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Europa am Scheideweg

 
     
 
Das institutionelle Europa hat mit der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags durch die Franzosen und Niederländer den Gau erlitten, wie es Jürgen Habermas nennt. Doch der 29. Mai und 1. Juni 2005 waren nur der Beginn einer historischen Katastrophe. Großbritannien, Dänemark, Portugal und Tschechien verschoben ihr Referendum und mehrere Staaten die Parlamentsratifizierung auf unbestimmte Zeit. In jenen Ländern, in denen die Verfassung bereits ratifiziert war, wie in Deutschland, schlug die Stimmung gegen das Projekt um. Damit nicht genug. Wenige Tage später, am 16./17. Juni 2005, scheiterten die Staats- und Regierungschefs mit dem Versuch, sich über die Finanzierung der EU zu einigen. Statt mit einem positiven Signal wenigstens die Handlungsfähigkeit
des gouvernementalen Europa zu demonstrieren, stürzten sie ihr Projekt in ein noch größeres Desaster.

Die 25 Staats- und Regierungschefs hatten am 29. Oktober 2004 in Rom den Verfassungsvertrag feierlich unterzeichnet und den Völkern beziehungsweise Parlamenten zur Zustimmung, wohl weniger zur Abstimmung, vorgelegt. Die meisten Regierungen wollen nicht begreifen, daß ihre Unterschrift nichts wert ist, dieses Europa ohne die Völker gebaut wurde und mit der ersten Krise aus den Fugen geraten ist. Weil diese Krise den Beigeschmack einer Katastrophe hat, ist sie keine Chance für eine Fortsetzung des bisherigen Weges, sondern ein Auftrag zur Umkehr.

Konflikte zwischen den Regierungen gab es in der europäischen Integrationsgeschichte immer wieder. Neu ist die schlagartig sichtbar gewordene Kluft zwischen den politischen Eliten einerseits und deutlichen Mehrheiten in wichtigen Ländern der Gemeinschaft andererseits.

Weil die großen Parteien in fast allen EU-Ländern für die Verfassung eingetreten sind, ist die Krise nicht nur eine europäische, sondern auch eine der Mitgliedsstaaten. Kennzeichnend ist auch, daß die Ablehnung aus einer Allianz linker und rechter Kräfte gegen die jeweilige politische Mitte entstanden ist. Es handelt sich also nicht nur um eine europapolitische Vertrauenskrise, sondern um einen demokratischen Super-Gau. Die erste intensive Debatte in zwei westlichen Demokratien hat Brüssel-Europa nicht überlebt, zumindest ihm die demokratische Legitimation entzogen und die These bestätigt, wonach es außerhalb des Nationalstaats keine Demokratie gibt - nicht in Imperien, nicht in Reichen, nicht in der Europäischen Union.

Die Nationen, denen die Chance zu einem direkten Votum gewährt wurde, nutzten selbstverständlich die EU-Verfassung, um gleichzeitig gegen die jeweilige Regierung zu stimmen. Nichts spricht aber dafür, daß das Nein wesentlich anders ausgefallen wäre, wenn die Bürger nur das europäische Projekt im Auge gehabt hätten, denn die wirtschaftliche und soziale Krise ist allgegenwärtig.

Die Lissabon-Pläne von 2000, die USA wirtschaftlich zu überholen, sind kläglich gescheitert. Auch der Abstand zu den asiatischen Wirtschaftsregionen ist gewachsen. In keiner konkurrierenden Region ist das Wirtschaftswachstum so gering wie in EU-Europa. Die Massenarbeitslosigkeit in den größeren Ländern steigt, die Staatsverschuldung ebenfalls. Der EU-Umverteilungsprozeß von jährlich rund einer Billion Euro hat einzelnen Ländern wie Spanien oder Irland ungerechtfertigte Vorteile gebracht. Über 40 Prozent des EU-Etats wurden in eine planwirtschaftliche Landwirtschaft gepulvert, in Zukunftsinvestitionen wie Forschung und Entwicklung aber gerade mal vier Prozent investiert. Die EU hat, von überbordender Bürokratie und Korruption ganz zu schweigen, keine meßbaren Fortschritte für Europa gebracht.

Mit keiner Zahl ist zu begründen, daß die EU die Wirtschaft der Mitglieder insgesamt angekurbelt habe. Nur einige kleinere Länder haben von der Umverteilung profitiert. Aber der deutsche Außenhandel beispielsweise wäre auch ohne die EU gewachsen, so wie er sich mit der Schweiz und auch mit Österreich vor dessen Mitgliedschaft entwickelt hat. Die versprochenen Wachstumsimpulse durch die gemeinsame Währung sind ausgeblieben. Vielmehr hat der Euro als Konjunkturbremse gewirkt. Die wirtschaftlichen Erfolge Großbritanniens, das sich vom Pfund jetzt erst recht nicht mehr trennen will, sind dafür ein Indiz.

Die ökonomische Schwäche Brüssel-Europas ist nicht zuletzt durch Deutschland verursacht. Von der Wiedervereinigung bis 2002 hat Deutschland netto rund 143 Milliarden Euro (280 Milliarden D-Mark) überwiesen, obwohl für die Wiedervereinigung finanzielle Unterstützung durch die Union angemessen gewesen wäre. Mit der politisch gewollten Schwächung Deutschlands schadet sich die EU nicht nur wirtschaftlich: Deutschland ist nämlich nicht mehr in der Lage, den Konsens im "Ersatz-Vaterland Europa" herbeizufinanzieren.

Brüssel-Europa bietet auch keinen Schutz vor den Globalisierungsfolgen, sondern beschleunigt und verschärft die Globalisierung. Die schnelle Ausweitung der EU hat den Bürgern die existentielle Bedrohung der Globalisierung erst erfahrbar gemacht. Die EU hat den Arbeits- und Kapitalexport forciert und nicht gehemmt. Wer die Globalisierung fürchtet, kann nicht auf die EU hoffen, er muß sie besonders fürchten. Doch das Scheitern der EU-Verfassung ist für die Globalisierer eine Niederlage und ein Erfolg für die Demokratie.

EU-Europa hat seinen Anspruch, internationaler Akteur zu werden, nicht ernsthaft angestrebt, sonst hätte beispielsweise ein gemeinsamer EU-Sitz im UN-Sicherheitsrat zumindest diskutiert werden müssen. Statt dessen verteidigen London und Paris verbissen ihre Nachkriegsprivilegien. Der von Berlin massiv angestrebte ständige Sitz ist nicht zu erreichen, zumal auch andere EU-Partner wie Italien entschieden gegen diese Aufwertung Deutschlands angehen. Großbritannien fühlt sich mit seinen besonderen Beziehungen zu den USA als weltpolitischer Akteur stärker, wenn es europäisch nicht zu sehr eingebunden ist. Paris nutzt Deutschland gerne zur Stärkung seiner Rolle, aber möchte sie nicht teilen. Ein nach außen handlungsfähiges Europa gibt es nicht, weil die historisch bedingten Interessen der einzelnen Länder zu verschieden sind, eine organisatorische Einheit der europäischen Staatenwelt nicht existiert und die Grenzen ausfransen, was die Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei zur Glaubensfrage macht. Europa hat allenfalls eine Perspektive als "global payer", nicht aber als "global player".

Weil es der amtlichen Politik immer schwerer fällt, den Bürgern die Ergebnisse dieses europäischen Einigungsprozesses zu vermitteln, wird propagiert, die EU habe Europa den Frieden beschert. Wieder werden von Brüssel Erfolge beansprucht, die durch die politische Vernunft eingetreten sind. Der Frieden in Europa braucht keine EU-Verfassung. Deshalb hat deren Scheitern die bilateralen Beziehungen auch nicht beschädigt. Der institutionelle Zwang zur Begrenzung nationaler Egoismen sowie zu Verständigung und Kompromiß ist gewiß positiv, aber es werden auch - wie gerade jetzt deutlich wird - durch Fehlentwick-lungen der europäischen Integration Reibungsflächen und Spannungen geschaffen, die es sonst nicht gäbe. Und mit den geplanten Erweiterungen wird zusammengezwungen, was nicht zusammen gehört.

Der europaskeptische Bürger spürt, daß sich der Kompetenz- und Finanztransfer nach Brüssel in keinem politischen Sektor ausgezahlt hat. Der nationale Souveränitätsverzicht hat nicht zu einer gemeinsamen verstärkten Kompetenz geführt, sondern zu einem Europa der Massenarbeitslosigkeit, des fehlenden Wirtschaftswachstums und der außenpolitischen Bedeutungslosigkeit. Das Ganze ist weit weniger als die Summe seiner Teile, mehrere Teile sind auf verschiedenen Feldern sogar mehr als das Ganze. Mit der Ablehnung der EU-Verfassung wurde das Scheitern des europäischen Brüssel-Projekts manifest, gescheitert ist es schon lange. Der Unmut über die Europapolitik ist vermutlich nur deshalb nicht noch größer, weil die Idee Europa nicht noch mehr beschädigt werden soll.

Die Konferenz der Staats- und Regierungschefs scheiterte auf den Tag genau 190 Jahre nach der Schlacht von Waterloo 1815. Auch diesmal unterlag Frankreich und Großbritannien war bei den Siegern. Premierminister Tony Blair nutzte den Konflikt über die

Budgetfragen, um ein anderes Europa zu erzwingen mit weniger zentraler Lenkung und mehr Respekt vor den Ländern und Völkern. Dazu kann er seit Juli 2005 als Vorsitzender des Ministerrats Weichen stellen, zumal er unter den 25 Regierungen keineswegs isoliert ist.

Es geht nicht nur um eine Korrektur der europäischen Finanzen und Integrationspolitik, sondern auch um eine andere Machtstruktur. Das "perfide Albion" hat über die angeschlagene Achse Paris-Berlin gesiegt und wird ein anderes Europamodell begünstigen, das auf die Weiterentwicklung des Binnenmarktes zielt und wohl vor allem die Zuwanderung und Umweltfragen europäisch regelt.

Es ist wahrscheinlich, daß die traditionelle britische Europa-Position, aus welchen nationalen Interessen auch immer, der Realität der europäischen Staatenwelt besser entspricht als alle Pläne für einen europäischen Superstaat. Dies ist schon deshalb wahrscheinlich, weil es keine europäische Nation und keine europäische Volkssouveränität gibt. Vielleicht kam das Desaster gerade rechtzeitig, um die schlimmsten Folgen der Europa-Ideologie zu stoppen und mit einem bescheideneren und klugen Vorgehen jenen Weg zu finden, der die großen Möglichkeiten des Kontinents zur Entfaltung bringt.

Das Wort von Bismarck gilt immer noch: "Wer Europa sagt, hat seine eigenen Interessen im Auge." Allerdings gilt dies seit dem Zweiten Weltkrieg mit einer wichtigen Ausnahme: Westdeutschland und das wiedervereinigte Deutschland haben ihre Interessen nur sehr verhalten vertreten und jeden ernsthaften Konflikt gescheut. Vieles was Bonn beziehungsweise Berlin an Souveränitätsverzicht und Zugeständnissen erbracht hat, waren Vorleistungen, die nur bei einer Fortsetzung der europäischen Integration einen Sinn hätten. Deshalb trifft das europäische Desaster vor allem Deutschland, das auf seine Währung, auf Teile seines Territoriums und auf seine Souveränität "für Europa" verzichtet hat. Darauf sollte die deutsche Europapolitik nicht mit einem "Jetzt-erst-recht", sondern mit einer Neuorientierung antworten.

 

Der Autor dieses Beitrags, Dr. Alfred Mechtersheimer, ist Initiator und Leiter der Organisation "Unser Land - Wissenschaftliche Stiftung für Deutschland e. V." in Starnberg, die unter anderem das von ihm verfaßte "Handbuch Deutsche Wirtschaft" herausgibt, in dem es um den Aufkauf deutscher Unternehmen durch internationale Konzerne geht. In einer weiteren aktuellen Veröffentlichung ("Berlin - zwischen Paris und Moskau") werden die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Scheitern der Europäischen Verfassung behandelt (Autor: Dominique Damien, Paris).

 
     
     
 
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