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Für 800 Rubel bleibt mancher lieber krank

 
     
 
Nach der erfolgten EU-Osterweiterung beginnt nun eine breiter werdende Öffentlichkeit, sich intensiver mit den neuen EU-Staaten, deren Problemen und den Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland zu beschäftigen. Und so ist es auch verständlich, daß die Fachärzte für Lungen- und Bronchialheilkunde, die Pneumologen, im März dieses Jahres auf ihrem wissenschaftlichen Kongreß in Berlin sich intensiv mit den Lungenerkrankung
en in Mittel- und Ost-Europa beschäftigt haben.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik stellt dort die Lungentuberkulose wieder ein sehr ernst zu nehmendes Problem dar. Diese Infektionskrankheit ist bei uns fast in Vergessenheit geraten, weil es uns nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, dank der wirtschaftlichen Entwicklung die sozialen Probleme weitestgehend zu lösen und dank des medizinischen Fortschrittes diese bakterielle Erkrankung mit Antibiotika behandeln zu können. Dabei ist jedoch die Tuberkulose weltweit weiterhin die Infektionskrankheit Nummer eins, an der nach den Daten der Weltgesundheitsbehörde (WHO) jährlich rund acht Millionen Menschen neu erkranken und zirka zwei 2 Millionen sterben.

Mit der Auflösung der Sowjetunion, der Gründung der Russischen Föderation und der neuen unabhängigen Staaten sowie der Einführung der Marktwirtschaft ist nicht nur der öffentliche Gesundheitsdienst zusammengebrochen und die medizinische Versorgung deutlich schlechter geworden, sondern sind auch die große Teile der Bevölkerung in tiefe Armut gestürzt worden. Dies hatte zur Folge, daß in allen Nachfolgestaaten - auch in den drei baltischen Staaten - seit Anfang der 90iger Jahre die Tuberkulose dramatisch zugenommen hat. Außerdem kam die sich rasch ausbreitende HIV-Infektion neu hinzu, die zunehmend häufiger kombiniert mit Tuberkulose auftritt und in vielen Fällen rasch zum Tode führt.

Besonders dramatisch ist die Ausbreitung der Tuberkulose in der russischen Exklave Königsberg. Hier ist die Zunahme an Neuerkrankungen mehr als dreimal so hoch wie in Estland, dem baltische Staat, in dem die Tuberkuloseverbreitung am niedrigsten ist. Während in den baltischen Staaten durch strukturierte und konsequent durchgeführte Maßnahmen die Tuberkulose wieder rückläufig ist, steigt sie im mittleren Ostdeutschland weiter an - und zwar nicht langsam linear, sondern steil exponentiell.

Dies hat vielfältige Ursachen. Im neuen russischen Tuberkulosegesetz aus dem Jahr 2001 ist keine Maßnahme mehr vorgesehen, um ansteckungsfähige Tuberkulöse zwangsweise zu isolieren - wie zum Beispiel in der Bundesrepublik. Dies sei mit den Grundzügen der Demokratie nicht vereinbar - so hört man! Darüber hinaus erhält der an Tuberkulose Erkrankte eine Zusatzrente zwischen 800 bis 2.000 Rubel - das sind zur Zeit 22 bis 56 Euro. Und da dieses Geld für viele in der Region die einzige Bareinnahme im Monat ist, wird hierdurch die Motivation, sich behandeln zu lassen und gesund zu werden, nicht größer.

Leider sind auch die Kenntnisse über diese Infektionskrankheit nicht weit verbreitet. Immer noch hört man, daß es eine Krankheit der Asozialen sei. Wer möchte schon dazu gehören? Statistisch gesehen haben natürlich die sozial Schwachen häufiger diese Krankheit; aber halt macht sie vor keinem Menschen - auch nicht an Grenzen! Da über 60 Prozent der Neuerkrankten auf dem Lande leben und dort die Folgen der zusammengebrochenen Sowjetstrukturen am schlimmsten sind, sind hier schon einfache Dinge wie nicht ausreichende oder nicht mehr vorhandene Verkehrsverbindungen ein großes Problem. Und wenn man die schrottreife medizinische Ausstattung der Feldscherpunkte (FAP) kennt, weiß man, daß Untersuchungen nur noch im Kreiskrankenhaus durchgeführt werden können.

Wegen der vielfältigen Probleme können somit Einzelmaßnahmen keine erkennbaren Ergebnisse in der Bekämpfung der Tuberkulose zur Folge haben. Deswegen hat der gemeinnützige Verein medizinisch-humanitärer Hilfen "Agitas-Circle" nach sorgfältigen eigenen Erkundungen, nach Gesprächen mit den russischen Fachkollegen und den Führungskräften der Gesundheitsverwaltung des Gebietes und in Abstimmung mit der WHO ein strukturiertes Projekt entwickelt. Im Rahmen einer Absichtserklärung zwischen der Gebietsverwaltung und dem Verein wurde festgelegt, was wer wie und wann durchführen soll, wobei das Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" als Grundlage akzeptiert worden ist. Im einzelnen sind folgende Schritte vorgesehen, die zum Teil in Gumbinnen und Ragnit bereits umgesetzt worden sind.

Als zwingend notwendig hat sich herausgestellt, daß die Verbreitung von sachlichen Informationen über die Infektionskrankheiten Tuberkulose und Aids erfolgen muß. Hierzu hat der Verein Plakate und Flyer entwickelt, gedruckt und mit diesem Material im November 2003 eine Informationskampagne zunächst nur im Bereich des Pilotprojektes Gumbinnen gestartet. Da diese Aktion so gut angekommen war, wurde von der Gesundheitsbehörde angeordnet das Informationsmaterial im gesamten Gebiet zu verteilen. Darüber hinaus finden nach einem einleitenden Presseseminar regelmäßige Kontakte mit den lokalen Medien statt mit dem Ergebnis, daß gehäuft über diese Krankheiten berichtet wird. Auch wurden bereits Seminare für die sogenannte Dorfintelligenz durchgeführt, mit deren Unterstützung das Wissen über Tuberkulose und auch Aids als breiter gesellschaftlicher Prozeß angestrebt wird.

Nach einem gelungenen Versuch in Gumbinnen, das Wissen über die Infektionskrankheiten in den Schulunterricht zu integrieren, wird dies im kommenden Schuljahr 2005/2006 vom September an in allen Schulen und allen Klassen der Stadt und des Landkreises Ragnit durchgeführt. Die Vorbereitungen hierüber laufen zur Zeit auf vollen Touren. Bereits seit dem 13. Mai wird das erste Fortbildungsseminar für Lehrer durchgeführt. Die Fortbildungsinhalte werden von einer deutsch-russischen Arbeitsgruppe entwickelt. Außer Agitas-Circle nahmen daran das Gebietssanitätszentrum, das Aids-Zentrum und das Gebietszentrum für Medizinische Prävention in Königsberg sowie die Schulbehörde in Ragnit teil. Über den Verein werden auch Beiträge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Ärztekammer Nordrhein, des Bundesverbandes der Pneumologen und der Aids-Stiftung eingebracht, was auch von russischer Seite gewünscht wird. Gleichzeitig werden Train-The-Trainer-Seminare für die Schulamtsleiter die Schulpsychologen und Schulfeldschere durchgeführt, deren Aufgabe es sein soll, in ihrer Einrichtung diesen Prozeß zu begleiten und zu fördern. Auch sind sie für die Durchführung der Evaluation verantwortlich.

Als weiterer wichtiger Punkt des Wissenstransfers hat Agitas-Circle im Winter 2003/2004 in Gumbinnen und im letzten Winter in Ragnit die Mitarbeiter im Projekt - also Ärztinnen, Feldschere, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Pädagogen - im Rahmen eines eigens entwickelten Lehrplanes einmal pro Woche geschult. Dies war notwendig, weil das Wissen über viele Dinge sehr unterschiedlich ist und nicht als ausreichend angesehen werden kann. Damit hat man sich eine solide Grundlage geschaffen, um sich gut und rasch bei der Sacharbeit verständigen zu können.

Bei all dieser umfangreichen Vorarbeit ist jedoch noch kein Patient behandelt worden. Deswegen wurden und werden auch weiterhin praktische Maßnahmen durchgeführt. Zunächst wurden die Feldschere mit medizinischen Handwerkszeugen wie wieder aufladbarer Taschenlampe, Stethoskop, Blutdruckgerät und Fieberthermometer ausgestattet. Und um deren Mobilität vor Ort zu erhöhen, erhielten sie auch Fahrräder. Da wegen der nicht mehr einsetzbaren vorhandenen medizinischen Geräte alle Untersuchungen wie Röntgen, Labor und Auswurfuntersuchung nur noch im Krankenhaus durchgeführt werden können und die Verkehrsverbindungen miserabel oder nicht mehr vorhanden sind, wurde jetzt ein alter Mercedes-Benz Sprinter, Baujahr 1995, in Ragnit eingesetzt, um die Patienten von den Dörfern in die Stadt zur Untersuchung und wieder nach Hause befördern zu können. Mit diesem Fahrzeug sollen aber auch Transporte für Medikamente und Zusatzernährung durchgeführt werden. Auch die betreuende Tb-Schwester kann nun die Feldscherambulanzen (FAP) auf den Dörfern besuchen und ihre Beratungs- und Kontrollaufgaben wahrnehmen.

Da Agitas-Circle in Gumbinnen keine geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt wurden, konnte er dort bisher nicht das für das Projekt so wichtige Betreuungs- und Koordinationszentrum aufbauen. Deswegen hat der Verein jetzt den Schwerpunkt seiner Arbeit nach Ragnit verlegt, wo er nicht nur die notwendigen Räumlichkeiten bekommen hat, sondern wo auch die Motivation des Bürgermeisters A. S. Melnikov und des Chefarztes S. A. Semykin erfreulicherweise sehr hoch ist, das Arbeitsprinzip Hilfe zur Selbsthilfe auch umzusetzen. Der noch aus der Vorkriegszeit stammende Backsteinbau - früher soll er als Pferdestall gedient haben - beherbergt heute die Kinder-Poliklinik und befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Deswegen ist Agitas-Circle sehr dankbar dafür, daß jetzt Ingenieure des Technischen Hilfswerkes (THW) nach Zustimmung ihres Dienstherren, des Bundesinnenministers, und auch des Bundesaußenministeriums eine Begutachtung vorgenommen haben und dem Verein neben dem Renovierungsbedarf auch einen Kostenvoranschlag ausarbeiten werden. Wünschenswert wäre es, wenn diese Auslandsspezialisten auch die Bauaufsicht übernehmen dürften.

In der vorgesehenen Tb-Ambulanz / Poliklinik sollen mehre Aufgaben des Projektes umgesetzt werden. Von großer Wichtigkeit ist zunächst, daß hier täglich die Tuberkulosekranken ihre Medikamente unter Kontrolle einnehmen können, wie dies während der stationären Phase der Behandlung gemacht worden ist. Und da zu der Therapie auch eine qualifizierte Ernährung gehört, soll diese auch hier gleichzeitig mit erfolgen. Darüber hinaus sollen die Patienten in einem kleinen Inhalationsraum Auswurf produzieren und zur Untersuchung abgeben. Diese erfolgt zunächst mikroskopisch in einem neu zu errichtenden kleinen Labor mit unmittelbarer Verbindung zum Inhalationsraum. Bisher erfolgen diese Untersuchungen in dem allgemeinen Labor, was seuchenhygienisch nicht zulässig ist.

In dieser Ambulanz ist auch die Tb-Schwester untergebracht, die alle Maßnahmen zu überwachen und zu registrieren hat, vor allem auch die Kontakte mit den FAP hält und alle Koordinationsmaßnahmen von hier aus steuert. Eine uralte Tb-Ärztin kommt zur Zeit nur noch gelegentlich in die Klinik und es ist nicht absehbar, wie lange sie überhaupt noch zur Verfügung steht. In der Ambulanz soll auch die psychosoziale Betreuung sowie die Patienten- und Familieschulung stattfinden. Darüber hinaus soll hier die Anlaufstelle für Fragen aus der Bevölkerung eingerichtet werden und die Basisstation für die Informationskampagne sein.

Es gibt also noch viel zu tun. Wichtig ist, daß es Agitas-Circle gelingt, das Projekt vollständig abzuschließen, um ein Beispiel geben zu können, wie man durch strukturierte Arbeit das Problem der Tuberkuloseausbreitung in den Griff bekommen kann. Nachdem die bisherige Arbeit ehrenamtlich und vollständig mit Spenden und Fördergeldern besonders von der Robert-Bosch-Stiftung, der Walter-Gastreich-Stiftung und der Schweizer Stiftung Avec Et Pour Autre abgesichert werden konnte, bedarf es größerer Zuwendungen, wenn die Ausbreitung des Projektes für das gesamte Gebiet Gültigkeit bekommen sollte. D. R.

Für weitere Informationen über die Arbeit von Agitas-Circle steht der Autor dieses Beitrags, Dr. med. Dietrich Rohde, Heini-Dittmar-Straße 11, 45470 Mülheim, gerne zur Verfügung.

 Zusatzernährung für die Tbc-Behandlung: Der Autor übergibt in Tilsit einem Tuberkulosekranken ein Lebensmittelpaket mit hochwertigen Nahrungsmitteln zur Stärkung der körpereigenen Abwehrkräfte. Foto: Rohde

Tuberkulose
Eine heimtückische Geißel der Menschheit

Bei der Tuberkulose, Tb oder Tbc abgekürzt, handelt es sich um eine akut oder chronisch verlaufende Infektionskrankheit, die vor allem die Lunge, aber auch viele andere Organe, die Schleimhäute und Knochen befällt. In früheren Zeiten war sie eine der Haupttodesursachen. Inzwischen ist vor allem die Zahl der tödlichen Erkrankungen wesentlich zurückgegangen, doch selbst in der vergleichsweise reichen BRD erkranken immer noch Tausende an offener Tbc.

Der Verlauf der Krankheit hängt wesentlich von der Widerstandsfähigkeit und Abwehrbereitschaft des Körpers ab. Die erste Berührung mit dem Erreger findet gewöhnlich im Kindesalter statt und führt zur Bildung des sogenannten Primärkomplexes in der Lunge. Diese Infektion verläuft zumeist unbemerkt. Die eingedrungenen Bazillen werden vernichtet oder von einem entzündlichen Infiltrat eingemauert, das dann bindegewebig verhärtet oder verkalkt. Manchmal aber heilt der Primärherd nicht aus, sondern entwickelt sich zu einer fortschreitenden Erkrankung, erreicht das sogenannte Sekundärstadium. Symptome sind das Entstehen von Kavernen und durch Zerfall von Lungengewebe verursachte Verkäsung. Wird ein Blutgefäß durch den Krankheitsprozeß angegriffen, kommt es zu Bluthusten oder gar Blutsturz. Auch das Rippenfell und der Kehlkopf können beteiligt werden.

Das sogenannte Tertiärstadium entwickelt sich nach Verschleppung von Bazillen über den Blutweg zu den inneren Organen, wobei der Magendarmkanal, die Harn- und Geschlechtsorgane, das Nervensystem sowie Knochen und Gelenke befallen werden können.
 
     
     
 
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