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Warum und wie kämpften die deutschen Soldaten 1945 bis zum bitteren Ende, bis zum letzten Tage, obwohl jeder von ihnen seit Monaten wußte, daß der Krieg verloren war. Als pars pro toto diene hier das Beispiel der 12. Armee, auch Armee Wenck genannt. Wie war die Lage um die Monatswende März/April 1945?
Die Amerikaner standen im Raum Frankfurt/Aschaffenburg. Die Engländer standen südlich vor Bremen. Die Rote Armee stand an der Oder vor Küstrin. Über die Begleiterscheinungen im Osten schreibt der Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Freiburg/Potsdam, Joachim Hoffmann:
"Das Eindringen der Roten Armee in Ostdeutschland, Westpreußen und Danzig, in Pommern, Brandenburg und Schlesien war überall in gleicher Weise von Untaten begleitet, die in der neueren Kriegsgeschichte ihresgleichen suchen. Massenmorde an Kriegsgefangenen und Zivilpersonen jeden Alters und Geschlechts, Massenvergewaltigungen von Frau- en, selbst von Greisinnen und Kindern, unter ekelhaften Begleiterscheinungen, in vielfacher Weise, manchmal bis zum Tode hin, systematische Beraubung, Plünderung. Flüchtlingstrecks wurden von Panzern niedergewalzt oder zusammengeschossen. Männer, aber auch Frauen nach der Vergewaltigung durch herabspringende Tankisten und Infanteristen erschlagen und erstochen. Männer, die ihre Frauen und Töchter vor der Vergewaltigung zu schützen suchten, wurden erschossen."
Vorhergegangen war die Verteilung von Flugblättern in der Roten Armee, in welchen Stalins Propaganda-Chef Ilja Ehrenburg forderte: "Soldaten der Roten Armee! Tötet! Tötet! Folgt der Weisung des Genossen Stalin! Brecht den Rassenstolz der deutschen Frau. Nehmt sie Euch!"
In dieser Zeit bekam General Walther Wenck den Auftrag, im Raum Magdeburg-Bernburg- Dessau eine neue Armee aufzustellen, die 12. Armee. Sein Chef des Stabes wurde Oberst i. G. Günter Reichhelm, der heute noch lebt. Diese Armee sollte eigentlich gegen die Amerikaner nach Westen hin eingesetzt werden. In der "FAZ" vom 15. April 1995 schrieb der Militärschriftsteller Adalbert Weinstein dazu: "Die Phantomarmee hat inzwischen Gestalt genommen. Vorarbeiten des OKW (Oberkommando der Wehrmacht) wirken sich aus. Aus den Gebieten Deutschlands, die noch nicht vom Feind besetzt sind, treffen Stäbe, Kommandobehörden und Kommandeure ein. Die meisten können nur unter ständigem Beschuß der feindlichen Jabos mit der Eisenbahn in ihre Aufstellungsräume gelangen. Andere marschieren zu Fuß bis zum Gestellungsort. Auch auf Lastkähnen kommen sie an. Doch es mangelt an allem. Den höheren Stäben fehlen Fachpersonal und Nachrichtenmittel. Funker und Fernsprecher werden gesucht. Für die Soldaten aber sind nur Handfeuerwaffen geliefert worden.
Tatsächlich werden aus den Kriegsschulen Tausende von Offiziersanwärtern, Fahnenjunker und Unteroffiziersschüler geschickt. Die Arbeitsdienstlager stellen Arbeitsdienstmänner ab. Die Wehrkreisämter verpflichten die jüngste Wehrdienstgeneration zur 12. Armee. Eine jugendliche Elite versammelt sich. Die Personalstruktur der Führungskräfte ist einmalig: hochdekorierte Offiziere, die Überlebenden aller Feldzüge, Unteroffiziere mit Ritterkreuz, Obergefreite mit goldenen Verwundetenabzeichen. Generäle, die jede Gefahr mit der Truppe geteilt haben, führen die Korps (die keine sind) und die Divisionen (die Kampfgruppen ähneln)."
Wie das auf unterer Ebene aussah, schildert der mehrmals schwer verwundete Hauptmann Hermann-Christian Thomasius, der den Auftrag erhielt, im Rahmen des Aufbaus dieser Armee ein Bataillon aufzustellen:
"Die Mannschaften hierfür wurden von RAD-Einheiten, die mit 2-cm-Flak-Geschützen ausgerüstet waren, gestellt. Außer der Geschütz-Ausbildung hatten diese Jungens im Alter von 16 bis 18 Jahren keine infanteristische Ausbildung erhalten. Für das Unteroffizierskorps standen RAD-Führer und Fahnenjunker-Unter- offiziere aus den um Berlin stationierten Schulen zur Verfügung. Als Offiziere wurden junge, einsatzbereite Leutnants für die Kompanieführung dem Bataillon zugeteilt. Somit hatte das Führerkorps des Bataillons rein militärisch ausgebildete Organe."
General v. Tippelskirch schrieb nach dem Kriege, angesichts der außerordentlichen Überlegenheit der Alliierten sei das operative und materielle Gewicht der Armee zwar als "federleicht" in der Kriegsgeschichte einzustufen, doch ihre soldatische Leistung habe Anspruch auf "Unvergänglichkeit".
Weinstein schrieb: "Nach der turbulenten Aufbauwoche bringt die zweite bereits Kämpfe. In lebhaften Begegnungsgefechten trotzen die jungen Truppen den sieggewohnten amerikanischen und britischen Divisionen. Verblüfft stoßen diese zum ersten Mal wieder auf erbitterten deutschen Widerstand. Hinter Mulde und Elbe wird von Wenck eine Abwehrlinie bezogen. Sie dehnt sich von Wittenberge bis Wittenberg, über 120 Kilometer."
Dann aber blieben die Amerikaner an der Elbe, welche die Demarkationslinie zu den Russen bilden sollte, stehen. Und nun wurde die 12. Armee durch den Großangriff der Russen, der auf Berlin zielte, in eine neue Lage gebracht. In seinem Buch "Deutschlands Generale des Zweiten Weltkriegs" schreibt Generalmajor Friedrich Wilhelm v. Mellenthin:
"General Wenck mußte mit einem Durchbruch der Russen nach Berlin rechnen. Damit war die 12. Armee im Rücken bedroht. Wenck entschloß sich schnell, an der Elbe nur schwache Sicherungen zu belassen und alle verfügbaren Kräfte auch aus Leipzig und Halle nordostwärts und ostwärts von Magdeburg zu versammeln, um zunächst eine Sicherungslinie gegenüber dem russischen Feind aufzubauen. Diese Bewegungen liefen bereits am 17. April an. Am 21. April rollten die ersten russischen Panzer, von Infanterie gefolgt, gegen die Sicherungen der 12. Armee ostwärts Belzig und wurden abgewiesen. Hitler befahl nun, daß die 9. Armee kehrtmachen sollte, um sich südlich Berlins mit der Armee Wenck zu vereinigen."
Oberbefehlshaber der 9. Armee war General der Infanterie Busse, der vorher Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Süd unter Manstein war.
Ganz Berlin hoffte natürlich auf die Rettung durch die Wunderarmee Wenck. Am 29. April, also einen Tag vor seinem Tod, gab Hitler seinen letzten Funkspruch an Jodl heraus: "Wo ist Wenck? Wann tritt er an?"
Mellenthin schreibt weiter: "Bis zum 28. April hatte Wenck seine Flanken im Süden bis Wittenberg und im Norden südostwärts Brandenburg so weit gesichert, daß er mit drei Divisionen aus dem Raum Belzig zum Angriff in nordostwärtiger Richtung antreten konnte. (Anmerkung des Autors: Hieran beteiligt war auch das Bataillon Thomasius, welches übrigens der Division direkt unterstand.) Es spricht für das Vertrauensverhältnis zwischen General Wenck und seinen jungen Soldaten - dem letzten Aufgebot nach fast sechs Jahren Krieg - , daß dieser Angriff in den letzten Tages des Krieges mit vorbildlichem Schwung vorgetragen, den Widerstand der Russen brach. Es gelang, in Beelitz 3.000 Verwundete zu befreien, deren Abtransport nach Westen sofort eingeleitet wurde. Mit dem linken Flügel der Angriffsgruppe wurde Ferch erreicht, über das sich die eingeschlossene Besatzung von Potsdam in die deutschen Linien rettete. Mit diesem geglückten Angriff war die Stoßkraft der 12. Armee erschöpft. Wenck war sich im klaren, daß eine Befreiung Berlins mit seinen schwachen Divisionen ohne Panzer und mit nur geringer Artillerie ein aussichtsloses Unternehmen war.
Noch aber durfte nicht an einen Rückzug gedacht werden, bevor nicht die Reste der 9. Armee den letzten Durchbruch durch die feindlichen Reihen durchgeführt hatten. Dank dem Aushalten der jungen Soldaten unter Wenck in bedrohlicher Lage, in der sie selbst jederzeit eingeschlossen werden konnten, strömten etwa 30.000 Mann durch die geschlagene Bresche und waren gerettet."
Weinstein schilderte das so:
"General Busse führt seine ausgepumpte Restarmee über Beelitz an den offensiv operierenden Ostflügel der 12. Armee heran. Wenck, immer noch im Gipsverband, fährt auf dem Motorrad von Brennpunkt zu Brennpunkt. In einem Schlauch zusammengedrückt, marschieren nun 40.000 Mann, die Letzten der 9. Armee, und Zehntausende Flüchtlinge auf die 12. Armee zu. General Busse, zum Skelett abgemagert, überwacht den Ausbruchskorridor. Ein Tiger-Panzer hält die Bresche offen, die in die feindliche Angriffsfront geschlagen wurde. Der deutsche Kampfwagen ist der einzige übriggebliebene seines Typs. Er schießt ein Dutzend russischer Panzer ab und hält aus, bis die Flüchtlingstrecks durch sind. Der Kampfgeist der Truppe, die Zähigkeit der Flüchtlinge haben entscheidenden Anteil an dem erfolgreichen Zusammenschluß gehabt. Doch sie verdanken ihre Freiheit vor allem der Führungskunst der Generale Wenck und Busse."
Wie das Ganze auf Bataillonsebene aussah, berichtet Hauptmann Thomasius:
"Der Angriff begann. Nach etwa 1.000 Meter waren bereits zwei von drei Sturmgeschützen abgeschossen. Der Russe saß mit seinen Panzern - eingegraben am Dorfrand - fest auf der anzugreifenden Höhe. Der Angriff konnte nicht fortgesetzt werden. Der Befehl lautete: Eingraben! Während der Nacht hörte man aus dem vorgelagerten Dorf Schreie - Schüsse - Grölen. In den ersten Tagesstunden, noch in der Dämmerung tauchten Gestalten vor unserer Linie auf, die ständig um Hilfe und "nicht schießen" riefen. Die vorderen Kompanien blieben gefechtsbereit und warteten das Näherkommen der Gestalten ab. Es waren etwa 30 junge Mädchen, die sich aus dem RAD-Lager, das sich in dem russisch besetzten Dorf befand, hilfesuchend zu uns "Jägern" durchschlagen konnten. Ihr Anblick war erschütternd: Kaum noch bekleidet, zerrissene Röcke, blutend im Gesicht, an den Beinen und am Körper. Die Mädchen weinten vor Erschöpfung. Sie waren alle von der russischen Soldateska vergewaltigt worden - den Berichten zufolge bis zu zwanzigmal. Derartig zugerichtete junge Frauen hatte bisher noch keiner der jungen Soldaten des Jägerbataillons erlebt. Die Mädel wurden in aller Eile vom Bataillon aufgenommen. Der Bataillonsarzt übernahm die sofortige Rückführung dieser zerschundenen jungen Frauen zum Hauptverbandsplatz und weiter zum Feldlazarett."
Weinstein schreibt:
"Die Armee Wenck leitet nun ihre Absetzbewegung auf die alte Elbefront ein. Rückzugsgefechte sind schwierige militärische Operationen. Die 12. Armee wird zum "wandernden Kessel". Sie zieht sich beiderseits der Linie Beelitz-Brandenburg-Tangermünde in westlicher Richtung zurück. Die aufgenommenen Truppen von Reimann und Busse sind eingegliedert. Von allen Seiten stoßen versprengte deutsche Einheiten hinzu. In seiner Mitte führt der Tag und Nacht marschierende Heerhaufen wie in den Zeiten der Völkerwanderung die Frauen und Kinder der Flüchtlingszüge mit. Verpflegung ist vorhanden. Die Wehrmachtslager sind noch nicht von den Russen ausgeraubt. Doch die Munition wird knapper. Und der Gegner versucht ständig, die Flanken der 12. Armee aufzureißen.
Wenck hatte den General v. Edelsheim beauftragt, mit den Amerikanern über eine Kapitulation zu verhandeln. Der Generalstabschef der 9. amerikanischen Armee ist bereit, alle deutschen Soldaten aufzunehmen. Ein Übersetzen der Flüchtlinge wird jedoch nicht gestattet. Als die Flüchtlinge von der amerikanischen Entscheidung erfahren, kommt es zu einer Panik. "Welch grausige Szenen sich am Elbufer unter den verzweifelten Flüchtlingen abspielten, muß verschwiegen werden", schreibt General v. Edelsheim. Die Armee Wenck läßt sich jedoch nicht abhalten, Kähne, Fähren, Flöße für die Flüchtlinge heranzuholen. Zwar schießen die Amerikaner auf jedes Boot, wenn Zivilisten den Strom überqueren wollen. Die Rettung glückt dennoch. Die Russen, zornig, daß ihnen die Beute zu entgehen scheint, verstärken ihr Artilleriefeuer auf die nun im Halbkreis umfaßte 12. Armee. Russische Granaten explodieren dabei auch in amerikanischen Stellung westlich der Elbe. Die 9. amerikanische Armee räumt das Ufer. Mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrandes verbreitet sich die Kunde, daß nun niemand mehr den Übergang blockiere. In Ordnung ziehen am 4. und 6. Mai an die 200.000 Flüchtlinge in den Westen."
Mellenthin schreibt dazu:
"Das Übersetzen der Flüchtlinge geschah reibungslos, während die Kampftruppe, die nachstoßenden Russen immer wieder abwehrend, sich langsam absetzte. Der Lärm der Front rückte immer näher. Bis zum Abend dem 6. Mai gelang es überall, den Zusammenhalt an der Brückenkopffront zu wahren. Dann aber ging die Munition aus. Wenck befahl daher den Kommandanten der Elbübergänge den Übergang der nichtkämpfenden Truppe und der Flüchtlinge bis zum Morgen des 7. Mai zu beenden.
Mit den letzten deutschen Soldaten gingen am 7. Mai 1945 bei Ferchland auch General der Panzertruppen Wenck und sein Chef Oberst Reichhelm und einige Soldaten des Stabes in das letzte Boot.
Dieser letzte Kampf war nur möglich, weil die jungen, vier Wochen vorher noch kampfungewohnten Soldaten in soldatischer Pflichterfüllung bei hervorragender Moral und Disziplin ihren Mann standen."
Fototext: Am westlichen Elbufer: General der Panzertruppen Maximilian Reichsfreiherr von Edelsheim im Gespräch mit einer Flüchtlingsfrau
General der Panzertruppen Walther Wenck: Oberbefehlshaber der 12. deutschen Armee
Literaturangabe:
Heinz Guderian (Generaloberst, Chef des Generalstabs des Heeres): "Erinnerungen eines Soldaten"
Joachim Hoffmann (Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Freiburg/Potsdam: "Stalins Vernichtungskrieg 1941 - 1945"
Adalbert Weinstein (Militärschriftsteller, Militärexperte der "FAZ"): Abhandlung in der "FAZ" vom 15. April 1995
Friedrich Wilhelm v. Mellenthin (Generalmajor, zuletzt Chef des Stabes einer Armee): "Deutschlands Generale des Zweiten Weltkriegs"
Mitteilungsblatt Nr. 185 des Verbandes deutscher Jägertruppenteile: "Das letzte Jägerbataillon der Wehrmacht im Einsatz vor Berlin im April/Mai 1945"
Walter Lüdde-Neurath (Adjutant des Großadmirals und zuletzt amtierenden Reichspräsidenten Dönitz): "Die Regierung Dönitz - Die letzten Tage des Dritten Reiches |
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