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Sibirischer Christus oder Scharlatan ? Interesse der Russen an Grigorij Rasputin wächst wieder

 
     
 
Männer und Frauen versammelten sich bei Nacht in einer Hütte oder auf einer Waldlichtung. Sie riefen den "höchsten Geist" an und sangen Lieder, sie führten Rundtänze auf, die immer rasender wurden. Allmählich gerieten sie in einen Taumel und fielen in Verzückungen und Krämpfen zu Boden. Der Anführer geißelte diejenigen, die in ihrem Eifer nachzulassen drohten. Und dann, erfüllt und berauscht vom direkten Kontakt mit dem "Wort", vereinigten sich die Paare. "Der Gottesdienst
endigt in abscheulichen Szenen von Unzucht, Geilheit, Blutschande", beschreibt Frankreichs Botschafter Maurice Paléologue in seinem Buch "La Russie des Tsars pendant La Grande Guerre" die Exzesse einer mystischen Sekte im vorrevolutionären Rußland. Man nannte sie "Chlysty", deutsch: Flagellanten. Der Berühmteste aus ihrer Mitte ist unter dem Namen Rasputin in die Weltgeschichte eingegangen.

Im Zuge des Geschichtsrevisionismus im postsowjetischen Rußland taucht sein Name immer öfter aus dem Dunkel der Vergangenheit auf, so auch im Zusammenhang mit der bevorstehenden Heiligsprechung der 1918 ermordeten Zarenfamilie, deren Gebeine am 18. Juli heuer in der Kathedrale der Peter- und Paul-Festung beigesetzt wurden.

Unter den Romanow-Knochen befinden sich die sterblichen Überreste des vierzehnjährigen Thronfolgers Alexej. Den Knaben soll, so berichtet eine monarchistische Legende, Rasputin vor dem Tode gerettet haben. Das Kind litt an Hämophilie. An dem Bluter habe ein Analphabet, ausgestattet mit magnetischen und hypnotischen Kräften, ein Wunder der Heilung vollbracht.

Wer war dieser Rasputin? Sein Todestag ist bekannt, der 30. Dezember 1916. Rasputins Geburtsjahr dagegen blieb bis heute ein Geheimnis. 1864, 1865 oder erst 1872? Seit 1905 weilte er am Zarenhof, eine graue Eminenz, eine Art Schattenkaiser, der Minister, Generäle, Bischöfe, Kammerherren, Gouverneure, Senatoren, Hofdamen, Staatsbeamte ernennen oder davonjagen konnte, beschützt und verehrt von Zarin Alexandra, die in Rasputin einen Heiligen sah, das "von Gott auserkorene Kind".

"Er beherrschte, betäubte, unterjochte das Zarenpaar", schildert als Augenzeuge der Franzose Maurice Paléologue. "Es war fast Zauberei. Er tat dieses nicht etwa durch Schmeichelei, ganz im Gegenteil. Vom ersten Tage an behandelte er sie fast grob, mit einer plumpen, naiven Vertraulichkeit - und das Herrscherpaar, angewidert von der ewigen Schmeichelei und Speichelleckerei, glaubte darin die ‘Stimme des russischen Bodens’ zu erkennen."

Für die einen war Grigorij Jefimowitsch Rasputin tatsächlich ein "boschij tschelowek" (Gottesmann), der "sibirische Christus", ein Wunderheiler, Gesundbeter, Apokalypseprophet, die "Stimme des russischen Volkes". Anderen erschien er als Abenteurer, Wüstling, Schamane, während wieder andere in ihm einen Wucherer, Kuppler, Falschspieler sehen wollten, den Teufel persönlich.

In einem waren sich aber alle einige: dieser Bauer erwies sich als ein "guter Psychologe" (Trotzkij).

Geboren in einem elenden Dorf an der Grenze von Westsibirien, zwischen Tjumen und Tobolsk, besuchte er nie eine Schule, ging auch nicht zur Kirche. Sein Vater war ein einfacher Muschik, ein Trunkenbold, Viehhändler und Pferdedieb. Er hieß Efim Nowy. Der Spitzname "Rasputin", dem jungen Nowy alsbald von seinen Kumpanen verliehen, ist bezeichnend für seine damalige Lebensführung. Er ist ein Ausdruck der Bauernsprache, abgeleitet von dem Wort "rasputnik", das Wüstling, Tagedieb, Schürzenjäger bedeutet. Grigorij bekam von den Vätern geschändeter Mädchen häufig eine Tracht Prügel und wurde auch öffentlich auf Befehl des Polizeichefs ausgepeitscht.

Eines Tages fand er seinen Weg nach Damaskus. Die Ermahnungen eines Klosterpriesters erweckten plötzlich in ihm mystische Triebe. Rasputins überschäumendes Temperament, seine ausschweifende Sinnlichkeit und schrankenlose Phantasie trieben ihn einer Sekte in die Arme, die ihren Durst nach dem Geheimnisvollen und ihren Drang nach dem Absoluten in esoterisch-erotischen Andachtsübungen auszuleben pflegte. New Age auf grobe Art im alten Rußland vor hundert Jahren. Rasputin stieß zu den "Chlysty", er wurde Flagellant. Und was für einer! Seine physischen und rhetorischen Leistungen bei den nächtlichen Exzessen verschafften ihm eine große Volkstümlichkeit unter der Dorfbevölkerung im Wilden Osten Rußlands. Gleichzeitig entfaltete sich seine Anlage zum Mystizismus. Er durchwanderte die Dörfer, deren Menschen sich von der offiziellen Kirche längst losgesagt hatten, hielt Ansprachen und erzählte Gleichnisse. So steigerte er sich in Prophetentum und Beschwörungen hinein. Er brüstete sich sogar, Wunder vollbracht zu haben.

In ganz Westsibirien zweifelte niemand mehr an seiner Heiligkeit, aber selbst in dieser Periode hatte er Zusammenstöße mit Polizei und Justiz wegen krimineller Ausschweifungen. In Tobolsk verführte er eine verheiratete Intellektuelle von großer Frömmigkeit. Rasputin versetzte sie in solche Ekstase, daß sie überall herumlief, um ihre Leidenschaft herauszuschreien und sich ihrer Schande zu rühmen. Rasputin wäre es dabei schlecht ergangen, hätten ihn nicht die kirchlichen Oberen schon damals unter ihren mächtigen Schutz genommen. Das orthodoxe Rußland, der Dekadenz verfallen, dürstete nach "Heiligen", auch wenn es nur Scheinheilige waren, Verführer, nicht Erlöser. Jedes sterbende Regime geht mit den Rasputins schwanger.

Durch seine "Wundertaten" nahm Rasputins Ruf als "Heiliger" von Tag zu Tag zu. Das Volk kniete am Straßenrand nieder, wenn er vorbeiging. Man küßte seine Hände, berührte seinen Kittel und rief "unser Christus, unser Heiland, bitte für uns arme Sünder! Gott wird dich erhören!", und er antwortete: "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sage ich euch, meine kleinen Brüder! Christus wird bald erscheinen. Kasteit euch im Fleische aus Liebe zu ihm!"

1905 hatte der Archimandrit Theophanes, Rektor des Theologischen Seminars in Sankt Petersburg, ein Prälat von persönlicher Integrität und absoluter Unbestechlichkeit, zudem ein Beichtvater der unglücklichen Zarin, den schicksalhaften Einfall, Rasputin zu sich zu berufen, "um die wunderbaren Einwirkungen der göttlichen Gnade auf diese unschuldige Seele zu prüfen". Gerührt von Rasputins aufrichtigem Eifer nahm ihn der Beichtvater unter seine Fittiche.

Die Pforte zum Zarenpalais und die Türen zu den Gemächern der Kaiserin waren aufgestoßen. Als Alexandra sah, daß Rasputin die Kraft besaß, die Leiden des Zarewitsch zu lindern, wurde sie dem "Gottesmann" hörig. Sie glaubte sogar, er sei die Stimme Gottes auf Erden.

Hörig ja, aber nicht im Sexuellen. Es gab eine Grenze, die der Frauenheld nie überschritt. Der Bauer war mehr als schlau, er war klug.

Gegen den Vorwurf, Rasputin habe sexuelle Beziehungen zur Zarin und zu den Zarentöchtern unterhalten, nimmt ihn sein Geheimsekretär und Finanzmanager Aron Simanowitsch in Schutz. Gewiß, Alexandra und ihre Kinder hatten in ihm einen "treuen Freund", aber: "Seine Beziehungen zu ihnen waren ausschließlich väterlicher Art. Die ganze Zarenfamilie glaubte an die göttliche Sendung Rasputins." Alles andere wären "verleumderische Intrigen" und "schmutzige Gerüchte" gewesen, urteilt Simanowitsch in seinen Memoiren (erwähnt von Leo Trotzkij in seinem Werk "Geschichte der Russischen Revolution").

Was Rasputin schließlich zu Fall brachte, waren nicht Intrigen und Gerüchte dieser Art. Rasputin wurde ein Opfer der großen Politik. Eindringlich warnte der "Gottesmann" den Zaren vor einem Krieg gegen Deutschland. Der Krieg würde die Revolution beschleunigen und die Romanow-Dynastie unter sich begraben. Die Todesschüsse im Keller der Ipatjew-Villa am 18. Juli 1918, Rasputin ahnte das Unheil, und der Prophet sollte recht behalten.

General Kurlow, Chef der zaristischen Polizei, sagte von Rasputin, er haben "den Krieg mit Deutschland als ein großes Unglück für Rußland betrachtet".

Nach Ausbruch des Krieges, noch vor der Schlacht bei Tannenberg, beschuldigte man Rasputin der Deutschfreundlichkeit, ja des "Germanophilentums", und sogar der direkten Verbindung mit dem Feinde. Trotzkijs nüchterne Feststellung: "Für die Verbindung der Rasputinleute mit dem deutschen Generalstab waren auch nach der Revolution keinerlei Beweise zu entdecken."

Simanowitsch dagegen bezeugt, daß Rasputin nach den Niederlagen der Jahre 1914, 1915, 1916 "hartnäckig" bemüht gewesen sei, einen deutsch-russischen "Sonderfrieden" zu verwirklichen, um die Monarchie zu retten.

So wurde Rasputin - in der Erkenntnis der Leiden des einfachen Volkes als Folge eines sinnlosen Krieges - zum Haßobjekt Nummer eins einer verschwörerischen antideutschen Partei, an ihrer Spitze Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch, der auf Drängen Rasputins 1916 als Oberbefehlshaber der Armee abgesetzt wurde - in die Wüste geschickt von Nikolaj II., der das Oberkommando selbst in die Hand nahm.

Anfänglich wollten die Putschisten die deutschblütige, angeblich landesverräterische Alexandra, eine gebürtige Prinzessin Alix von Hessen, ermorden. Der Tod Rasputins würde die Verhaßte seelisch töten, meinten die Verschwörer. Zu ihnen gehörten der mit einer Romanowa verheiratete Fürst Jussupow und der Großfürst Dimitrij Pawlowitsch. In der Nacht zum 30. Dezember 1916 wurde Rasputin, den man zu einem Trinkgelage verlockt hatte, im Jussupow-Palast bestialisch abgeschlachtet.

Die Putschisten boten Rasputin zunächst vergiftete Kekse und Zyankali-Wein an. Als das Gift nicht wirkte, schossen sie rücklings auf ihn und prügelten ihn schließlich zu Tode, warfen den Leichnam in die Newa.

Man könnte das Attentat als Auftakt zur Revolution werten. Doch der Mord ging nicht auf das Konto von Antimonarchisten, vielmehr von extremistischen Monarchisten, verblendeten Deutschlandfeinden und Antisemiten, die den Hofstaat von Nikolaj und Alexandra säubern, den Krieg verlängern und der Entente einen Beweis der Loyalität demonstrieren wollten.

Nach der Ermordung Rasputins bestand die Monarchie insgesamt noch zehn Wochen. Was dann folgte, waren fast acht Jahrzehnte eines roten Holocaust, in dem, laut Solschenizyn, ca. 66 Millionen Russen ihr Leben verloren, auf die Schlachtbank der grausigsten Utopie der Weltgeschichte getrieben. Rasputins Prophezeiung sollte sich auf schreckliche Weise erfüllen.

Seine Gebeine existieren nicht. Als die Romanows als Gefangene der Provisorischen Regierung in Zarskoje Sjelo ihrer Auslöschung entgegenschliefen, warfen Soldaten sein Grab auf und öffneten den Sarg. Neben dem Kopfe des Ermordeten lag ein Heiligenbild mit der Aufschrift: Alexandra, Olga, Tatjana, Maria, Anastasia, Alexej. Die Provisorische Regierung schickte einen Kommissar, um die Leiche nach Petrograd schaffen zu lassen. Der bolschewistische Mob widersetzte sich, und der Kommissar mußte die Leiche an Ort und Stelle verbrennen.

Aber ist Rasputin wirklich tot? Heute tanzen Flagellanten im demokratischen Gewande um einen Götzen namens Mammon. Das Goldene Kalb mit dem Dollar auf der Stirn. Rasputin könnte wiederkommen, als Rächer des erniedrigten Volkes.

 
     
     
 
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