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Entartet dekadent

 
     
 
In der DDR sollen, so lautet die Mär, die Arbeiter-und-Bauern- Kinder besonders großzügig gefördert worden sein. Doch nicht nur am Beispiel des bekannt gewordenen Schriftstellers Wolfgang Hilbig ließe sich das Gegenteil beweisen, sondern an einer Reihe in der DDR aufgewachsener Künstler, so auch an dem 1942 in Leipzig geborenen und dort bodenständig gebliebenen Maler Dietrich Gnüchtel.

Die Eltern waren in den Leipziger Verkehrsbetriebe
n beschäftigt, sein Vater zeitweise als Straßenbahnfahrer. Mit 14 Jahren lernte Dietrich den Beruf des Autolackierers, im gewissen Sinn mit Blick auf seine eigentliche Neigung: die Malerei. In einem Mal- und Zeichenzirkel, in dem keine Abweichung vom sozialistischen Realismus geduldet wurde, fiel er bereits mit leichten Abschweifungen aus dem Rahmen, so daß ihn der Zirkelleiter ermahnen mußte: "Malen Sie nicht, was Sie wissen, sondern was Sie sehen!" Ein bezeichnender Satz, der in einem totalitären Staat nicht als harmlos abgetan werden kann.

Trotzdem stellte ihm der angepaßte Staatskünstler eine günstige Beurteilung aus, damit er sich an einer Kunsthochschule bewerben konnte: "Seine steile künstlerische Entwicklung und der Ernst, mit dem er seine künstlerischen Arbeiten in Angriff nimmt, berechtigen zu der Annahme, daß Herr Gnüchtel eine Kunsthochschule mit Erfolg absolvieren wird." Es vergingen drei Jahre, bevor er auf vergebliche Bewerbungsversuche von der Maler-Professorin Lea Grundig einen ermunternden Brief erhielt: "Ich freue mich wirklich, Ihnen schreiben zu können, daß uns Ihre Arbeiten sehr gut gefallen haben. Ich finde, daß Sie ein gutes Farbgefühl, großen Ernst und echtes Talent haben." Doch zum Studium an die Dresdner Kunstakademie gelangte Dietrich Gnüchtel nie. Auf die Frage nach Vorbildern gab er zur Aufnahmeprüfung zu unbedacht die "Brücke"-Maler an. Diese Expressionisten, die schon unterm nationalen Sozialismus als "entartete" Künstler verfemt waren, galten im nachfolgenden internationalen Sozialismus bis weit in die sechziger Jahre hinein ebenfalls als "Auswüchse spätbürgerlicher Dekadenz".

Gnüchtel gab nicht auf, obwohl er von seiner Natur her keinesfalls zu den übermütig veranlagten Menschen gehört. Im Gegensatz zu seiner Arbeitswelt und dem ihn umgebenden sozialistischen Alltag konnte er sich wenigstens in seiner Malerei frei fühlen. Der Kunstkritiker Michael Hametner, der sieben Jahre ein verdecktes Leben als Stasi-Informant führte, schrieb in dem 1999 erschienenen Katalog "Gesammelte Bilder" treffend: "Zwischen Autolackiererei und Wohnen in einem heruntergekommenen Leipziger Quartier (...) glich ihm die Kunst seine bescheidenen Lebensumstände aus. War es da nicht folgerichtig, daß das zweite Leben das eigentliche wurde? Und war es nicht auch logisch, daß es für ihn trotz Erfolglosigkeit keinen Weg zurück gab?"

1968 lernte ich Dietrich Gnüchtel persönlich kennen, als er auf einer unangemeldeten, also verbotenen Lyriklesung erschien, die in einer Juninacht auf einem volkseigenen Motorboot mitten auf dem Stausee südlich von Leipzig stattfand. Dort wurde übrigens der "Arbeiterdichter" Wolfgang Hilbig entdeckt, der mit politisch brisanten Gedichten und einer neuartigen Sprache auffiel. Diese "Riverboat"-Lesung löste sowohl bei Staats- und Parteifunktionären als auch im Schriftstellerverband und vor allem bei der Staatssicherheit hektische Aktivitäten aus, zumal der Alptraum des "Prager Frühlings" sichtbar auf ihnen lastete. Das folgenreiche Ereignis sowie die kurz zuvor erfolgte Zwangsexmatrikulation eines Autorenkreises vom Literaturinstitut führte dazu, "daß sich in Leipzig erstmals eine unabhängige künstlerische Gruppierung bildete, die über mehrere Jahre Bestand hatte." In der Leipziger 210-Seiten-Publikation "Die Einübung der Außenspur" von 1996 steht dieser Satz, und dort heißt es weiter: "Um 1968 verbündeten sich Dietrich Gnüchtel und andere Maler mit den Schriftstellern Siegmar Faust, Wolfgang Hilbig und Gert Neumann im Geiste der französischen Künstlergruppe ,Nabis‘". Diese war Ende des 19. Jahrhunderts geeint gewesen von ihrer Revolte gegen den offiziellen Lehr- und Kunstbetrieb und die herrschenden Konventionen eines platten Materialismus ebenso wie von einem neuromantischen Idealismus, der den harmonischen Einklang von Kunst und Leben beschwor. Gnüchtel und seine Freunde, vom realsozialistischen Kunstbetrieb bedient, versuchten, unabhängig vom Künstler- oder Schriftstellerverband Ausstellungen und Lesungen in kirchlichen Räumen und privaten Wohnungen zu organisieren und, sich der Folgen dieses Alleingangs bewußt, einander auch wirtschaftlich zu unterstützen.

Gnüchtel gab hinfort seinen erlernten Beruf auf und konnte sich eine Zeitlang als Werbegrafiker über Wasser halten. Bald verschärfte die Regierung jedoch die Gesetze, so daß er als Autodidakt keine Aufträge mehr bekommen durfte. Deshalb verdingte er sich viele Jahre halbtags als Gärtner in einem Altenheim. Dem Freundeskreis gesellte sich bald eine Vaterfigur hinzu, der hochintelligente Lektor Heinz Kucharski, der einst zum Hamburger Flügel der legendären Widerstandsgruppe "Weiße Rose" zählte und angeblich seinem Todesurteil auf dem Weg zur Hinrichtung durch Flucht entkommen war. Der aus Dresden stam-mende Maler Michael Flade, ebenfalls Autodidakt, war ein Liebhaber jüdischer Kultur; Manfred May kam aus dem katholischen Milieu, brachte dem Kreis sakrale Kunst nahe, obwohl er sich in eigenen Versuchen ausgesprochen experimentell zeigte; Kucharski führte als studierter Orientalist und Philosoph exotische Religionen und Denkweisen ein; Andreas Reimann galt als formvollendeter Stilist und konnte einiges über Wolf Biermann berichten, mit dem er einst befreundet gewesen war; Gert Neumann empfand sich damals noch als kritischer Kommu-nist und schwärmte wie ich von Dubceks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"; die Schriftstellerin Heide Härtl, eine Offizierstochter, spielte in diesem Kreis die pragmatische Skeptikerin, ebenso Wolfgang Hilbig, der in einem Interview mit Dr. Klaus Michael sagte: "Ich hatte ja auch einen ganz anderen Hintergrund. Ich saß in der Produktion, da war kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Ich habe sie oft beschimpft und ihnen vorgehalten, daß sie doch verrückt sein müssen, an so etwas wie den Sozialismus zu glauben: Sucht ihr erst mal die Schrauben aus dem Sand raus, sagte ich ihnen, dann wißt ihr, wie das aussieht, in Leuna oder so."

Dietrich Gnüchtel hingegen war ein Suchender, Wißbegieriger, der sich nicht vereinnahmen lassen wollte und dennoch von allem beeindruckt wurde. Seine Malweise änderte sich fundamental. Wir nutzten damals besonders die Möglichkeiten der Deutschen Bücherei, um an westliche Literatur, Kunst und Philosophie heranzukommen, und diskutierten arglos darauf los, nicht ahnend, daß uns die Partei über ihre Mitarbeiter der Firma "Horch und Guck" Tag und Nacht beobachten ließ. Ausgerechnet Vertrauenspersonen wie der Dichter und Dompredigersohn Odwin Quast, der Lyriker Reinhard Bernhof, der exilgriechische Schriftsteller Thomas Nicolaou und besonders Heinz Kucharski, der uns das Fenster in die weite, vielgestaltige Welt der Religion und östlichen Philosophie aufgestoßen hatte, entpuppten sich neben einigen anderen während der Stasi-Akteneinsicht als Denunzianten.

Gnüchtel vertiefte sich einige Zeit sogar in die japanische Sprache, um in das östliche Denken eindringen zu können. Heide Härtl, Gert Neumann und ich wurden aus politischen Gründen von der exklusiven Schriftstellerausbildungsstätte, dem Leipziger Literaturinstitut "Johannes R. Becher", relegiert. Andreas Reimann wurde aus unserem Umfeld als erster wegen "staatsfeindlicher Hetze" inhaftiert. Michael Flade und ich gelangten ebenfalls bald in die Stasi-Mühle, so daß der Freundeskreis "zersetzt" wurde, um es mit einer Stasi-Vokabel zu sagen. Wir beide wurden 1973 und 1976 als Häftlinge in den Westen freigekauft. Der Versuch, vom Territorium des Klassenfeindes aus Kontakte zu alten Freunden herzustellen und zu pflegen, gestaltete sich schwierig. Gnüchtel schrieb dazu erhellend in einem Brief: "Glaube mir, es ist nicht immer leicht, sich verständlich zu machen. Freie Meinungsäußerung gilt nur für Euch, bei uns wird sie geahndet. Ich kann nur auf legale Art meine gesteckten Ziele sowie meine Auffassung von menschlichen Beziehungen anstreben und versuchen zu erreichen. Herzlichen Dank für Dein Paket, Dein Mitfühlen für unsere Situation und Deine wirtschaftliche Unterstützung." Michael Flade verhielt sich in der Haft standhaft und zeigte sich politisch reif. Er bekannte sich vor seinen Peinigern zu solchen Vorbildern wie Friedrich Nietzsche, Albert Camus, den Surrealisten sowie zu einer "bürgerlich-liberalen Weltanschauung". Umso schmerzhafter muß ihn nach seiner Freilassung im Westen die Hegemonie der Linken besonders in der Kultur und die zunehmende Anerkennung des SED-Regimes getroffen haben. Er nahm sich 1985, noch nicht einmal 40 Jahre alt, das Leben.

Wir waren in unserer so kleinen wie nicht anerkannten Künstlergruppe kaum politisch veranlagt, vor allem nicht machtpolitisch interessiert. Wir wollten uns lediglich dem Machtanspruch der alles beherrschenden Partei entziehen und nur etwas individueller, selbständiger, also erwachsener werden. Besonders die Maler unter uns, voran Dietrich Gnüchtel, konnten – im eigentlichen Sinne des Wortes – bildhaft ihre Distanz zur geforderten "Leitkultur" ausdrücken. Selbst Gert Neumann, damals noch SED-Mitglied, und ich, der bis zur Streichung im Frühjahr 1968 Kandidat der Partei war, suchten tastend durch oft fragwürdige Provokationen, satirisches Lästern oder Hinwendung zu anderen geistigen Ufern das übermächtige System zu entwaffnen. Gnüchtels Arbeiten zeugen bereits seit Jahren von dieser inneren, gewissermaßen vornehmen Entfernung, "die allemal zugleich die Sänftigung der Einfalt durch die Vielfalt ist: durch Entlastung von jenem einen Absoluten, das wir – als Wirklichkeit und als Gott – in seiner ungeteilten Macht nicht aushalten und nur ertragen, in dem wir sie durch eine Pluralität von Umgangsformen distanzieren", wie das treffend der Philosoph Odo Marquard auszudrücken verstand.

Dennoch bewarb sich Gnüchtel jahrelang vergebens, um in den Verband Bildender Künstler (VBK) aufgenommen zu werden, denn ohne diese Mitgliedschaft hatte er keine Verdienstmöglichkeit. In einem der Ablehnungsschreiben der Verbandsfunktionäre aus dem Jahre 1975 wurde ihm in Goebbels’scher Diktion sogar "eine starke Abseitigkeit des Denkens" vorgeworfen.

Erst kurz vor dem Mauerfall na
 
     
     
 
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