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Freiheit um den Preis der Neutralität

 
     
 
Unter all den Ereignissen, deren runde Jahrestage heuer in Österreich begangen werden, war keines so bejubelt und ist bis heute keines so positiv in Erinnerung wie die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955: Einmal, weil "konkurrierende" Daten oft mit negativen Begleitumständen verbunden sind, vor allem aber, weil der Weg dahin so lange und frustbeladen war wie die Irrfahrten des Odysseus.

Obwohl es zunächst vielversprechend ausgesehen hatte: Denn in der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 hatten sich die Alliierten auf ein unabhängiges
Österreich festgelegt. Mehr noch, sie hatten Österreich als erstes Opfer Hitlers bezeichnet - eine 1942 von Churchill geprägte Formel. Und da sie Grenzfragen offengelassen hatten, konnte man 1945 sogar auf die Wiedervereinigung Tirols hoffen und auf den Erwerb von Ödenburg, ungarisch Sopron, das 1920 durch eine verfälschte Volksabstimmung aus dem Burgenland herausgerissen worden war.

Doch es sollte anders kommen, denn es herrschte die Logik des Kalten Krieges: Alle mit Hitler verbündeten Staaten waren unter den Siegern "aufgeteilt" worden und erhielten daher bereits 1946 ihre Friedensverträge. Dementsprechend war dem Westen Italien wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler. Und Ungarn "gehörte" den Sowjets. Als Trostpflaster gab es 1946 das Südtiroler Autonomie-Abkommen - dessen Umsetzung sich Jahrzehnte hinziehen sollte.

Österreich hingegen, das nicht einmal als Völkerrechtssubjekt am Krieg teilgenommen hatte, mußte mangels alliierter Konzepte warten, ja sah sich mit Ansprüchen Jugoslawiens auf Teile Kärntens konfrontiert - eine Gefahr, die erst 1948 mit dem Bruch zwischen Tito und Stalin gebannt war. Und wie jüngst zugänglich gewordenes Moskauer Archivmaterial belegt, hatte die KPÖ sogar versucht, Stalin zur Teilung Österreichs, also zur Gründung einer Art "ÖDR", zu bewegen.

Mit den Wahlen vom 25. November 1945 war Stalins Plan zur Umwandlung Österreichs in eine Volksdemokratie gescheitert. Er sah daher keinen Grund für Freundlichkeiten und ließ die im Juni 1947 aufgenommenen Staatsvertragsverhandlungen mit immer neuen Vorwänden verschleppen. Dazu gehörte (natürlich) die Verquickung mit der deutschen Frage, aber auch mit Triest, das zwischen Italien und Jugoslawien umstritten war. Und es gab Kuriosa wie etwa die "Erbsenschuld", die Forderung nach Entgelt für die als Stalin-Spende 1945 gelieferten (und teilweise "belebten") Hülsenfrüchte.

Die Besatzungsmächte hatten sich zwar darauf geeinigt, von Österreich keine Reparationen zu fordern. Das hinderte sie aber nicht an Beschlagnahmungen und - primär in der Sowjetzone - an Demontagen. Die Sowjets hatten auch in der Steiermark, die sie später an die Briten abtreten mußten, sofort mit Industriedemontage begonnen.

Beschlagnahmt wurde insbesondere das "Deutsche Eigentum". Das waren nicht nur jene Betriebe, die man in die "Ostmark", in den "Luftschutzkeller des Reiches" ausgelagert hatte, sondern auch alles, was während der NS-Zeit deutsche Beteiligungen hatte oder deutschen Unternehmungen angegliedert worden war. Und sogar Bodenschätze wie die Erdölfelder im nordwestlichen Niederösterreich gehörten dazu.

Die Westalliierten gaben "ihr" Deutsches Eigentum bereits 1946 frei. In Anbetracht oft ungeklärter Eigentumsverhältnisse und zwecks Schaffung von Rechtssicherheit wurden Verstaatlichungsgesetze erlassen. Der jahrzehntelang sehr hohe Anteil verstaatlichter Betriebe in Österreich hat seinen Ursprung also nicht, wie das später aussehen mochte, in marxistischer Doktrin. Das Deutsche Eigentum in der Sowjetzone blieb bis 1955 in sowjetischem Besitz.

Neue Perspektiven kamen erst nach Stalins Tod. Moskau bot zunächst einen Staatsvertrag an mit der Auflage, Truppen in Österreich lassen zu dürfen - für Österreich unannehmbar. Entscheidend war letztlich im Oktober 1954 der Nato-Beschluß zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland. Damit war die Teilung einzementiert, und der Kreml hatte nun eine strategisch vorteilhafte Option, die Außenminister Molotow am 8. November vor dem Obersten Sowjet darlegte: Österreich sollte neutral werden. Bereits vier Tage später reiste die österreichische Regierungsspitze nach Moskau, um diesem Konzept zuzustimmen.

In den Monaten bis zum 15. Mai 1955 ging es im wesentlichen nur noch um Zahlungen und Warenlieferungen zum Freikauf des "sowjetischen" Deutschen Eigentums. Die "immerwährende Neutralität" selbst ist kein Bestandteil des Staatsvertrags: Sie wurde am 26. Oktober "freiwillig" durch das österreichische Parlament beschlossen.

Die "Männer der ersten Stunde" waren - abgesehen von den Kommunisten - Pragmatiker, nicht Dogmatiker: Karl Renner als Staatsoberhaupt, Leopold Figl als erster Bundeskanzler nach freien Wahlen, Adolf Schärf als Vizekanzler (und späterer Bundespräsident) und etliche andere. Im ersten Kabinett Figl waren zwölf von 17 Mitgliedern im KZ gewesen. Die Bürgerkriegsgegner von einst hatten sich - meist in Dachau - zusammengefunden. Dies sind die Ursprünge der "großen Koalition" und der "Sozialpartnerschaft" - mit unbestreitbaren Verdiensten in jenen kritischen Jahren. Bürgerkriegsbelastete wurden kaltgestellt, allen voran Ex-Bundeskanzler Schuschnigg und der Schutzbundführer Julius Deutsch, zunächst aber auch der spätere Bundeskanzler Raab, der Heimwehrführer gewesen war.

Der Dogmatik konnte man sich aber nicht ganz entziehen: Einerseits bezeichnet die Moskauer Deklaration Österreich als das erste Land, das Opfer "der typischen Angriffspolitik Hitlers" wurde. Andererseits wird Österreich "daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird". Wie aber soll ein Land, das schon vor dem Kriege aufgehört hatte zu existieren, für das Kriegsgeschehen mitverantwortlich sein und wie zur Befreiung beigetragen haben?

Die Auflösung des Widerspruchs konnte nur darin bestehen, daß man die Opfer-These zur Staatsdoktrin machte und zugleich Personen bestrafte oder belohnte - mit allen auch daraus wieder resultierenden Widersprüchen. Es folgte einerseits die "Entnazifizierung", andererseits die (Über-)Betonung der Rolle des "Widerstands".

Bei der Entnazifizierung wurden "die großen Fische" von den Alliierten selbst übernommen - Seyß-Inquart und Kaltenbrunner in Nürnberg, andere in Österreich. Österreichische "Volksgerichte" verhängten zahlreiche Freiheitsstrafen sowie 43 Todesurteile, von denen 30 vollstreckt wurden. Es gab eine Registrierungspflicht für die über 500.000 Mitglieder oder Anwärter der NSDAP und angegliederter Verbände. Allen wurde das Wahlrecht aberkannt. Gegen alle wurden "Sühneabgaben" vom Vermögen sowie Steuerzuschläge verhängt. Und es gab Arbeitsverbote im öffentlichen Dienst und in qualifizierten Berufen.

Letzteres erwies sich bald als nachteilig, denn die NSDAP hatte mit Vorliebe Qualifizierte umworben. Polizisten und höhere Beamte mußten sogar der NSDAP beitreten, wenn sie 1938 nicht den Dienst quittieren wollten. Umgekehrt waren 1945 Unqualifizierte und vor allem Kommunisten in den Staatsapparat eingeschleust worden. Daher begannen ÖVP und SPÖ recht bald, sich um Ex-NSDAP-Mitglieder zu bemühen. Es folgten Amnestien für die "Minderbelasteten", und 1949 hatten alle wieder das Wahlrecht.

Im Endeffekt wurden manche für eine bloße Mitgliedschaft bestraft, während andere, die wirklich etwas auf dem Kerbholz haben mochten, glimpflich davon kamen. Wenn man heute Uralt-Fälle aufrollt, hat dies aber ebensowenig mit Gerechtigkeit zu tun: Es geschieht aus politischem oder sonstigem Kalkül und erinnert daran, daß dieser oder jener auch erst im nachhinein zum "Widerstandskämpfer" geworden war.

Der damaligen Generation wird gerne vorgeworfen, sie "hätte es doch wissen müssen" und sie hätte nur "Mein Kampf" zu lesen brauchen. Doch alle politischen Schriften und Reden jener Zeit waren voller Haß und Gewalt. Alle Parteien hatten ihre Schlägertrupps oder Milizen. Antisemitismus und Rassismus gab es in allen Ländern. Und auch im österreichischen "Ständestaat" gab es politische Gefangene und sogar "Anhaltelager". Wer konnte da im vorhinein "wissen", daß der Nationalsozialismus "anders" - oder besser gesagt, "systematischer" sein würde? Ja, es gab Taten, die von Anfang an als Verbrechen erkennbar sein mußten. Aber es gab vieles, was sich einfach "ereignete". Hätten heutige Besserwisser, die nie in Extremsituationen waren, damals besser gehandelt?

Die Entnazifierung erfaßte alle Bereiche und trachtete, alles umzukehren, was aus der NS-Zeit stammte. Doch im "antifaschistischen" Eifer geschah auch manches, was besser nicht geschehen wäre, so die Ausgliederung von Randgemeinden aus "Groß-Wien". Die SPÖ etwa wehrte sich noch lange gegen den ("Reichs-")Autobahnbau. Und gefehlt hätte bloß die Wiedereinführung der Linksfahrordnung. Die bis heute nachwirkende Gleichsetzung von "deutschnational" und "nationalsozialistisch" trieb besondere Blüten: Das Schulfach "Deutsch" gab es erst wieder nach dem Staatsvertrag - bis 1952/53 hieß es "Unterrichtssprache" und dann immerhin "Deutsche Unterrichtssprache". Generell wurde alles überbetont, was nicht "deutsch" war. Die Österreicher wurden zu "Deutschsprachigen" und Deutsche der einstigen Donaumonarchie zu "Altösterreichern". Sogar die Haydn-Melodie, die von 1797 bis 1918 und wieder ab 1929 Kaiser oder Volkshymne war, galt nun als "belastet". Ein Preisausschreiben lieferte 1946 den heutigen Text - zu einer Freimaurer-Kantate, die damals (fälschlicherweise) Mozart zugeschrieben wurde. Man hat sich auch daran gewöhnt ...

 

Lassen sich am 15. Mai 1955 auf dem Balkon des Schlosses Belvedere bejubeln: Großbritanniens Außenminister Harold Macmillan, der britische Botschafter Llewellyn Thompson, US-Außenminister John Foster Dulles, Frankreichs Außenminister Antoine Pinay, Leopold Figl, Adolf Schärf, der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Julius Raab (). Foto: BPD

 

Der Weg zu Österreichs Staatsvertrag in Daten:

1945: Am 27. April wird die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert. Die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner besteht aus Vertretern der Österreichischen Volkspartei, der Sozialistischen Partei Österreichs und der Kommunistischen Partei Österreichs. Im Herbst, nach Aufnahme von Vertretern aus westlichen Bundesländern, wird die Regierung auch von den Westmächten anerkannt. Nach den Wahlen vom 25. November 1945 wird Leopold Figl Bundeskanzler. Die Bundesversammlung bestellt Renner zum Bundespräsidenten.

1946: Österreich schließt mit Italien ein Autonomie-Abkommen für Südtirol.

1947: Staatsvertragsverhandlungen mit Österreich werden aufgenommen.

1948: Tito bricht mit Stalin.

1949: Bei den Wahlen vom 9. Oktober sind erstmals auch ehemalige Nationalsozialisten zugelassen.

1950: Am 25. Juni bricht der Korea-Krieg aus. Im Oktober kommt es zu einem kommunistischen Putschversuch in Ostösterreich. Bei seiner Niederschlagung spielt der Gewerkschaftsführer (und spätere Innenminister) Franz Olah eine entscheidende Rolle.

1953: Am 5. März stirbt Stalin. Die "Troika" Chruschtschow-Malenkow-Bulganin übernimmt die Macht im Kreml. Am 27. Juli endet der Korea-Krieg. Die Alliierten heben in Österreich die Zensur und die Kontrollen an den Zonengrenzen auf. Die UdSSR erklärt sich zu einem Staatsvertrag bereit, allerdings unter der Bedingung, daß sowjetische Truppen im Lande bleiben dürfen.

1954: Im Oktober wird die Nato-Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Die UdSSR signalisiert Bereitschaft zum Abzug aus Österreich, wenn Österreich neutral wird. Bundeskanzler Raab, Vizekanzler Schärf, Außenminister Figl und Staatssekretär Kreisky reisen nach Moskau und stimmen zu.

1955: Am 9. Mai tritt die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Am 14. Mai wird der Warschauer Vertrag unterzeichnet. Am 15. Mai beschließt die DDR die Gründung der NVA. Am selben Tag wird in Wien der Staatsvertrag unterzeichnet. Am 26. Oktober beschließt das österreichischen Parlament die "immerwährende Neutralität".
 
     
     
 
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