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Die Reise ist ganz einfach: Man steigt in Berlin-Lichtenberg, das Visum in der Brieftasche, in den Nachtzug nach Polen und kommt 18 Stunden später in Königsberg an. Nur, daß die Reise heute viel länger dauert als vor 1945, weil der Kurswagen in die Hauptstadt Ostdeutschlands im westpreußischen Dirschau vom Zug abgehängt wird und dann stundenlang auf den Schienen steht, bis er von einem anderen Zug mitgenommen wird, und weil er dann noch einmal angehalten wird, zwischen Frauenburg und Heiligenbeil an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation, die inzwischen quer durch Ostdeutschland verläuft.
Man fährt, so nimmt man kopfschüttelnd zur Kenntnis, in eine Gegend, die ein Relikt aus kommunistischer Zeit zu sein scheint. Oben auf der Speisekarte, die im Zug ausliegt, kann man lesen: "Gestatten Sie mir, Sie im Namen unseres Kollektivs zu begrüßen!", und die russischen Zollbeamten wollen wissen, ob man Waffen, verbotene Literatur oder Drogen einführt. Durch das Zugfenster sieht man ungepflegte Gärten mit eingefallenen Zäunen, mit meterhohem Gras, bei den unbewohnten Datschen sind die Türen ausgehängt und die Fenster eingeschlagen. Wenige Kilometer vor der Einfahrt in den früheren Nordbahnhof stehen Eisenbahnerinnen mit gelben Fähnchen auf den Schienen, um dem Lokführer anzuzeigen, daß keine bahnfremden Leute, Betrunkene zum Beispiel oder Obdachlose, über das Bahngelände torkeln. Und ist man dann angekommen in der alten Krönungsstadt preußischer Könige, steht man vor dem Bahnhofsgebäude auf zwei Kanaldeckeln mit der deutschen Aufschrift "Waggonfabrik Steinfurt Königsberg", während links auf dem Platz die Wucht der gewaltigen Statue des sowjetischen Staatsoberhauptes von 1919 bis zu seinem Tode 1946, Michail Iwanowitsch Kalinin, den Neuankömmling fast erschlägt.
Nikodemus heißt der aus Kasachstan zugewanderte Rußlanddeutsche aus Labiau, der mich in Königsberg abholt und bei dem ich zehn Tage wohnen werde. Zweimal werde ich von dort nach Königsberg fahren, einmal nach Tilsit, einmal nach Gumbinnen. Er fährt mit mir am Roßgärter Tor vorbei über die "Berliner Brücke", wie sie heute von den Russen genannt wird, nach Nordosten ans Kurische Haff. Diese Autobahnbrücke wurde zum Kriegsende von der Wehrmacht gesprengt, eine Fahrbahn wurde danach von den Kommunisten wiederaufgebaut, die Trümmer der anderen ragen seit fast 60 Jahren in den ostdeutschen Himmel, als wäre die Zeit 1945 stehengeblieben. Niemanden scheint das zu stören.
Und dann sehe ich mit Entsetzen, was aus dem Samland geworden ist: Steppe, so weit das Auge reicht. Als ich in der Woche darauf mit dem Bus nach Tilsit und mit dem Zug nach Gumbinnen fahre, sehe ich: Es ist überall so! Überall zwischen Pillau und Eydtkuhnen ist das mittlere Ostdeutschland, das einmal eine der Kornkammern Deutschlands war, versteppt. Ein Getreidefeld bei Labiau, ein Kartoffelacker bei Trakehnen, ein Rapsfeld bei Gumbinnen, mehr leistet die Landwirtschaft dort heute nicht mehr. Die Rote Armee hat 1945 das Entwässerungssystem gnadenlos zerstört, aus Mutwillen und aus Unkenntnis, das Land ist versumpft und verkrautet und wird Jahrzehnte brauchen, um wieder urbar zu werden.
Für den ständigen Niedergang sorgt auch die Bürokratie in Königsberg und Moskau, die den Umbruch 1989/90 unbeschadet überstanden hat, die nur den Mangel verwaltet und keine "blühenden Landschaften" entstehen lassen will. Das nämlich könnte zu neuem Selbstbewußtsein der Einwohner führen und separatistische Bewegungen fördern, mit dem Ziel, fern von Moskau eine vierte baltische Republik zu gründen. An dieser Bürokratie ist auch die ostdeutsche Bäuerin Ursula Trautmann gescheitert, die vom russischen Staat den 1945 im Samland verlassenen Hof ihrer Eltern gepachtet und bewirtschaftet hatte und die dann doch aufgeben mußte.
Am ersten Abend schon kann ich im zweisprachigen Stadtführer von Labiau blättern. Die Verfasser verfügen, das merkt der Leser bald, über die bewundernswerte Fähigkeit, die mehr als 700jährige Geschichte der 1258 gegründeten Stadt so darzustellen, als ob hier nie Deutsche gelebt hätten. So heißt es, daß der Name Labiau "in der Urkunde vom 3. Mai 1258 über die Aufteilung von Samland zwischen dem Bischof und dem Orden erwähnt" wird. Sollten da vielleicht der Bischof von Samland und der Deutsche Orden gemeint sein? Weiter heißt es: "Die Stadtrechte wurden dem Ort am 28. Juni 1642 zuerkannt." Sollte das vielleicht lübisches, also deutsches Stadtrecht gewesen sein? Ein versteckter Verweis auf die deutsche Geschichte der Stadt erfolgt erst am Ende, wo es heißt, in Labiau "sind viele deutsche Gebäude ... erhalten geblieben ... und geben der Stadt bis zum heutigen Tage ihr unverwechselbares Aussehen".
In Königsberg immerhin ist ein kleiner Teil deutscher Geschichte noch immer gegenwärtig. Vor dem "Kaliningrader Dramentheater" steht unübersehbar noch immer das von Stanislaus Cauer 1910 gestaltete Denkmal des Weimarer Klassikers Friedrich Schiller (1759-1805), der von den russischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts innig verehrt wurde. Namenszug und Jahreszahlen stammen noch aus der Zeit vor der russischen Verwaltung, den Namen des Dichters in kyrillischer Schrift hat man 1945 darüber gesetzt. Zwischen der Königsberger Universität und dem protzigen Hotel "Kaliningrad", unmittelbar neben dem noch erhaltenen Bunkersystem des Generals Otto Lasch von 1945, steht ein bescheidener Mann, dem Königsberg weltweiten Ruhm verdankt: der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804), dessen 280. Geburtstags am 22. April und dessen 200. Todestags am 12. Februar dieses Jahres zu gedenken war. Seinetwegen bin ich hierher gekommen, um mich in stiller Ehrfurcht vor diesem gewaltigen Denker zu verneigen. Gestört wurde ich nur durch zwei russische Bettlerinnen, die offensichtlich hier täglich auf deutsche Besucher warten. Das Denkmal ist eine Nachbildung der 1864 enthüllten Skulptur Christian Daniel Rauchs, die in den Kriegswirren verschwunden ist.
Auf dem Weg zur Dominsel komme ich an einem Rest der alten Schloßmauer vorbei, wo die Gedenktafel für den Philosophen mit dem berühmten Zitat vom "bestirnten Himmel über mir" und dem "moralischen Gesetz in mir" angebracht ist. Sie stammt aus dem Jahr 1904 und wurde nach 1989/90 wieder dort aufgehängt, aber derart lieblos und liederlich, was auf Fotos nicht zu erkennen ist, daß ich mich schaudernd abwende.
Die Apathisierung der russischen Bevölkerung, die nun schon in der dritten Generation im Königsberger Gebiet lebt, ist weit vorangeschritten. Der russisch verwaltete Teil Ostdeutschlands ist seit 1991 eine Insel, umschlossen von der Republik Polen und der Republik Litauen, abgetrennt von Rußland, seit diesem Jahr auch eine Enklave der Europäischen Union. Die Straßen sind denkbar schlecht, auch in Königsberg, verfallende Häuser mit abblätterndem Putz sieht man überall, die Arbeitslosigkeit ist hoch, Trunksucht weit verbreitet. Auf dem Wochenmarkt sehe ich Bettlerinnen an der Wand lehnen, die unnütze Dinge verkaufen und vor Müdigkeit im Stehen einschlafen. Die Renten sind denkbar niedrig. Die jungen Leute, soweit sie noch von Tatendrang und Unternehmungslust erfüllt sind, wollen auswandern, vorzugsweise in die Bundesrepublik Deutschland, wie Katja in Tilsit, die in Smolensk Germanistik studiert und mich in einer Buchhandlung anspricht.
Am 7. Juli fahre ich mit dem Bus nach Tilsit, es ist eine wunderschöne Strecke über Mehlaucken durch die Elchniederung, bis in die Stadt, wo am 9. Juli 1807 zwischen Frankreich und Rußland Frieden geschlossen wurde. Drei Tage zuvor waren Preußens König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise dem Kaiser Napoleon begegnet. Katja führt mich an die ein Jahrhundert danach eingeweihte Königin-Luise-Brücke über die Memel, die am 22. Oktober 1944 gesprengt, aber von den Russen wiederaufgebaut wurde. Am jenseitigen Ufer liegt der Vorort Übermemel, aber das ist schon litauisch verwaltetets Gebiet. Auf dem Denkmalssockel, auf dem einst der deutsche Dichter Max von Schenkendorff (1783-1817) stand, erhebt sich heute noch immer überlebensgroß der russische Revolutionsheld Wladimir Iljitsch Lenin, wie auch überall im Königsberger Gebiet noch "Hammer und Sichel", die Kainsmale einer untergegangenen Gesellschaft, zu sehen sind. Am Geburtshaus Johannes Bobrowskis (1917-1965) ist in deutscher Sprache eine Gedenktafel befestigt, am 2. September 2005 ist seines 40. Todestags zu gedenken. Im Stadtmuseum wird deutsche Geschichte ausgebreitet: Es gibt Schaukästen für Johannes Bobrowski, Max von Schenkendorff, Hermann Sudermann (1857-1921) aus dem Memelland und die frühverstorbene Königin Luise (1776-1810).
Nach Gumbinnen fahre ich mit dem Zug über Tapiau, Wehlau, Insterburg. Ich sitze wie alle anderen Fahrgäste auf Holzbänken, dritter Klasse also, die in der Bundesrepublik vor einem halben Jahrhundert abgeschafft wurde. Ich übernachte in den "Salzburger Anstalten" in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die 15.000 Salzburger Einwanderer von 1732/33 waren protestantische Glaubensflüchtlinge, die in Gumbinnen und Umgebung angesiedelt wurden.
Ihre Nachfahren bauten nach der Vertreibung 1945 ihre karitativen Einrichtungen in Bielefeld wieder auf und kehrten nach 1989/90 zurück nach Gumbinnen. Hier werde ich gastfreundlich aufgenommen und verpflegt. Hier treffe ich auch zwei verärgerte Deutsche aus den neuen Bundesländern, die daheim für ein russisches Waisenhaus gebrauchtes Kinderspielzeug gesammelt haben, deren gute Absichten aber von der Bürokratie durchkreuzt wurden. Die mitgebrachten Geschenke wurden von russischen Zollbeamten gewogen und ein angebliches Übergewicht von drei Pfund festgestellt, wofür 75 Euro zu zahlen wären. Als die beiden Deutschen 50 Euro Bestechungsgeld über den Tisch schoben, war der Fall erledigt.
Das 1732 von König Friedrich Wilhelm I. gegründete Gestüt Trakehnen, östlich von Gumbinnen gelegen, ist heute Rinderkolchose. Noch 1944 standen dort 1.115 Pferde, darunter 20 Hauptbeschäler und 378 Mutterstuten. Der Gutshof ist heute verfallen, wenn auch über dem Eingangstor noch die siebenzackige Elchschaufel zu sehen ist, die schon im 18. Jahrhundert als Brandzeichen verwendet wurde. Außerhalb des Ortes liegt die "Agnes-Miegel-Siedlung", deren sechs wunderschön gestaltete Häuser von deutschen Spendengeldern gebaut wurden. Hier wohnen rußlanddeutsche Familien, die Häuser sind an der Stirnseite mit Bildern ostdeutscher Landschaften geschmückt, alles ist sauber und wohlgeordnet, der Kontrast zum Verfall des Gestüts und der einstigen Insthäuser ist augenscheinlich.
In Tollmingkehmen an der Pissa, einem Dorf, das ich im Abendsonnenschein erreiche, stehen Kirche und Pfarrhaus noch, in denen der litauische Pfarrer und Dichter Christian Donelaitis (1714-1789) gewirkt hat. Johannes Bobrowski hat über ihn den Roman "Litauische Claviere" (1966) geschrieben. Im selben Jahrhundert war Immanuel Kant, noch bevor er berühmt werden sollte, Hauslehrer in der Familie des Pfarrers Daniel Ernst Andersch im Dorf Judtschen zwischen Gumbinnen und Insterburg. Auch in Nemmersdorf stehe ich später vor der Kirche und blicke hinab auf die Dorfstraße: Was sich hier am 16. Oktober 1944 abgespielt hat, als sowjetische Truppen für einen Tag durchgebrochen waren, bevor sie von der Wehrmacht zurückgeworfen wurden, ist tief im Gedächtnis aller noch lebenden Ostdeutschland eingegraben. Damals begann die Flucht, der der Untergang einer deutschen Provinz folgte.
Südlich von Gumbinnen liegen die Rominter Heide und das 1615 gegründete Landstädtchen Darkehmen, das die Nationalsozialisten geschichtsblind 1938 in Angerapp umbenannten. Auch hier wurden Hugenotten aus Frankreich und Salzburger Emigranten angesiedelt. Die Grenze zwischen der Republik Polen und der Russischen Föderation ist nur zehn Kilometer entfernt, deshalb wohl scheint der Ort weitab vom Weltgeschehen zu liegen. Die Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber die Ruine steht noch, Trümmer und Gestrüpp ringsum, der Eingang ist verrammelt, über dem Altar kann ich den Spruch lesen: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben." Daneben steht ein flaches Gebäude, an dem mein Blick hinaufgeleitet, oben steht, in verwaschener Schrift, aber noch lesbar: "Kaiserliches Postamt".
Der frühere Nordbahnhof der ostdeutschen Hauptstadt: Hier beginnt Jörg Bernhard Bilkes Spurensuche, und bereits hier wird er das erste Mal fündig. Vor dem Bahnhofsgebäude stößt er auf zwei Kanaldeckel mit der deutschen Aufschrift "Waggonfabrik Steinfurt Königsberg". /font>
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