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Der Anschlag auf die USA hat auch Polen aus dem politischen Alltag gerissen, der nach elf Jahren Transformation matter und grauer denn je erscheint. Nun stellt sich auch für Warschau die Frage nach den Nato-Verpflichtungen, und die Führung zeigt sich entschlossen, Amerika in seinem Kampf gegen den Terrorismus zu folgen.
Als das Land im Frühjahr 1999 feierlich in die Strukturen der westlichen Militärallianz aufgenommen wurde, galt es im Westen noch als der mitteleuropäische „Tiger“. Nur zweieinhalb Jahre danach zeigen sich 80 Prozent der Polen unzufrieden mit ihrer Lage und mit der Arbeit der Regierung, die heute nur noch aus der „Wahlaktion der Solidarnosc - die Rechten“ (früher AWS, heute AWSP) besteht, nachdem die Freiheitsunion (UW) wegen schwerwiegender Differenzen in der Wirtschafts- und Reformpolitik im vorigen Jahr die Koalition verließ.
Immerhin: Jerzy Buzek wird in die polnische Geschichte eingehen. Er ist der erste Ministerpräsident seit der Wende, der eine ganze Amtszeit durchgehalten hat. Das wird ihn und die AWSP aber voraussichtlich nicht vor der Peinlichkeit bewahren, daß sie bei den Parlamentswahlen am 23. September nicht nur abgewählt, sondern gleich ganz aus dem Sejm hinaus katapultiert werden. Die erforderlichen acht Prozent, die die AWSP als Wahlbündnis für den Wiedereinzug benötigt, scheinen von Tag zu Tag in weitere Ferne zu rücken.
Das Bündnis aus Dutzenden kleiner und untereinander zerstrittener Parteien, katholischen und rechten Gruppen, ist nach vier Jahren für die meisten Polen das Spiegelbild von Günstlingswirtschaft, Korruption und Inkompetenz.
Nach dem großen Wahlerfolg 1997 wurde das einende Solidarnosc-Band in Grabenkämpfen und Affären zerschnitten. Die AWSP scheint es geradezu auf ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit anzulegen. Es vergeht kaum eine Woche ohne Skandal. Sei es das „Zocken mit dem Zwangsarbeitergeld“ (FAZ) oder die kürzliche Entlassung des Finanzministers Jaroslaw Bauc, weil er ein 45-Milliarden-Mark-Loch im Staatshaushalt ausmachte und für das kommende Jahr ein Haushaltsdefizit von elf Prozent vorhersagte.
Humoristische Züge trägt das jüngste Korruptionsbeispiel im tiefen Süden Polens, der Hochburg des Wahlbündnisses, das auf den Titelseiten der Zeitungen als „Murmeltier-Affäre“ von sich reden machte. Da geht es um den angesehenen Direktor des Nationalparks Hohe Tatra, der sich als Naturschützer und Bewahrer der Lebenswelt von 200 Murmeltieren dagegen wandte, die Fläche des zu schützenden und von jährlich sechs Millionen Touristen völlig überlaufenen Gebiets (die Tatra ist das kleinste Hochgebirge der Erde) zu verringern, um dem Touristenmekka Zakopane den Bau neuer Lifte, Hotels und Villen zu ermöglichen.
Zufällig ist der Vize-Umweltminister ein Bruder des Bürgermeisters von Zakopane, und beide gehören der AWSP an. Diese Konstellation reichte, um den aufsässigen Direktor zu entlassen und die Nationalpark-Grenzen spornstreichs zu ändern. Nun steht der Umweltminister, zugleich stellvertretender AWSP-Vorsitzender, unter heftigem Beschuß, zumal auch der beim Minister angesiedelte staatliche Umweltschutzrat vor nicht reparablen Folgeschäden warnte.
Derweil freut sich die Noch-Opposition und kündigt an, die Entscheidung nach dem 23. September sofort wieder rückgängig zu machen, damit die putzigen Pelztiere weiter ihre Ruhe haben.
Der Opposition fällt es leicht, die schlechte Stimmung im Lande auszunutzen. Die Wirtschaft schwächelt, die Zinsen sind hoch, und die Subventionen für die Landwirtschaft und veraltete Industrien drücken auf den Haushalt. Die Arbeitslosigkeit stieg in den vergangenen zwei Jahren um über 30 Prozent auf inzwischen drei Millionen Menschen, das sind immerhin 16 Prozent aller Erwerbsfähigen.
Hinzu kommt eine „versteckte“ Arbeitslosigkeit, die besonders im ländlichen Raum auf rund eine Million Betroffene geschätzt wird. Nicht zu vergessen die dramatische Jugendarbeitslosigkeit mit annähernd 40 Prozent! Und nicht einmal jeder zweite Arbeitslose erhält vom Staat finanzielle Unterstützung.
Vor dem Hintergrund dieser „katastrophalen Perspektivlosigkeit“ („Gazeta Wyborcza“) zieht der Spitzenkandidat des Bündnisses der demokratischen Linken (SLD), Leszek Miller, durch die Provinz, um mit seinem in sozialistischen Zeiten geschulten sicheren Auftreten die Stimmen der Millionen Unzufriedenen einzusammeln.
Die postkommunistische SLD ist die Hoffnung verarmter polnischer Familien, die mancherorts kaum mehr als 200 Mark Sozialhilfe von den Gemeinden bekommen. Nicht mal der Durchschnittsrentner mit monatlichen 400 Mark weiß, wie er über die Runden kommen soll.
Dabei kann die linke Opposition keine Wahlgeschenke anbieten, denn das riesige Loch im Staatssäckel und der Konjunkturabschwung werden die künftige Regierung nötigen, den Gürtel noch enger zu schnallen. Die von den alten Machthabern durchgesetzten Reformen im Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Verwaltungswesen hinterlassen mehr Probleme, als ihren Nachfolgern lieb sein kann.
Die Reformpolitik der letzten vier Jahre war glücklos und halbherzig, allein darauf bedacht, den Forderungen aus Brüssel nachzukommen, den akuten Reformstau aufzulösen, um die vor 1997 ins Stocken geratenen Beitrittsverhandlungen endlich wieder voranzubringen.
Gleichwohl unterließ es die Regierung Buzek, dem Volk die notwendigen Einschnitte und die damit ausgelösten Verwerfungen im Gesundheitswesen (Krankenhausschließungen etc.) oder bei der Subventionspolitik klarzumachen.
Kein Analyst zweifelt daran, daß die SLD im Verein mit der absorbierten Arbeiterunion (UP) um die 50 Prozent der Wählerstimmen einstreichen wird. Allein die Frage, ob das Bündnis SLD-UP auf Anhieb die absolute Mehrheit erreicht oder auf einen Koalitionspartner angewiesen ist, könnte den Wahlabend spannend gestalten.
Als einzig möglicher Koalitionspartner dürfte die als „Bauernpartei“ bekannte Polnische Volkspartei (PSL) in Frage kommen. Aktuelle Prognosen sehen sie bei gut zehn Prozent. Die PSL vertritt die kleinen Landwirte und jene arbeitslosen Dorfbewohner, die einstmals in den inzwischen geschlossenen LPGs beschäftigt waren und heute ohne berufliche Perspektive sind.
Während die SLD einen EU-Beitritt des Landes vorantreiben wird und in Streitfragen mit Brüssel Kompromißbereitschaft signalisiert - schließlich ließen sich ohne die EU-Förderprogramme von vier Milliarden Mark bis zum Jahr 2006 keine Modernisierungs- und Umstrukturierungsprogramme finanzieren - , steht die Bauernpartei einem Beitritt kritisch gegenüber. Allein schon deshalb wünscht sich Miller eine absolute Mehrheit.
Dazu würde es schon reichen, wenn die UW die wie in Deutschland für Parteien aufgestellte Fünf-Prozent-Hürde verfehlte. Meinungsforscher sehen die Liberalen derzeit bei 3,5 bis 4 Prozent. Die Partei um Leszek Balcerowicz, Tadeusz Mazowiecki, Hanna Suchocka und Bronislaw Geremek scheint zum Opfer ihres Regierungsaustritts und der harten Linie in der Reformpolitik zu werden.
Den „Todesstoß“ könnte ihr indes der Massenaustritt junger Wirtschaftsliberaler zur liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) verpaßt haben, die Ende 2000 wie Phönix aus der Asche stieg und scharenweise Anhänger der UW, aber auch der AWSP anlockte. Die um den Wirtschaftsfachmann und ehemaligen Außen- und Finanziminster Andrzej Olechowski entstandene Bürgerplattform ringt erfolgreich mit der UW um die Besetzung des beliebten Themas „Mittelstandsförderung“. Man verspricht eine Senkung der Unternehmenssteuer sowie „flexiblere“ Arbeits- und Kündigungsgesetze.
Experten vergleichen die PO mit der italienischen Forza Italia um Silvio Berlusconi und machen auf antiparlamentarische Züge unter den Mitgliedern aufmerksam. In den jüngsten Meinungsumfragen pendelte sich die Partei bei knapp 15 Prozent ein und würde damit im neuen Sejm auf Anhieb die stärkste politische Kraft rechts der Mitte werden - noch vor dem rechts-konservativen Wahlkomitee „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) als jüngstem Zerfallsprodukt der AWSP.
Die im Mai von den beiden Brüdern Kaczynski ins Leben gerufene Partei fordert eine drastische Verschärfung des Strafrechts einschließlich der Todesstrafe sowie eine konsequente Verfolgung jedweder Korruption. In Prognosen liegt das PiS bei etwa zehn Prozent.
98 Parteien, Listen und Komitees treten am Sonntag zur Wahl an, doppelt so viele wie 1997. Angesichts einer auch nicht gerade ermunternden Wiederauflage der Koalition von SLD und PSL, die schon einmal von 1993 bis 1997 mehr schlecht als recht das Land regierte und für die heutigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme mitverantwortlich ist, ist keine hohe Wahlbeteiligung zu erwarten.
Beobachter sagen sogar die niedrigste Beteiligung in der Geschichte der jungen Demokratie voraus. Dies würde die neue Regierung zugleich mit der Frage nach ihrer Legitimität belasten und sie angesichts des näher rückenden EU-Beitrittsszenarios zusätzlich schwächen.
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