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Rußland zieht die Notbremse: Mit einem neuen Gesetz werden die Möglichkeiten zur legalen Abtreibung drastisch eingeschränkt. Bislang konnten Frauen ihre ungeborenen Kinder bis zwölf Wochen nach Eintritt der Schwangerschaft töten lassen, weil sie nicht verheiratet, zu arm oder arbeitslos waren, über eine zu kleine Wohnung verfügten oder aber bereits drei Kinder hatten. Insgesamt 13 Gründe zur Abtreibung kannte die alte Regelung von 1992, die nun auf gerade vier reduziert wurden: Die werdende Mutter muß vergewaltigt oder in Haft sein, einen behinderten Ehemann haben, oder einer der beiden Eltern wird vom Gericht für unfähig erklärt, seinem Erziehungsauftrag nachzukommen - nur dann darf das Kind abgetrieben werden.
Hinter der neuen Regelung steht neben dem wachsenden Einfluß der Kirche vor allem eine dramatische Entwicklung der russischen Bevölkerungszahl. Vor wenigen Tagen lieferten die Statistiker Zahlen im Kreml ab, die Panik auslösen: Allein von Januar bis August dieses Jahres schrumpfte die Zahl der Einwohner Rußlands um 506.000 auf nur noch 144,5 Millionen. Vor zehn Jahren besiedelten das der Fläche nach größte Land der Erde noch 149 Millionen Menschen. Wissenschaftler fürchten, daß sich die Einwohnerzahl bis 2050 sogar auf 77 Millionen halbieren könnte. Die optimistischste Prognose peilt für die Jahrhundertmitte 122 Millionen Bewohner an. Aus beiden Berechnungen ziehen die Demographen den "realistischen", im Grunde aber katastrophalen Wert von nur noch 101 Millionen Russen 2050.
Der rasante Rückgang hat mehrere Gründe. Bis Anfang der 90er Jahre wurden in etwa so viele Kinder geboren, wie Menschen starben. Seitdem grassiert ein gewaltiges Geburtendefizit. So wurden im genannten Zeitraum von Januar bis August 873.100 Kinder geboren, während 1,4 Millionen Menschen starben. Hinzu kam seit Ende der 80er Jahre eine massive Abwanderung. Insbesondere Rußlanddeutsche und ihre Angehörigen sowie russische Juden verließen millionenfach das Riesenreich. Dieser Aderlaß konnte nur zum Teil durch Neubürger russischer Nationalität aus ehemaligen Sowjetrepubliken ausgeglichen werden. Auch ist die Lebenserwartung besonders der russischen Männer alarmierend niedrig: Sie werden im Durchschnitt nicht einmal 59 Jahre. Zum Vergleich: Deutsche Männer erreichen im Schnitt 74 Jahre, Frauen gut 80, ihre russischen Geschlechtsgenossinnen sterben im Schnitt immerhin erst mit 72 Jahren.
Eine wesentliche Ursache für das Geburtendefizit sieht die russische Führung in der gewaltigen Zahl von Abtreibungen. Auf zehn Geburten kommen in der Föderation 13 Schwangerschaftsabbrüche. Seit langem kursieren entsetzliche Berichte über die Zustände in Rußlands Abtreibungs-Stationen. Die Eingriffe führen nicht selten zur dauernden Unfruchtbarkeit der jungen Frauen. Viele treiben ab, weil sie noch minderjährig sind, können aber als Folge der Operation auch im Erwachsenenalter keine Kinder mehr bekommen.
Ein sich langsam entleerendes Rußland kann für Europa beträchtliche Folgen haben. Die Entvölkerung tritt nicht gleichmäßig über das ganze Land verteilt auf. Während gerade junge Menschen in die großen Ballungsräume wie Moskau oder Sankt Petersburg strömen, drohen abgelegene Regionen regelrecht auszusterben, etwa in Sibirien. Südlich der gewaltigen Landmasse zwischen Ural und Pazifik dürstet das erheblich übervölkerte China mit seinen bereits über 1,3 Milliarden Menschen nach Land. Die Geschichte lehrt, daß von Landnot geplagte Zivilisationen irgendwann auf das Territorium erreichbarer, dünnbesiedelter Gebiete ausgreifen. So geschehen in der weitestgehend friedlichen deutschen Ostkolonisation des Mittelalters oder der gewaltsamen Besiedelung Amerikas durch die Europäer seit dem 16. Jahrhundert.
Sollte eine Wanderungswelle allein im Ausmaß des jährlichen chinesischen Geburtenüberschusses (in den 90er Jahren gut ein Prozent, also rund 13 Millionen) komplett nach Sibirien drängen, wäre jenes Land, das halb Asien bedeckt und dabei kaum 28 Millionen Einwohner zählt, binnen kurzer Zeit chinesisch dominiert. Eine solche Expansion wird durch die Wetterentwicklung noch beflügelt. Seit dem Ende der "Kleinen Eiszeit" (14. bis 19. Jahrhundert) wird es auch zwischen Kasachstan und dem Eismeer langsam wärmer. Das landwirtschaftlich nutzbare Gebiet dehnt sich nach Norden aus, der Permafrostboden zieht sich zurück. Forscher halten es für möglich, daß das Nordpolarmeer im Sommer in hundert Jahren ganz abtauen könnte, womit sich für die Nutzung Nordrußlands und insbesondere Nordsibiriens völlig neue Möglichkeiten eröffneten, die einem aus allen Nähten platzenden China kaum verborgen bleiben werden, während sich die Russen, demographisch bedingt, nach und nach zurückziehen.
Sibirien entleert sich, 1,3 Milliarden Chinesen dürsten nach Land |
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