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Dutschkes später Sieg über Springer

 
     
 
In Berlin vollendete sich in diesen Tagen ein Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte, an dessen Anfang gesellschaftliche Verwerfungen, Aufbegehren und Irrwege, Gewalt, Blutzoll und Chaos standen: Auf Beschluß der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg wird die Kochstraße im historischen Zeitungsviertel zwischen Friedrichstraße und Lindenstraße in "Rudi-Dutschke-Straße" umbenannt. Sie wird mithin den Namen jenes Mannes tragen, der in den späten 60er Jahren
die Bundesrepublik in ihre bis dahin schwerste Krise geführt hatte - als Anführer einer Revolte und Opfer des Hasses gleichermaßen. Ein deutsches Schicksal: Alfred Willi Rudolf Dutschke kam 1940 im brandenburgischen Schönefeld als Sohn eines Postbeamten zur Welt, der als Freiwilliger an der Ostfront diente. Nach Kriegsende und Gründung der DDR wurde der junge Rudi früh vom Pfarrer seiner Heimatgemeinde in einem "religiösen Sozialismus" unterwiesen, erlebte als Schüler am 17. Juni 1953 sowjetische Panzer in den Straßen, erfuhr im Westfunk 1956 vom Volksaufstand in Ungarn und ließ sich zum Zehnkämpfer ausbilden.

1957 brach Dutschke mit dem Regime: Offen sprach er sich gegen den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee und für freie Reisen in den Westen aus. Dafür wurde er mit schlechten Abiturnoten abgestraft. Weil ihm überdies das Sportstudium verweigert wurde, mußte er sich in einem Volkseigenen Betrieb zum Industriekaufmann ausbilden lassen. Ab 1960 pendelte Dutschke zwischen Brandenburg und West-Berlin, wo er sein West-Abitur nachholte.

Drei Tage vor dem Mauerbau, am 10. August 1961, setzte er sich ganz in den Westen ab - aus Angst, bei der düster heraufziehenden Teilung der Stadt vom Studium ausgeschlossen zu werden. Am Tag, als Berlin gewaltsam zerrissen wurde, meldete er sich offiziell als DDR-Flüchtling bei der Polizei und beteiligte sich an verzweifelten Versuchen der Westberliner, Mauersteine mit Stricken auszubrechen.

Rudi Dutschke studierte Soziologie an der Freien Universität und fand, beeinflußt von Freunden und Kommilitonen, zum Marxismus. Er lernte den Kommunarden Dieter Kunzelmann kennen, Gründer einer Münchner "Subversiven Aktion", für die er in Berlin eine "Mikrozelle" gründete, die sich als Untergrundgruppe verstand. Dutschke brachte eine eigene Zeitung heraus, die er Anschlag nannte, und schloß sich dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an, in dessen Namen der Republikflüchtling nun plötzlich die "Anerkennung" der DDR forderte. In Moskau traf er sich mit dem sowjetischen Jugendbund "Konsomol", in West-Berlin agitierte er gegen Lohnarbeit und Privateigentum als "Unterdrückung und Ausbeutung". Rasch war Dutschke zum Führer der studentischen Protestbewegung avanciert, die die "entpolitisierte" Nachkriegsgesellschaft wachrütteln wollte, gegen Kolonialismus in Afrika aufbegehrte, den Krieg der Amerikaner in Vietnam als "imperialistisch" geißelte und Fragen nach der NS-Vergangenheit der Väter stellte. Über den Straßen und an den Universitätsportalen wehten rote Fahnen.

Zur Symbolfigur der bekämpften bürgerlichen Gesellschaft wurde deren mächtigster Verleger: Axel Springer. Er hatte seine Verlags-zentrale als selbsternanntes "Bollwerk" gegen den Kommunismus von Hamburg in die Berliner Kochstraße direkt an die Mauer verlegt. Springer kämpfte in seinen Blättern publizistisch für die Wiedervereinigung und verfolgte einen unverhandelbar proamerikanischen Kurs - den Studenten galt er als "Hetzer", dem nur mit dem Mittel der Enteignung beizukommen sei. Aus Pankow sekundierte Walter Ulbricht: "Es ist notwendig, die Macht der Herren solcher Meinungsmonopole zu beseitigen".

Während einer Demonstration gegen den in West-Berlin weilenden Schah von Persien, für die Studentenbewegung ein Unterdrücker von Menschenrechten und Vasall der Amerikaner, wurde am 2. Juni 1967 der Philologiestudent Benno Ohnesorg, verheirateter Vater und Glied der evangelischen Kirchengemeinde, vom Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. Springers BZ kommentierte zynisch: "Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen."

Axel Springer geriet zusehends in die Defensive und wehrte sich: "Genauso wie wir nie die sechs Millionen ermordeten Juden vergessen dürfen, müssen wir uns jeden Tag an die Peter Fechters erinnern und an alle, die auf die Freiheit warten - in Gefängnissen und Lagern und Irrenanstalten oder sonstwo in diesem riesigen Konzentrationslager, das hier an der Mauer beginnt und bis zum Pazifik reicht."

Dutschkes Studentenbewegung erhielt breite Unterstützung von Intellektuellen, Theologen, Spiegel, Zeit und Stern. Über 100 Schriftsteller, unter ihnen Grass, Lenz und Böll, boykottierten den Verlag an der Kochstraße. Auf der Frankfurter Buchmesse wurden Springers Ausstellungsstände zerstört. In den Hörsälen wurde die Stimmung immer aggressiver, auf "Anti-Springer-Tribunalen" zu Gewalt gegen Sachen aufgerufen.

Rudi Dutschke hatte inzwischen die amerikanische Theologiestudentin Gretchen Klotz geheiratet und war Vater eines Sohnes geworden. Am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, nachmittags gegen 16.35 Uhr wollte Dutschke in einer Apotheke nahe der SDS-Zentrale am Kurfürstendamm/Ecke Joachim-Friedrich-Straße Nasentropfen für seinen Jungen kaufen, als ihm der Anstreicher Josef Bachmann auflauerte und dreimal mit einer Gaspistole auf ihn schoß. Dutschke erlitt schwerste Hirnverletzungen und verlor für lange Zeit sein Sprachvermögen. Bachmann trug zur Tatzeit eine Bild-Zeitung bei sich, ihre Schlagzeile: "Stoppt Rudi Dutschke!"

Es folgten die schwersten Straßenschlachten seit der Weimarer Republik. Menschenketten im ganzen Land belagerten Druckereien und Redaktionssitze des Springer-Verlages, Zeitungen konnten nur unter Polizeischutz ausgeliefert werden. "Bild hat mitgeschossen!" lautete der skandierte Vorwurf. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wandte sich in einer Fernsehansprache an die Nation und versprach, "keine gewaltsame Störung der rechtsstaatlichen Ordnung" mehr zu dulden. Der Polizei gelang es schließlich, die Unruhen zu beenden. Tief saß der Schock, als bekannt wurde, daß bei den Krawallen ein Fotograf und ein Demonstrant von Steinwürfen tödlich getroffen worden waren.

Josef Bachmann, dem eine Nähe zu Neonazis vorgeworfen, aber nie zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, im Gefängnis nahm er sich das Leben.

Dutschke verbrachte seine Genesungszeit ab 1969 in der Schweiz, Italien und Großbritannien. Freunde und Berlins sozialdemokratischer Bürgermeister Heinrich Albertz kamen für die Kosten auf. Wegen angeblicher subversiver Tätigkeit wurde er aus England ausgewiesen, kam 1970 als Universitätsdozent nach Dänemark, distanzierte sich 1974 von den ersten Anschlägen der Rote Armee Fraktion und traf sich in der DDR mit den Dissidenten Wolf Biermann und Robert Havemann. Er schrieb für linke Zeitungen in den Niederlanden und schloß sich der bundesdeutschen Anti-Kernkraft-Bewegung an. Heiligabend 1979 starb Rudi Dutschke nach einem epileptischen Anfall - Spätfolge des Attentats. Der Tod ereilte ihn in der Badewanne. Am 3. Januar 1980 wurde er auf dem St. Annen Friedhof in Berlin-Dahlem beerdigt. Zur Trauerfeier im Auditorium maximum der Freien Universität fanden sich mehrere tausend Studenten zusammen.

Die 68er Bewegung löste sich ab 1970 auf, viele ihrer einstigen Protagonisten fanden zurück ins Bürgertum andere machten Karriere in jenen etablierten Parteien, die sie zuvor bekämpft hatten.

Axel Springer starb 1985 - Zerfall der Sowjetunion und Wiedervereinigung erlebte er nicht mehr. Nach seinem Tod wurde der Verlag zusehends unpolitischer und ideologiefreier. Heute verdient er sein Geld auch mit einer Lizenzausgabe des amerikanischen Wirtschaftsmagazins Forbes, weltweit geachtetes Zentralorgan des Kapitalismus, für den russischen Markt. Redaktionssitz ist Moskau: Dort wurde sein erster Chefredakteur im letzten Jahr ermordet, nachdem er mafiöse Strukturen im Wirtschaftsleben des ehemaligen Sowjetreiches aufgedeckt hatte.

Im Dezember 2004 initiierte die Redaktion der linksalternativen Berliner tageszeitung (taz), eines Blattes, dessen Kernleserschaft Studenten bilden, die Umbenennung eines Teiles der Kochstraße in "Rudi-Dutschke-Straße". Unterstützung fand die wirtschaftlich ums Überleben kämpfende taz, deren inhaltliche Wurzeln in der Friedensbewegung zu finden sind, in der Familie Dutschkes, bei Linkspartei und Grünen. In geheimer Abstimmung votierten vor wenigen Tagen letztlich 26 Bezirksparlamentarier dafür, 21 dagegen.

Der Springer-Verlag verlautbarte daraufhin, die demokratische Entscheidung werde "selbstverständlich respektiert". In einer Erklärung der Chefredaktion der taz heißt es unter Hinweis auf die künftige unmittelbare Nachbarschaft der Springer-Zentrale zur "Rudi-Dutschke-Straße", damit vollziehe sich "auch eine Versöhnung der Lager".

Versöhnung - oder doch ein stiller später Sieg des einen über das andere?

 

Gegen den Vietnamkrieg: Studentenführer Rudi Dutschke (4.v.l. - in der Lederjacke) inmitten seiner Anhänger

Feindbild: 1968 setzten Anhänger von Rudi Dutschke Lieferwagen (Bild oben) des Axel-Springer-Verlages, dem sie eine Mitschuld an dem Attentat auf ihr Idol gaben, in Brand. 2005 benennt der rot-rote Berliner Senat die an die Verlagszentrale angrenzende Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße um. Die Stadt ehrt damit den überzeugten Sozialisten. Dafür muß der ehemalige Berliner Bürgermeister Johann Koch, nach dem die Straße seit 1734 benannt ist, weichen.
 
     
     
 
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