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Spielt Paris mit der Geschichte?

 
     
 
Das Treffen war ein Rückschlag. Die deutsch-französische Freundschaft ist möglicherweise in Gefahr, und Berlin scheint das noch nicht einmal zu merken. Zum ersten Mal in den letzten dreißig Jahren sind sich die Regierungschefs des Kernbündnisses in Europa, der zwei Nationen Frankreich und Deutschland, vor einem historischen Treffen nicht einig. In Hannover konnten sich Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder nicht darüber verständigen, wie die Stimmengewichtung im Entscheidungsorgan der EU, dem Ministerrat
, demnächst aussehen soll. Das kann Folgen haben. Wenn es auch in Nizza beim EU-Gipfel Ende der Woche keine Einigung gibt, steht das Kernbündnis vor der Spaltung.

Dabei war die Entwicklung abzusehen. Deshalb werden die Franzosen, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehaben, schon seit einiger Zeit zunehmend nervös. Solche gewitterträchtigen Aufwallungen bleiben selten ohne Folgen, irgend jemand steht dann immer im Regen. Diesmal könnten es die Franzosen selber sein, und das paßt nicht in das Glorienbild der französischen Diplomatie. Also sucht man beizeiten einen Sündenbock, und dafür sind die Deutschen meistens gut. Der Ärger fokussierte sich zunächst auf eine Art Fehde zwischen Bundesaußenminister Fischer und dem französischen Europaminister Moscovici. Moscovici ist ein Politiker, dem zu Recht ein hohes Maß an Arroganz nachgesagt wird und der bei der Vorbereitung dieses Gipfels ungeschickt, ja tölpelhaft hantierte. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die deutsch-französische Freundschaft liegt seit einiger Zeit schon im argen. Das hat mit der internen Situation des Dauerwahlkampfs in Frankreich um die Präsidentschaft zu tun und mit der Unfähigkeit von Schröder und Co., für die Verhältnisse an der Seine Verständnis aufzubringen. Das wurde auch durch die zu erwartende betonte Herzlichkeit zwischen Chirac und Schröder auf dem Gipfel in Hannover nicht besser. Im Gegenteil, die krampfhaften Bemühungen, Einigkeit zu demonstrieren, unterstreichen nur den persönlichen und inhaltlichen Dissens.

Solange die unprofessionellen Empfindlichkeiten nur das bilaterale Verhältnis berührten, konnte man darüber hinweggehen. Aber jenseits der kleinkarierten Probleme der Etikette und des Protokolls geht es um Europa, und da hört der Spaß der Eitelkeiten auf. Wer hat nur dem deutschen Kanzler geraten, mehr Stimmen im Rat zu verlangen als Frankreich? Glaubt man in Berlin wirklich, daß Chirac in einer so prestigegeladenen Frage nachgeben würde, ja nachgeben könnte, und das im Dauerwahlkampf um die Staatspräsidentschaft? Glaubt man wirklich, daß Paris auf einem EU-Gipfel in Frankreich als Verlierer eines Kompromisses dastehen will? Was für ein Mangel an diplomatischer Feinfühligkeit, was für eine kurze historische Perspektive! Das Argument der Demographie zieht bei den strategisch denkenden Franzosen nicht. An der Seine sagt man sich: Die Deutschen sind eine Nation der Schrumpfgermanen, in zwanzig Jahren oder früher schon wird es voraussichtlich so viel Deutsche wie Franzosen geben. Warum jetzt nachgeben und nachher mühsam korrigieren müssen? Auch beim Veto-Recht sieht es nicht nach einer Einigung aus. Da stehen schon die Briten vor. Sie werden an diesem Stück nationaler Souveränität festhalten und man darf sogar annehmen, daß in Paris und anderen Städten Europas nicht wenige mit dem Starrsinn Londons rechnen oder darauf hoffen. Einigen kann man sich bei der Neugewichtung in der EU-Kommission. Die hat sowieso nicht so viel zu sagen. Aber die Einigung darüber wird es ermöglichen, den Gipfel von Nizza immerhin zum Erfolg zu erklären und somit die Irritationen zu verdrängen.

Im Elysee fragt man sich jetzt, warum Berlin so starrsinnig auf mehr Stimmen als Frankreich pocht. Es kann den Deutschen doch nicht verborgen geblieben sein, daß für Macht und Größe nicht allein die Bevölkerungszahl ausschlaggebend ist. Wo bleiben der technologische Faktor, die Atomwaffen, der permanente Sitz im Sicherheitsrat, die Innovationskraft, die bei jüngeren Völkern größer ist als bei älteren, wo bleibt die Geschichte, die auch einen Faktor der Weltgeltung darstellt? Will man wieder der häßliche Deutsche sein, rücksichtslos und brutal, wenn es um die Durchsetzung nationaler Interessen geht?

Es ist in Paris nicht vorstellbar, daß man etwa die Atomkraft nicht berücksichtigt, weil man sie aus ideologischen Gründen nicht mag. Und da man derzeit an der Seine alles durch die innenpolitische Brille sieht, liegt der Gedanke nahe, daß die rotgrüne Regierung unter Schröder versucht, dem Genossen Jospin bei dem Rennen um die Präsidentschaft zu helfen. Chirac soll der Triumph eines erfolgreichen Gipfels verwehrt werden, selbst um den Preis einer Gefährdung der deutsch-französischen Freundschaft. Sollte jemals herauskommen, daß hier ein parteipolitisch-ideologisches Geschäft auf dem Rücken einer historischen Bindung gemacht wurde, haben die Sozialisten in Frankreich für längere Zeit ausgespielt. Und in Deutschland hoffentlich auch.

Es gibt kein Vakuum in der Politik. Wenn Nizza scheitert, wird das die Europa- und Politikverdrossenheit der Bürger verstärken. Maria Klausner

 
     
     
 
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