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Traditionsgefühl bestimmt die Geschicke

 
     
 
Die letzten Tage des alten Jahres haben einige längst verschüttet geglaubte Tatsachen wieder ans Tageslicht gerückt. Vor allem in Deutschland war - zumindest offiziell - die Auffassung verbreitet, es stehe in Europa und der Welt ein Zeitalter der allgemeinen Demokratisierung bevor - mit der Parole "Friede, Freude, Eierkuchen" als Motto. Nun haben zwei Ereignisse diese optimistische (oder genauer gesagt: unrealistische) Petersilie gründlich verhagelt.

Da waren einmal die Wahlen zur russischen "Duma" - dem Parlament der Russischen Föderation
. Die beiden westlich-liberalen Parteien flogen, obwohl oder weil sie die Sympathie des Westens genossen, aus dem Parlament. Die Kommunisten verloren über die Hälfte ihrer Stimmen. Gewinner war in erster Linie die Partei "Einiges Rußland" des amtierenden Staatspräsidenten Putin, ferner die Partei "Rodina" (Vaterland - die landläufige Übersetzung "Heimat" trifft den Kern des Begriffs nicht) sowie die Partei des im Westen für halbverrückt geltenden Schirinowskij, der sich "liberaldemokratisch" nennt, aber natürlich weder liberal noch demokratisch ist.

Betrachtet man das russische Wahlergebnis, so fällt auf, daß sich Rußland diesmal eigentlich getreu seinen historischen Vorgaben entschieden hat. Die russischen "Liberalen" - damals nannte man sie "Konstitutionelle Demokraten" (abgekürzt: Kadetten) - spielten am Vorabend und zu Beginn der russischen Revolution eine große Rolle. Sie und ihr damaliger Vorsitzender Miljukow stellten die Weichen bei der Zarenabdankung. Dann aber polarisierte sich die politische Situation - und plötzlich gab es nur noch zwei Grundströmungen: Auf der einen Seite die "roten" Revolutionäre, die bald unter die Kontrolle Lenins und der extremen Bolschewiken gerieten - und auf der anderen Seite die "weißen" Konterrevolutionäre: das heißt, die national-konservativen Kräfte. Zwischen beiden fand der Machtkampf in Form eines grausamen Bürgerkrieges statt: Rote Armee gegen Weiße Armee. Die Roten gewannen, nicht zuletzt durch das doppeldeutige Verhalten der Westmächte. Rußland wurde sowjetkommunistisch. Und wo waren die russischen Liberalen? Die Polarisierung hatte sie verschluckt.

Ähnliches vollzog sich dieser Tage im Reiche Putins. Die Bolschewiken in ihrer alten Brutalität gibt es nicht mehr, auch die "Weißen" sind nicht mehr entscheidend - aber wie damals gibt es in Rußland die Sehnsucht nach einem "starken Zaren", der nach innen Ordnung schafft und nach außen Rußlands Demütigung beendet. Ob Putin wirklich ein starker "Zar" sein will und kann, muß erst die Zukunft weisen - offenbar will er es wenigstens versuchen.

Hinter ihm stehen nationale bis nationalistische Kräfte. Interessant ist dabei, daß die russischen Wähler auf das Vorhandensein einer parlamentarischen Opposition offenbar keinen großen Wert legen. Die Duma ist ein Parlament ohne starke Oppositionsparteien. Bezeichnend ist nun die Reaktion des Westens beziehungsweise der meisten westlichen Medien: Weil die russischen Wähler sich mehrheitlich nicht so verhielten, wie man es von Wählern im Westen erwartet, entdeckte die europäische und amerikanische Öffentlichkeit plötzlich ein düsteres, autokratisches und diktatorisches Rußland - während man noch vor wenigen Tagen von Putin als dem großen Freund des Westens geschwärmt hatte.

In Wirklichkeit haben sich Rußlands Wähler getreu den russischen nationalen Traditionen verhalten. In Rußland hat es niemals eine parlamentarische Demokratie im westlichen Sinne gegeben. In Rußland spielte das Nationale (das Großrussische) und Imperiale immer eine wichtige Rolle. Selbst die Bolschewiken, die anfangs von der Weltrevolution schwärmten, kehrten bereits während des Bürgerkrieges 1918 bis 1920 zu imperialen, großrussischen Positionen zurück.

Nun mag es edelmütig und prinzipientreu sein, die Russen wegen ihres "falschen" Wahlverhaltens zu beschimpfen - politisch klug ist es sicher nicht. Der Westen hat sich nach dieser "Putin-Wahl" von einer seiner Hauptillusionen verabschieden müssen: Daß es nämlich genüge, den Russen ein westliches Mäntelchen umzuhängen, um ihnen auch die westlichen politischen Inhalte nahezubringen. Es kann aber nicht oft genug gesagt werden: Auch wenn Moskauer und Petersburger Lichtreklamen samt McDonalds und Coca-Cola etwas anderes in den Raum stellen: Rußland ist nicht identisch mit dem Westen.

Es wird auch in Zukunft ein unbequemer Partner (oder Gegner) sein. Allein schon, daß Putin den Oligarchen - das heißt den schon wegen ihrer Finanzmanipulationen pro-westlichen Finanzhaien - den Kampf angesagt hat, hat er sich einer wesentlichen westlichen Vorbedingung widersetzt. Das bringt ihm im Lande Zustimmung, im Ausland aber Kritik und Feindseligkeit ein. Eine Wahlparole der mit Putin verbündeten nationalistischen Partei "Rodina" lautete: "Gebt dem Volk die Profite aus den natürlichen Reichtümern Rußlands zurück!" Das ist eine für westliche Investoren nicht gerade vertrauenerweckende Forderung - die aber in den breiten Massen sicher auf Echo stoßen wird.

Wenn OSZE-Wahlbeobachter von einem Schritt rückwärts und einer Abkehr von der Demokratie sprechen, sieht es Putin ganz anders. Diese Wahlen seien ein weiterer Schritt zur Festigung der Demokratie, meinte der russische Präsident. Wer hat nun recht, fragen sich die einigermaßen verwirrten Beobachter. Man könnte antworten: beide. Es kommt nur darauf an, wer sich was unter "Demokratie" vorstellt. In Rußland aber dürfte sich eine eigene russische (auch eigenartige) Demokratie durchsetzen. Aber kann es Aufgabe des Westens sein, die Russen über Demokratie zu belehren? Wäre es nicht vernünftiger, die Russen selber darüber bestimmen zu lassen?

Auch wenn führende Exponenten der Putin-Garnitur betonen, es sei keine Rückkehr zu sowjetischen Zuständen geplant - daß wir es in Rußland zukünftig mit verstärkten Zwangsmethoden zu tun haben, unterliegt keinem Zweifel. Geht man einmal über Moskau oder Petersburg mit ihrem zum Teil falschen Talmiglanz hinaus, trifft man auf ein verarmtes, teils apathisches, teils auch ratloses und verzweifeltes Land, in dem Menschen ohne Zukunftsperspektive mehr vegetieren als leben. Es wird einer Herkules-Anstrengung bedürfen, um das von den Kommunisten innerlich verwüstete Rußland wieder auf die Beine zu stellen. Vielleicht ist es gescheiter, dieser Prozeß vollzieht sich nach russischen (für uns möglicherweise unverständlichen) Regeln? Gerade weil Rußland nicht zum Westen gehört, sollte man es nach eigenen Regeln leben lassen - und allenfalls darauf achten, daß es seine Nachbarn nicht bedroht.

Der zweite Fall von politischer Ernüchterung hat zumindest indirekt gleichfalls mit der russischen Frage zu tun. Vielleicht ist es manchen noch gar nicht aufgefallen - aber das Scheitern der Verhandlungen über eine EU-Verfassung hat einen schweren Interessenkonflikt zwischen Deutschland und Polen ans Tageslicht treten lassen. Es ist ein Konflikt von einer Schärfe, wie man sie seit dem Zweiten Weltkrieg (zumindest nach außen) nicht erlebt hat. So wie es fast wie eine List der Geschichte (Hegel) anmutet, daß eine linke, rot-grüne Regierung, deren Mitglieder noch vor wenigen Jahren als Straßenkämpfer, Radikalpazifisten und gewalttätige Demonstranten auftraten, heute eifrige Befürworter deutscher militärischer Interventionen sind - so hat sich auch unter Rot-Grün das angeblich so konfliktfreie und freundschaftliche deutsch-polnische Verhältnis bis zur Eiseskälte verschlechtert.

Plötzlich stellt sich heraus, daß deutsche und polnische Interessen etwa in der Frage der Gewichtung bei Abstimmungen gegeneinander laufen. Die Polen wollen, obwohl sie nur die Hälfte der Einwohner aufbringen, mit 40 Millionen ebensoviel Gewicht haben wie Deutschland mit 82 Millionen.

Das Motiv dahinter hat eine vom Fernsehen befragte polnische Korrespondentin in Brüssel offen angesprochen: Es sei der polnische "Nationalstolz" - und im Klartext muß es wohl heißen: der polnische Nationalstolz gegenüber Deutschland, der es nicht zuläßt, daß Polen in Europa eine geringere Rolle spielt als Deutschland. Und mit einem Male begegnen wir ihm hier wieder: der milden Form eines gewissen polnischen "Größenwahns", der ein traditionelles Erbteil dieses Volkes ist, das sich zwischen Hammer und Amboß, zwischen Deutschen und Russen (Moskowitern) behaupten mußte.

Daß man dabei auch bereit ist, das Veto in einem Verein zu strapazieren, dessen Mitglied man ja noch nicht einmal ist, gehört auch zu den historischen Traditionen. Der polnische Klein-adel hatte das Recht, im Adels- parlament der "Rzeczpospolita" des 18. Jahrhunderts, durch eine einzige - seine eigene - Stimme Gesetze zu Fall zu bringen. Der Begriff "Veto" hat also für viele Polen einen Klang von Freiheit.

Zusammengefaßt kann man sagen: die Russen haben sich wie Russen - und die Polen haben sich wie Polen benommen. Beider Verhaltensweisen bedeuten keineswegs eine Erleichterung der Situation. Es könnte auch zu Komplikationen kommen. Aber auf weite Sicht wird bestätigt, daß das Bewußtsein der Europäer nicht von der Brüsseler Bürokratie, sondern vom eigenen Traditionsgefühl bestimmt wird. Die Stunde der Wahrheit in Moskau und Warschau mag für manchen unverbesserlichen Optimisten bitter sein. Für jene, die realistisch auf Politik und Politiker blicken, ist sie eine positive Herausforderung.
 
     
     
 
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