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Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1919, beugte sich die Weimarer Nationalversammlung dem Druck der Sieger und ermächtigte die Regierung mit 237 zu 138 Stimmen zur Annahme der Friedensbedingungen von Versailles. Am 28. Juni 1919 folgte die Vertragsunterzeichnung im Spiegelsaal des Versailler Schloss es, also an jenem Ort, an dem 1871 das zweite deutsche Reich ausgerufen worden war und an dem bezeichnenderweise am 18. Januar dem "Reichsgründungstag" die Verhandlungen begonnen hatten.
Von Anfang an war vor allem die französische Seite um eine größtmögliche politische und wirtschaftliche Schwächung Deutschlands bemüht. So entstand eine "Friedensordnung", die diesen Namen nicht verdiente und bereits den Keim des nächsten Krieges in sich trug. Die Einzelheiten sind bekannt: Anerkennung der "Kriegsschuld", Auslieferung der "Kriegsverbrecher", gigantische Reparationszahlungen (1920 wurde die zu zahlende Summe auf 269 Milliarden Goldmark festgelegt, aufgeteilt in 42 Jahresraten), Verlust Elsaß-Lothringens, Eupen-Malmedys, Posens, des großen Teils Westpreußens, Danzig wird "Freie Stadt", Volksabstimmungen in Nordschleswig, Oberschlesien und Masuren, Abtretung sämtlicher Kolonien, Einführung eines Berufsheeres von maximal 100 000 Mann, Besetzung des Rheinlandes und so weiter.
Die Annahme des Vertrages durch die Nationalversammlung beendete eine wochenlange erbitterte Diskussion darüber, wie das geschlagene Deutsche Reich auf die demütigenden Forderungen der Alliierten reagieren sollte. Im April hatten die Abgeordneten noch einen Antrag beschlossen, in dem sie sich weigerten, einem Gewaltfrieden zuzustimmen. Letztlich mußten sie aber einsehen, daß man angesichts der militärischen Realitäten sprich des angedrohten Einmarsches in das Reichsgebiet nicht wirklich die Wahl hatte, sich zu widersetzen. Dies erkannte nicht zuletzt auch Hindenburg als die oberste militärische Autorität.
Nachdem der deutschen Delegation am 7. Mai der Vertragsentwurf übergeben worden war, äußerte sich Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau mit ebenso scharfen wie hellsichtigen Worten über dessen Inhalt: " (
) der Entwurf fordert in territorialer Hinsicht die Annexion rein deutschen Gebietes und die Unterdrückung des deutschen Volkstums. Er bringt die völlige Vernichtung des deutschen Wirtschaftslebens. Er führt das deutsche Volk in eine in der Weltgeschichte bisher nicht gekannte finanzielle Sklaverei. Die Verwirklichung dieses Vertragsentwurfs würde für die ganze Welt ein neues Unglück bedeuten." Wenig später trat der deutsche Außenminister aus Protest gegen das Diktat zurück.
Die preußische Staatsregierung veröffentlichte am 12. Mai einen nicht minder erbitterten Protestaufruf, der mit folgenden Worten schloß: "Dieser Friedensvertrag ist unannehmbar, seine Bedingungen sind selbst von dem entsagungsbereitesten Volk nicht zu ertragen. Wir erklären vor der Welt: Lieber tot als Sklave."
In Ostdeutschland war die Empörung besonders groß, zumal infolge des Vertrages durch die Abtretung weiter Teile Westpreußens vom restlichen Reichsgebiet getrennt zu werden drohte. Aus der begründeten Furcht vor polnischen oder litauischen Annexionsgelüsten befahlen die Verantwortlichen nach der Annahme der Friedensbedingungen die Mobilmachung des zur Unterstützung der regulären Armee aufgebauten ostdeutschen Freiwilligenkorps sowie der Orts- und Grenzwehren.
Bereits am 22. Mai hatten sich die Abgeordneten der Verfassunggebenden Nationalversammlung und der Preußischen Landesversammlung, soweit sie in Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien gewählt worden waren, zu einem "Ostparlament" formiert. Dieses gliederte sich in den "Aktionsausschuß Süd" für Posen und Schlesien in Breslau. Es sollte alles in den eigenen Kräften Stehende tun, um den Bestand der deutschen Ostgrenzen zu wahren und eine Zukunft Ostdeutschlands als Exklave verhindern.
Auch in anderer Hinsicht stellte die Unterzeichnung des Versailler Vertrages aus ostdeutscher Sicht eine spezifische Zäsur dar: Sie beendete die Gedankenspiele über einen möglichen "Oststaat", die insbesondere im Mai und Juni 1919 die Gemüter bewegt hatten. Für den Fall einer Ablehnung des Diktats der Sieger durch die Reichsregierung spekulierten einige führende Politiker und Militärs über einen Zusammenschluß der vier genannten östlichen Provinzen Preußens mit den noch von deutschen Truppen besetzten Gebieten im Baltikum zu einem "Oststaat". So wollte man nicht nur bei einem drohenden Einmarsch alliierter Truppen diesen Teil des Reiches vor der Besetzung bewahren, sondern vor allem im geheimen Einvernehmen mit der Zentralregierung in Berlin ganz Oberschlesien, Westpreußen und Posen retten. Nicht zuletzt sollte dieses neue staatliche Gebilde einen Kristallisationskern für ein wiedererstarkendes Deutschland bilden. Die wichtigsten Träger solcher Vorstellungen waren der bis Juli 1919 amtierende Oberpräsident August v. Batocki-Friebe, dessen Nachfolger August Winnig und die ostdeutschen Regierungspräsidenten.
Anfang Mai 1919 lehnte der sozialdemokratische Ministerpräsident Scheidemann im Namen der Regierung alle Pläne für einen "Oststaat" öffentlich ab, und kurz vor dem Abschluß des Versailler Vertrages signalisierte auch die Oberste Heeresleitung ihr Nein. Danach mündeten die Diskussionen in die Forderung nach einer Sonderbehandlung und gezielten Unterstützung Ostdeutschlands durch die Reichsregierung.
August Winnig, der im November 1918 zum Generalbevollmächtigten des Deutschen Reiches im Baltikum ernannt worden war und seit Januar 1919 als Reichs- und Staatskommissar für Ost- und Westpreußen in Königsberg residierte, erinnerte sich später in seinem Buch "Heimkehr" wie folgt an die wirren Wochen des Frühlings 1919: "Ostdeutschland wurde Insel, daran war nichts mehr zu ändern. Wir hatten kleinmutig und zerrissen die Stunde versäumt, wo wir es vielleicht noch hätten ändern können ich mochte nicht mehr daran denken und erst recht nicht davon sprechen. Das aber war gerade jetzt üblich geworden. Eine Abordnung von Landfrauen kam zu mir und meinte, ich solle jetzt noch die Erhebung ausrufen, wir würden den ganzen Osten hinter uns haben und Deutschland mitreißen. Es tat zugleich wohl und weh, die Frauen anzuhören ich mußte mich ihrem Wunsche versagen. ,Yorck hat anders gehandelt, sagten sie, ,denken Sie an Yorck! Ich dachte an Yorck und sagte: ,Als Yorck sich erhob, war Napoleons große Armee vernichtet, heute ist es unsere. Yorcks Preußen hatte vier Jahre gerüstet, unser Preußen hat vier Jahre geblutet! Das war der Unterschied, aber den übersahen viele; ich hatte die Erhebung trotzdem für möglich gehalten und hatte sie gewollt, und mit der Obersten Heeresleitung im Bunde, wenn auch nur im heimischen Bunde, wäre es kein ganz hoffnungsloses Wagnis gewesen. Zu diesem Bunde war es nicht gekommen."
Statt dessen mußte die Weimarer Republik mit der Würde fertigwerden, daß der östliche Teil des Reiches durch einen den Polen zugesprochenen Landstrich den sogenannten "Korridor" vom Kerngebiet getrennt wurde. Auf Initiative des zwischen 1920 und 1932 amtierenden ostdeutschen Oberpräsidenten Ernst Siehr verabschiedeten die zuständigen Behörden in Berlin am 23. Juni bzw. 12. August 1922 eine Entschließung, die der Exklave in politischer, kultureller und vor allem wirtschaftlicher Hinsicht eine bevorzugte und andersartige Behandlung zubilligte.
Schon im Juni 1920 war unter Leitung des Osteroder Bürgermeisters Christian Herbst in Berlin ein von der Staatsregierung unterhaltenes "Ostdeutsches Büro" eingerichtet worden, das Ende 1921 unter Friedrich Wilhelm Frankenbach die offizielle Bezeichnung "Ostdeutsche Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium" erhielt. Diese Dienststelle ermöglichte es dem ostdeutschen Oberpräsidenten, alle Entscheidungen zu beeinflussen, die die Zusammenarbeit zwischen Königsberg und Berlin betrafen. 1930 wurde diese Vertretung schließlich aufgelöst und in ihren Aufgaben weitgehend durch das Reichskommissariat für die Osthilfe ersetzt.
Ab 1922 führte der Staat zugunsten Ostdeutschlands billigere Bahntarife und niedrigere Postgebühren ein. 1926 wurde im Rahmen des Innenministeriums ein besonderer "Ostfonds" eingerichtet, mit dem der notleidenden Landwirtschaft in den östlichen Reichsteilen Ostdeutschland geholfen wurde. All dies erwies sich jedoch als unzureichend, erst recht nach Beginn der Weltwirtschaftskrise. Folgerichtig unternahm die Reichsregierung auf der Grundlage des "Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für die notleidenden Gebiete des Ostens" (Osthilfegesetz) vom 31. März 1931 einen weiteren großangelegten Versuch, der Not in diesen strukturschwächeren Gebieten entgegenzutreten und damit zugleich den Zusammenhalt des ganzen Landes zu unterstreichen. Schwerpunkt der Hilfen war erneut Ostdeutschland. Dort konnten zahlreiche Betriebe durch staatliche Um- und Entschuldungsmaßnahmen vor dem Ruin gerettet werden, und die Genossenschaften als in ihrer Existenz bedrohte Gläubiger wurden mit Staatsmitteln abgefunden. Allmählich gesundete die ostdeutsche Landwirtschaft wieder und mit ihr die gesamte Wirtschaft der Provinz.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion leidet der nördliche Teil Ostdeutschlands die der Russischen Föderation zugeschlagene Oblast Kaliningrad erneut unter der schwierigen Lage einer Exklave. Heute wie in der Zwischenkriegszeit sind vielfältige Verkehrs-, Zoll- und Energieprobleme und ein steter Bevölkerungsrückgang die Folge. Allerdings gab es damals im ganzen Deutschen Reich trotz aller Not den selbstverständlichen Willen, Ostdeutschland nach Kräften zu helfen. Dieser Wille ist im heterogenen russischen Riesenreich nicht erkennbar, und die nötigen Mittel fehlen sowieso. Die langfristige Perspektive des Königsberger Gebietes läuft deshalb fast zwangsläufig auf eine weitgehende Abkoppelung von Moskau und eine stärkere Ausrichtung auf die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union hinaus.
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