voucher (Reisegutschein) zu kaufen. Besonde- re Nachbarschaftsvergünstigungen gibt es nur für dieses Gebiet. Und deshalb reisen die Königsberger halt zu den Nachbarn – sie sind ja auch näher und günstiger. Hier kann man Einkäufe machen und sich vergnügen.

Auch die Übersiedler, die aus Krisengebieten nach Königsberg gekommen sind, kämpfen mit Problemen. Im Jahre 1992 kamen beispielsweise russische Flüchtlinge aus Duschanbe nach Labiau. Die russischen Einwanderungsbehörden versprachen ihnen in Labiau Wohnungen und Arbeit. Statt dessen erwarteten die Flüchtlinge jedoch ärmliche Waggons. Um ihre Probleme mußten sie sich selber kümmern. Um dem entgegenzuwirken, wurde die soziale Organisation "Hoffnung" gegründet, die für acht Jahre vom Staat den Rohbau einer Schuhfabrik als Wohngebäude zur Verfügung gestellt bekam sowie eine Zusage vom Ministerium für Einwanderungsfragen über die Vergabe von 280 000 Rubeln für die Fertigstellung der Wohnungen. Das Geld wurde jedoch bis heute nicht überwiesen.

Der Westen half der Organisation "Hoffnung" weiter: 8000 US-Dollar kamen von Ford, 20 000 von der Uno, das Deutsche Rote Kreuz kaufte für 100 000 Dollar Baumaterialien und versorgte die Organisation fünf Jahre lang großzügig mit humanitärer Hilfe. Auf diese Weise "zähmt" West-Europa ganz vorsichtig die Königsberger und bleibt dabei äußerst korrekt und beansprucht nicht einen Quadratzentimeter Territorium der Russischen Föderation. Daran wird sich auch nach dem Eintritt Litauens und Polens in die EU nichts ändern. Mit der Einführung der neuen Steuergesetzgebung wurde die Freihandelszone, die per Gesetz 1996 eingeführt worden war, faktisch aufgehoben. Die Folgen zeigten sich bereits in den ersten Januartagen: Die Einnahmen des Gebietsbudgets gingen um das Fünffache zurück. 20 große Außenhandelsunternehmen mußten aufgeben. Der Gouverneur Wladimir Jegorow reiste zwar nach Moskau, um einen Aufschub der neuen Steuergesetze zu erwirken, doch war ihm der Vorsitzende der Baltischen Republikanischen Partei, Sergej Pasko, bereits zuvorgekommen. Er hatte die Anordnung des staatlichen Zollkomitees schon vor dem Zentralgericht Königsbergs angefochten.

Erklärtes Ziel Paskos und seiner Partei ist die Gründung einer autonomen Baltischen Republik. Als Bestandteil Rußlands, aber mit internationalem Recht versehen. "Damit wir selbst mit der EU verhandeln können", sagt Sergej Pasko, "auch deshalb, weil wir Europa, im Gegensatz zur Russischen Föderation, nichts schulden und das bedeutet, daß unsere Position bei solchen Verhandlungen einfacher wäre."

Auf den ersten Blick erscheint Paskos Idee tollkühn, zumal seine Partei nicht mal in der Gebietsduma vertreten ist. Dennoch gibt es, Pasko zufolge, Abgeordnete, die seine Ansichten teilen. Es gelang ihnen auch schon, zwei ihrer Leute auf Vorstandsposten in der Verwaltung zu plazieren. Darüber hinaus ist Pasko in der Stadt ein bekannter und geachteter Mann, den man ernst nimmt und nicht für verrückt hält. Sergej Pasko träumt von einem Referendum, in dem die Bürger für eine Verbesserung des Gebietsstatus eintreten. Das heißt für eine Annäherung an Europa, auch wenn damit die Beziehung zur Hauptstadt Schaden nehmen könnte. Zur Zeit fördern sowohl einige Philanthropen als auch die Gleichgültigkeit der Regierung Paskos Ideen. Pasko verfaßt derweil schon eine Hymne für die zukünftige Republik. Zwei Zeilen sind bereits fertig: "Wir sind das Volk auf unserer Erde./Das Bernsteinland ist unsere Heimat und unser Haus…" Weiter ist er noch nicht gekommen, aber die Musik hat er schon ausgewählt: "Torero" von Bizet. "Bei dem jungen Volk muß auch die Hymne kämpferisch, ja sogar aggressiv sein", meint Sergej Pasko.

Als Separatist gilt der 30jährige Jurij Nutschajew. Er ist kein Politiker, sondern Designer. Die Ideen Paskos sind ihm nicht mutig genug. "Wozu", sagt er, "sollte man sich irgendeine künstliche Baltische Republik ausdenken, lieber sollte man Ostdeutschland wieder auferstehen lassen." Nutschajew ist Herausgeber eines luxuriösen Internet-Journals, in dem histori-sches Infor- mationsmaterial angeboten werden, Literatur, seltene Fotos zerstörter Königsberger Schlösser und sogar Videoclips aus Kinofilmarchiven. "Die Leute meinen", sagt Jurij, "man könne das ganze Leben lang zwischen zwei Stühlen sitzen. Angenommen, der Westen gäbe uns Visafreiheit, versorgte uns mit humanitärer Hilfe, Rußland würde Steuervergünstigungen einführen, und wir würden anfangen, Kriegsmarineparaden wieder zu lieben – ich möchte das Bewußtsein der Bevölkerung schärfen. Und für den Anfang – der Stadt ihren echten Namen zurückgeben." Jurij ist selbstironisch und intelligent. Das einzige Anstößige für Russen ist, daß er die Wehrmachtsoldaten, die Königsberg verteidigt hatten, als "unsere" bezeichnet.

Wieviele Militärangehörige es im Gebiet gibt, ist nicht ganz geklärt. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge müßten es zwischen 40 000 und 80 000 sein. Ein Marineoffizier in Labiau unterhält sich mit einem kurzsichtigen Zeitungsverkäufer. "Wir werden hier verraten", sagt er böse. "In fünf Jahren wird es im Gebiet keine Flotte mehr geben. Ja und heute schon ist diese Flotte wie eine zerklüftete Truppe. Du dienst und weißt nicht, ob du Rußland verteidigst oder wen sonst noch. Die Situation in Königsberg ist komplizierter als in Tschetschenien. Mein Gott, in Tschetschenien habe ich mich ja erholt. Dort wurde nichts groß unterteilt, alles war klar, den Brüdern konntest du vertrauen, Du wußtest, wer für was steht. Das Übel nimmt überhand. Unsere Väter haben ihr Blut vergossen, und wir finden nicht mal alte Weiber, um dieses Land zu halten."

 
     
     
 
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