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Der politische Betrieb gewährt einer neuen Regierung eine Schonfrist von 100 Tagen als Gelegenheit zur Einarbeitung, ja selbst für verzeihliche Anfangsfehler. Für die schwarz-rote Große Koalition und Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde diese Frist sogar auf 200 Tage verdoppelt. Die Kanzlerin hat sie vor allem auf dem Gebiet der prestigeträchtigen Außenpolitik genutzt, wo sie das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder ins Lot brachte und im Verhältnis zu Putins Rußland die Kontinuität der deutschen Interessen, vor allem in der Energiepolitik , deutlich zu machen verstand. Wie ihr Lehrmeister Kohl opferte sie jedoch deutsche Interessen in vorauseilender Euphorie auf dem Altar Europa, wo auch für sie einige hundert Millionen Euro mehr für die Gemeinschaftskasse keine Rolle spielten und auch sie das Rundum-Lob der "Großen Europäerin" einheimsen und genießen kann.
Darob blieben freilich die harten Brocken der Innenpolitik - Massenarbeitslosigkeit, Staatsschuldenberg, Demographie, um nur sie zu nennen - erneut ein halbes Jahr liegen. Erst jetzt, sieben Monate nach der Regierungsbildung, werden diese Brocken angefaßt. Die allzu gekünstelte Harmonie von Koalition und Regierung zeigt Risse, die SPD zeigt nicht zuletzt über ihren Rückstand in der Wählergunst verständliche Nervosität. Eines ist schon jetzt deutlich: Dies wird keine Neuauflage der Großen Koalition von 1966, die bedeutende Persönlichkeiten aufwies, man denke an Willy Brandt, Franz Josef Strauß und Karl Schiller, die alle von dem patriotischen Willen bestimmt wurden, über die Parteiinteressen hinaus dem Gemeinwesen durch die Lösung seiner akuten Probleme zu dienen. Heute stehen sich die Koalitionspartner trotz aller ostentativen Harmonie einander eher lauernd gegenüber. Insbesondere aber überwiegen heute in allen Parteien die reinen Berufspolitiker und Parteisoldaten, die nach dem Wort Max Webers weniger für die Politik und das Gemeinwesen leben als von der Politik, die über Seilschaften und in Kungelrunden auf ihre Posten kamen und ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Rang vor allem der Partei und ihrem Apparat verdanken, für die nicht Überzeugungen, sondern der bloße Tageserfolg zählt. Die derzeitigen Generalsekretäre der beiden sogenannten Volksparteien verkörpern geradezu Prototypen dieser tiefgreifenden Veränderungen im Personal unserer politischen Klasse seit 30 Jahren. Man wird diese parteistrukturellen Veränderungen fest im Auge behalten müssen bei der Beurteilung gerade auch der Regierung Merkel-Müntefering.
Nun beginnt jedoch die Stimmung zu schwanken, wenn nicht umzuschlagen. Die "großen" Medien formulieren Einsichten und Urteile, die noch vor wenigen Wochen undenkbar waren, es sei denn in konservativ-"rechten" Organen wie derVerlegerin Die "Welt", das Springer-Flaggschiff, dessen Urteilsschärfe freilich nicht selten schwankt, veröffentlichte auf der hervorgehobenen dritten Seite einen großaufgemachten Beitrag von Ansgar Graw ("CDU - Außer Form"), der mit ungewohnter Deutlichkeit darauf hinweist, daß die Union "in den großkoalitionären Harmonieübungen sich selbst abhanden kommt", sie ihre Reformpositionen aus dem Wahlkampf inzwischen "reihenweise geräumt" hat und auch in der Bundestagsfraktion der Unmut darüber heftig wachse.
Es sind nicht nur die Ankündigungen der "Steueränderungsgesetze" mit ihren Einschnitten wie der Kürzung der Pendlerpauschale und anderer Steuersubventionen, die diesen Unmut hervorrufen. Es ist vor allem die Preisgabe von Grundpositionen der Union etwa beim sogenannten "Antidiskriminierungsgesetz", das die Unionsunterhändler wie die rheinische Frohnatur Wolfgang Bosbach weitgehend schluckten, zum Teil in seltsamen "Kompromissen" gegen die künftige faktische Mehrwertsteuerbefreiung für die Landwirtschaft. Solcher Glaubwürdigkeitsverlust in der Politik hat nun auch in der Unionsfraktion des Bundestages Aufbegehren ausgelöst und den Vorwurf, der bisher nur bei der konservativen Rechten erhoben wurde, die Union betreibe eine "Politik ohne Überzeugungen" und verliere bei Mitgliedern und Wählern einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit.
Ebenfalls in der zweiten Mai-Woche beendete auch der "Spiegel" die Schonfrist gegenüber Regierung und Kanzlerin und meldete Zweifel an, ob sie eine Kraft der Reform und des Aufbruchs werde. "Statt die Probleme des Landes mutig anzugehen, einigen sich die Regierungsparteien stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie verteilen Geld, das sie nicht haben, und beschließen neue Belastungen. Die Kanzlerin beschränkt sich aufs Modernisieren." In derselben Nummer veröffentlicht der "Spiegel" ein Inter view mit Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, das immerhin den Umriß einer Reformpolitik mit Vernunft und Verantwortung zeichnet und sich von der bisherigen, vor allem sozialdemokratischen Programmatik des "fürsorglichen Staates, der sich um alles und jeden kümmert", verabschiedet, jener "Überschätzung des Staates und seiner Handlungsmöglichkeiten, als ob Politik und Staat den Menschen alle Risiken vom Halse halten könnten", eine Illusion, der Politiker aller Parteien unterlagen. Hier weist immerhin ein moderner Sozialdemokrat den Weg in die richtige Richtung aus der Sackgasse der Politik der letzten Jahre, als die sozialliberale Koalition 1969/70 den Weg in den Schuldenstaat begann, ein Weg, für dessen Kritik Konservative und Patrioten immer wieder Prügel bezogen und außerhalb des Verfassungsbogens gestellt wurden.
Die Frage ist freilich auch heute, da - 20 Jahre zu spät - auch Sozialdemokraten den Ernst der Lage erkennen, ob dem Reformer Steinbrück die Klientel seiner Partei in der Mehrheit folgen wird. Und damit eng verknüpft ist die andere Frage, ob die Kanzlerin in der Lage sein wird, ihren bisherigen, oft schwankenden und "populistisch" anpasserischen Kurs zu beenden und eine Politik mit Überzeugung aus Einsicht zu führen.
Was die Deutschen heute brauchen, ist jedenfalls mehr die Standfestigkeit und Stetigkeit Konrad Adenauers als der Populismus Helmut Kohls, und Angela Merkel wird sich erst noch zwischen beiden Wegen zu entscheiden haben. Und nicht zuletzt: Wird eine Politik des liberal-konservativen Adenauer-Stils mit dem heutigen Personal unserer politischen Klasse überhaupt zu machen sein? Wege aus den Sackgassen zeichnen sich deutlich genug ab. Doch Zweifel drängen sich auf, ob wir in der Lage sind, sie zu beschreiten. |
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