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Auch die Nötigung hat nicht gefehlt

 
     
 
Wer weiß, wie schmal das Wissen der jüngeren Generation über Ostdeutschland ist, kann ermessen, wie wichtig Unterricht aus eigener Anschauung ist. Seit einigen Jahren gibt es einen Schüleraustausch zwischen einer Schule im hessischen Wollenberg und der Mittelschule in Tapiau. Elf 12 bis 15jährige Schülerinnen und Schüler, zwei Lehrerinnen, eine ehemalige Kollegin, vier Mütter und ein Vater haben so vor einiger Zeit erneut Tapiau besucht. Die ganze Schulgemeinde wird repräsentiert. Zwei Kinder und eine Mutter sind deutsch- und russischsprachig. Alle haben einige Begrüßungsworte, Alltagswörter und das russische Alphabet in Vorbereitungskurse
n gelernt. Geographie- und Geschichtskenntnisse wurden altersentsprechend vermittelt.

Eva-Maria Müller aus Tapiau, frühere stellvertretende Schulleiterin der Wollenberg-Schule im hessischen Wetter, die den Austausch zwischen den beiden Schulen seit 1992 initiiert hatte, berichtete als Zeitzeugin von den Wirren des Krieges und dessen Folgen, von Vertreibung und Flucht und der ersten Rückkehr in ihre Heimat Ostdeutschland und nach Tapiau. Nach der Öffnung des Königsberger Gebiets für Besucher aus der Bundesrepublik nach 1990, weiter von ersten Kontakten zu "1. Mittelschule" in Tapiau, Frau Müllers ehemaliger Schule, mit ihrer jetzigen Leiterin Frau Anna Anikina, einer tatkräftigen Frau. Für die deutsch-russische Verständigung der jungen Generation einzutreten, wurde die erklärte Aufgabe beider Frauen.

So wurde ein Schüleraustausch der beiden Schulen angeregt, dem unser Schulleiter, Herr Fokken, gerne zustimmte und der die anfänglich sehr schwierige Organisation übernahm, unterstützt von Kollegen, dem Landkreis Marburg-Biedenkopf, der Kreisgemeinschaft Wehlau und vielen anderen Mithelfern.

Im Herbst 1993 fand die erste Fahrt statt, mittlerweile war es unsere vierte Fahrt. Die russischen Gruppen kamen regelmäßig zum Gegenbesuch.

Nachdem die letzte Hürde am 12. September 2000 genommen war – die Pässe und Visa wurden vorsichtshalber persönlich in Berlin am Konsulat abgeholt – fuhren wir am Donnerstagmittag von Wetter beziehungsweise von Marburg mit der Bahn nach Frankfurt am Main, weiter mit dem preisgünstigeren Linienbus der Firma von Rahden über Berlin, Frankfurt an der Oder, Heiligenbeil nach Königsberg, wo uns der Schulbus aus Tapiau abholte. In der Schule angekommen, wurden wir freundlich empfangen und erhielten in der Schule ein Frühstück. Ab jetzt galt die Devise, die schon früher in Ostdeutschland galt: "Das Beste hat nicht gefehlt – die Nötigung" …zum herzhaften Zugreifen bei leckeren Speisen. Unsere Gastgeber brachten uns nach Hause, wo wir uns erst einmal ausruhen durften, bevor am Samstag das umfangreiche Programm begann, das ich zunächst in Stichpunkten skizzieren möchte.

Samstag: Stadtführung durch Tapiau durch Frau Maria, zum Jugendklub im ehemaligen Rathaus mit Räumen zum Basteln, Werken, Handarbeiten, Musizieren; ein kleiner Raum zur Geschichte Tapiaus mit Exponaten zu Lovis Corinth und Mollenhauer. Ausstellungseröffnung eines bekannten Naturmalers aus Königsberg. Sportfest mit Wettbewerben für deutsche und russische Schüler.

Am Sonntag fuhren fünf Erwachsene nach Neuhausen, Kreis Samland zu einem Herbstfest. Folkloregruppen traten auf; wir erlebten eine nachgespielte russische Hochzeit mit, die dortige private Musikschule, die die Schüler drei bis viermal wöchentlich besuchen, zeigte ihr Können mit Geigen-, Balalaika-, Saxophon-Ensembles, mit Gesang und Tanz. Draußen trafen wir unerwartet auf den damaligen Gouverneur des Königsberger Gebietes, Leonid Gorbenko, dem wir kurz über unsere Schulpartnerschaft berichteten und der uns ein Autogramm gab – Wahlkampfreise für die im November anstehenden Neuwahlen zur Duma und zum "Gubernator".

Montag: Hospitationen in der Schule, anschließend Empfang beim Stellvertreter des Bürgermeisters Herrn Tschaplew. Er berichtete über das Land, die Wirtschaft, die Erdölförderung in Tapiau, aber verschwieg auch Probleme nicht, wie den dringend nötigen Straßenbau und die sanierungsbedürftigen Wasser- und Abwasserkanäle.

Nach dem Mittagessen in der Schule wurden wir in der Aula in Spiele einbezogen und hörten auch deutsche Gedicht- und Liedvorträge. Bei einem Quiz Berlin–Moskau kam es auf die schnellste Reaktion der russischen und der deutschen Gruppe an.

Am Dienstag war mit der Exkursion nach Königsberg ein erster Höhepunkt unserer Reise gekommen. Ein Besuch der Duma, des Parlaments des Königsberger Gebiets, war angesagt. Daß aber Reporterteams von zwei russischen Fernsehanstalten und der örtlichen Tageszeitung "Kaliningradskaja Prawda" anwesend waren, um mehr über unseren Austausch zu erfahren, war die größte Überraschung. Herr Bagalin ist Abgeordneter aus Tapiau, war selbst Schüler dort und schickt seine Kinder auch dort zur Schule. Er ist am Geschick der Schule wie am Austausch sehr interessiert. Zusammen mit dem Präsidenten der Duma, Walerij Ustjugow und Herrn Tulajew standen sie unseren Fragen zur Verfügung. Am Abend um 19 und 21 Uhr konnten wir die Reportage über uns in den Nachrichtensendern sehen, am Radio hören und später auf der Titelseite der "Kaliningradskaja Prawda" und des Tapiauer Blattes lesen. Viel gefragt waren die zweisprachigen Kenntnisse unserer Mitreisenden und die Übersetzungsarbeit der Deutschlehrerin Vera Ochritschenka!

Am frühen Mittag kamen wir in das deutsch-russische Haus zu einem Vortrag des neuen Direktors, Herrn Dr. Sergej Henke. Dort ist eine deutsch-russische Begegnungsstätte mit Sprachkursen in Deutsch und Englisch. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit ist die Ausbildung in 16 handwerklichen Berufen, eine wertvolle Hilfe für den Aufbau des Landes. Auch Vorträge zur Geschichte vor 1945 seien sehr gefragt, da junge Menschen diese Zeit in ihre Identität einbezögen, unbelastet von quälenden Erinnerungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Welch ein Fortschritt zu unseren ersten Kontakten mit den Lehrerinnen der Schule in Tapiau, die überhaupt nicht über diese Zeit informiert waren! Vor allem die Jugend habe heute eine genauere Vorstellung über das europäische Ausland als noch vor wenigen Jahren. Das Königsberger Gebiet ist heute Sonderwirtschaftszone, das heißt es gewährt bei Weiterverarbeitung von Produkten in diesem Gebiet zollfreien Export in das russische Mutterland. Diese Vorteile werden offensichtlich von vielen ausländischen Firmen, auch deutschen wie BMW, genutzt. Welchen Status das Gebiet im künftigen Europa einmal haben werde, könne nicht vorhergesagt werden. Noch hemmen aber Einschränkungen des Privateigentums die Investitionen, lassen Kapital in sicherere Länder abfließen. Rechtssicherheit fehle mancherorts, doch lasse das neue Steuergesetz vom 1. Januar 2001 hoffen.

Herr Dr. Henke zeigte sich erstaunt, daß es trotz widriger äußerer Verhältnisse ein überaus reiches kulturelles Leben in Rußland gebe. Von diesem reichen Traditionsschatz durften wir auch viele Kostproben genießen.

Bei herrlichem klaren Septemberwetter führte uns ein Rundgang zum ehemaligen Friedhof, der Kirchturmruine, zum Friedhof der 1945 gefallenen russischen Soldaten. Wir besuchten die biblische Unterweisung einer evangelischen Gemeinschaft am Ort, die auch von Deutschen geistig und materiell mitgetragen wird. Natürlich ging der Tag meist mit Privateinladungen für Kinder und Erwachsene weiter, wo für uns die Köstlichkeiten der russischen Küche zubereitet wurden und die Abende nie ohne viel Erzählen und Singen vergingen. Die russische Gastfreundschaft ist von tiefer Herzlichkeit.

Kein Wölkchen schien am Himmel, als wir am Donnerstag zur Kurischen Nehrung aufbrachen, an Cranz vorbei über die alte Poststraße zu den Schönheiten des Nationalparks. Bei einer Rückschau der Schüler vor der Abreise kam zum Ausdruck, daß diese grandiose Dünenlandschaft den tiefsten Eindruck hinterlassen hatte.

Für die Besichtigung der Vogelwarte Rossitten war es die richtige Jahreszeit. Kohl- und Schwanzmeisen, ein kleiner Buntspecht, ein Goldhähnchen und eine junge Waldohreule hatten sich auf ihrem Zug nach Süden in den Netzen verfangen. Zu Beginn des 20. Jahrhunders hatte der Deutsche Tienemann dort zur Erforschung des Vogelzugs eine Vogelwarte gegründet. Dies und viele andere Einzelheiten hatten wir zuvor bei unserem Rundgang durch das Nehrungsmuseum bereits erfahren. Ein Biologe bestimmte auf der Station die Vögel, registrierte und beringte sie in wenigen Sekunden. Viele tausend Vögel können in der Vogelzugzeit im Herbst oder im Frühjahr, wenn die Richtung der Netze umgedreht wird, gefangen werden.

Den Freitag verbrachten wir zunächst mit dem Einüben unserer Gesangsvorträge durch Frau Eller-Lüers. Der Tag des Lehrers wurde von der gesamten Schulgemeinde festlich begangen. Morgens war die Schule bereits überreich mit Blumen geschmückt, alle trugen ihre Sonntagskleidung. Während die Schüler nach dem Konzert eine Disco in der Aula veranstalteten, wurden die Erwachsenen zu einem meterlangen Büffet mit selbstzubereiteten Salaten und Speisen, Getränken und Musik eingeladen.

Während dieses besonderen Festtages für die Lehrer dachte ich an eine Passage aus einem russischen Englisch-Lehrbuch für ältere Schüler "I want to become a teacher because it is a very noble profession … They want us to grow up to honest and cultivated people." (Ich möchte Lehrer werden, weil das ein sehr würdiger Beruf ist … Sie wollen uns zu ehrlichen und kultivierten Menschen erziehen.) – Einen ähnlichen Satz würde man in einem deutschen Lehrbuch suchen. Allerdings werden zur Zeit der Lehrer- und Arztberuf nur mit knappen Löhnen honoriert. Verdient ein Lehrer 1000 Rubel, bringt es ein Angestellter in der öffentlichen Verwaltung auf ein Mehrfaches. Würden die Gärten nicht die tägliche Versorgung sichern, wäre das Überleben nicht möglich. Das Gehalt kommt aber jetzt pünktlich.

Auch am Sonntag waren Gastgeber und Gäste den ganzen Tag zusammen. Unsere Traumreise hatte einen weiteren Höhepunkt für uns bereit: das Gestüt in Georgenburg mit seinen schätzungsweise zwanzig Hengsten und seiner Herde aus Stuten und Fohlen, danach das Reitturnier in Insterburg auf dem mit herbstlich verfärbten Bäumen umgebenen Reitplatz. Kapellen spielten auf. Ein weiteres Mal sahen wir den Gouverneur. An Ständen wurden gefüllte Teigtaschen, Piroggen, angeboten, Schaschlik, Süßes und Getränke verkauft. Hier wurden wir vom Ehemann der Schulleiterin mit einem Picknick überrascht. In der katholischen Kirche von Insterburg hatten wir die Gelegenheit, bei einer Chorprobe eines Chors aus Tilsit zuzuhören.

Von Montagnachmittag bis zum -abend feierten wir mit musikalischen Vorträgen der Oberstufenschüler und einiger Lehrer unseren bevorstehenden Abschied. Am Dienstag war unser Aufenthalt dort beendet. Mit Tränen in den Augen sagten wir "Doswidanja" und "boschoj spasiba". Wir freuen uns auf den Gegenbesuch Anfang August zu Ende der Sommerferien und in der ersten Schulwoche.

Kritisch gesehen werden muß derzeit noch die Wohnungssituation, obwohl einzelne Wohnungen für zehn- bis zwanzigtausend US-Dollar gekauft werden und nach Weststandard ausgebaut werden. Möbel und sanitäre Einrichtungen können mittlerweile in allen Preislagen gekauft werden. Die Straßen in Goldbach und Tapiau haben tiefe Schlaglöcher. Der stellvertretende Bürgermeister von Tapiau hat Kanalisation und Straßenbau als vordringlich bezeichnet. Es ist zu hoffen, daß auch für die Denkmalpflege Geld zur Verfügung gestellt werden kann.

Beeindruckend waren die Unterrichtsstunden. An der Schule wird in einer Vormittagsschicht und einer Nachmittagsschicht bis 18 Uhr, am Samstag bis 16 Uhr gearbeitet, damit alle etwa achthundert Kinder versorgt werden können. Deutsch und Englisch werden jetzt ab der 2. Klasse unterrichtet, wobei die Schüler sich für eine der beiden Sprachen entscheiden. So umfassen die Sprachgruppen etwa 8 bis 15 Schüler. Bei drei Wochenstunden in den höheren Klassen wird bald ein hohes Niveau erreicht. Lehrbücher und Arbeitshefte für den Fremdsprachenunterricht werden von den Eltern gekauft, allerdings hilft die Schule in Sozialfällen. Zweitklässler kennen sich bereits in klassischer Musik aus, unterscheiden nach wenigen Takten Liszt von Chopin oder Dvorak, kennen die Lebensläufe von Komponisten. Privater Musikunterricht ist stark nachgefragt.

Es gibt in Rußland einen zentralen Lehrplan, dessen Einhaltung durch die Schulleitung und die Schulaufsicht überprüft wird. Ein Dutzend Unterrichtsbesuche muß jeder Lehrer akzepieren, alle fünf Jahre muß er in einer schriftlichen Arbeit dokumentieren, wie er die neuesten Methoden in die Praxis umsetzt.

Wettbewerbe und Olympiaden gibt es in vielen Fächern. Eine Schülerin aus einer Englischgruppe wurde für ein Stipendium an einem College in den USA ausgewählt, ein Schüler wurde Zweiter. Dreißig Stipendien wurden in ganz Rußland vergeben.

Gedächtnisschulung durch Auswendiglernen ist eine bevorzugte Methode in allen Fächern. Viele junge Leute sind gut ausgebildet und hochmotiviert. Wer die Schule mit 17 Jahren nach elf Schuljahren verläßt, ist studierfähig und kann bei entsprechender Begabung nach wenigen Jahren sein Examen an der Universität ablegen. Es ist zu hoffen, daß junge Fremdsprachenlehrer ihr Wissen nicht nur in der besser zahlenden Wirtschaft zur Verfügung stellen, sondern bei höheren Gehältern auch an Schüler weitergeben. Nicht vergessen werden soll auch, daß die Kreisgemeinschaft Wehlau diesen Schüleraustausch mit 500 Mark pro Jahr unterstützt. Eine Hilfe, die sinnvoller kaum angelegt werden könnte, festigt sie doch das Bewußtsein der nachfolgenden Generation für Ostdeutschland.

 
     
     
 
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