|
Der Osten Europas rückt näher an Deutschland. Mit der Erweiterung der EU stehen zehn neue Kandidaten vor der Türe, abgesehen von Malta und Zypern, die sich eher mediterran darstellen, gehören sie zu Südosteuropa oder Mittelosteu-ropa. In einer losen Serie will Ihnen das / diese Länder nahebringen, etwas über die Kultur, die Geschichte, über die Wirtschaft und die Menschen berichten, die alle unsere Nachbarn sind - ob Balten , Slawen, Magyaren, oder Romanen. Sie alle bewohnen das gemeinsame Haus Europa. Beginnen möchten wir heute mit den baltischen Staaten - und hier dem nördlichsten: Estland.
Auch wenn die Zimmer von Deutschland und Estland im Haus Europa nicht Tür an Tür liegen, sind die beiden Länder enge Partner: in der Wirtschaft, militärisch und auch kulturell. Deutschland belegt als Handelspartner Estlands nach Finnland und Schweden den dritten Platz. Der Warenverkehr der beiden Volkswirtschaften beträgt knapp zehn Prozent des est- nischen Außenhandelsvolumens. Auch ist Deutschland der zweitstärkste Importeur von Waren aus Estland. Gehandelt werden vor allem Holz und Holzprodukte wie Möbel, Zellstoff und Papierwaren. Die estnische Wirtschaft stützt sich vielerorts auf die Produkte des deutschen Maschinenbaus, der Elektrotechnik und Elek- tronik.
Die estnische Wirtschaft stützt sich auf Produkte aus der Bundesrepublik
Ein ganz wichtiger aufstrebender Zweig der Ökonomie des Landes ist der Tourismus. Neben der eindrucks- vollen nordisch geprägten Landschaft, die im Winter eine Durchschnittstemperatur von -1,4 Grad, im Sommer knapp über 20 Grad aufweist und die mit ihren vielen Seen und Wegen zu Wanderungen, Skilanglauf und diversen anderen sportlichen Aktivitäten einlädt, ist Tallinn die kulturelle Metropole.
Tallinn, früher, zu Zeiten des Deutschen Ordens und der Hanse, Reval genannt, liegt unmittelbar an der Ostsee und hat ein rauhes Klima. Sie ist eine Stadt mit mittelalterlichem Flair und ebensolchen Veranstaltungen. Die Architektur bietet eine Anschauung verschiedener Stilrichtungen, die man durch kleine Gassen auf Kopfsteinpflaster spazierend erleben kann. Kaufmannshäuser, die Stadtmauer, Kirchen und Rathaus geben einen Eindruck vom Selbstbewußtsein der freiheitsliebenden Esten. Zudem existieren in Tallinn, wie auch in der Universitätsstadt Tartu, deutsche Kulturinstitute.
Ziel ist es unter anderem, die deutsch-baltische Kultur, die spätestens mit dem beginnenden 13. Jahrhundert zur ökonomischen und eigenständigen Entwicklung der Region beitrug, zu erhalten. So existieren in der Nationalbibliothek in Tallinn und der Zentralbibliothek in Pär- nu deutsche Abteilungen. Auch die Gründung der Eurofakultät an der Universität von Tartu kann auf eine deutsche Initiative zurückgeführt werden. Daneben gibt es Städtepartnerschaften, schulische Zusammenarbeit und Kontakte zwi- schen Künstlerkreisen. Nicht zuletzt ist es Deutschland, das die zügige EU-Osterweiterung betreibt und auch den Esten den schnellen Weg in die EU geebnet hat. Erst vor acht Jahren wird Estland assoziierter Partner der EU, und schon ein Jahr später ist das Freihandelsabkommen abgeschlossen. Im selben Jahr reicht Estland den Antrag zur EU-Mitgliedschaft ein. Und zwei Jahre später, nach der positiven Stellungnahme der Kommission, werden Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Diese sind heute abgeschlossen, und auf der Ratsversammlung von Kopenhagen hat man die Aufnahme von Estland und neun weiteren Kandidaten für den 1. Januar 2004 endgültig beschlossen. Damit wird die Ostsee wieder zu einem ökonomischen Binnenmeer, wie einst zur Zeit der Hanse.
Doch die Geschichte der Menschen dort begann viel früher. Schon um 11000 vor Christus, nach dem Rückgang der Kontinentalgletscher, besiedelten die ersten Menschen das heutige estnische Gebiet. Um 3000 vor Christus besiedeln finnougrische Stämme, die Vorfahren der heutigen Esten, das Land am südlichen Rand des finnischen Meerbusen. Mehrfach wird versucht, das Land zu erobern. Im 9. Jahrhundert verbünden sich die den schwedischen Warrägern tributpflichtigen Esten mit den Slawen. Die Russen fallen seit dem 11. Jahrhundert mehrfach in Estland ein, ohne die Bevölkerung unterwerfen zu können. Wirtschaftlich erschlossen wird die Region mit der Eroberung durch den Deutschen Orden und die Dänen ab 1209. Es dauert nicht lange, bis sich die erste wirtschaftliche Blüte einstellt. Die ersten estnischen Städte schließen sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts dem Bund der Hanse an. Die Esten sind ein freiheitsliebendes, kleines Volk und möchten sich so auch nicht mit der Herrschaft des Ordens und der Dänen abfinden, warum es zu einigen Scharmützeln und Aufständen im 14. Jahrhundert kommt. Wohl unter dem Einfluß der protestantischen Schweden setzt sich im 16. Jahrhundert der lutherische Glaube in Estland durch, unterstützt von den Buchdruckereien des Landes, welche die ersten Bücher in estnischer Sprache drucken. Im 17. Jahrhundert herrschen die Schweden in Estland und gründen 1632 die noch heute existierende Universität von Tartu. Anfang des 18. Jahrhunderts vertreibt Zar Peter I. von Rußland die Schwe- den aus Estland, und es kommt in der Folgezeit zu einem Aufstieg der estnischen Sprache und Kultur mit der ersten Bibelübersetzung ins Estnische und der ersten estnischsprachigen Zeitung. Diese Blüte mündet in die "Zeit des nationalen Erwachens" im 19. Jahrhundert, eine Zeit patriotischen Überschwangs wie überall in Europa, als Napoleon geschlagen ist und sich die Völker überall auf ihre Identitäten besinnen. Diese Begeisterung steht im Widerspruch zum herrschenden Rußland, das durch Versuche der Zwangsrussifizierung die nationale Begeisterung im Keim zu ersticken sucht. Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Zusammenbruch des Zarenreiches wird die Republik Estland ausgerufen. Im Nachklang der Wirtschaftskrise von 1929 wird 1934 ein faschistisches System installiert, das jedoch der sowjetischen Okkupation zum Opfer fällt. Deportationen und Russifizierung in der Stalinzeit treffen vor allem Deutsch-Balten und die baltische Intelligenzija. Erst mit der Reformpolitik unter Gorba-tschow wird das estnische Unabhängigkeitsstreben wieder stärker. Es ist getragen von der estnischen "Volksfront", die bei den Parlamentswahlen 1990 eine Mehrheit erringt. Am 8. Mai 1990 werden Teile der Verfassung von 1938 wieder in Kraft gesetzt und die "SSR Estland" wieder in die "Republik Estland" umbenannt.
Die Zeit des nationalen Erwachens beginnt bei den Esten um 1813
In der Republik Estland leben heute knapp 1,4 Millionen Menschen auf 45.000 Quadratkilometern. Damit ist Estland etwas größer als Holland. Zum Vergleich: Hamburg hat 1,7 Millionen Einwohner. Nur 30 Prozent der Menschen in Estland leben auf dem Land. Die Hauptstadt Tallinn hat 400.000 Einwohner, das sind 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wenn früher Russisch Amtssprache war, so ist es heute Estnisch. Aber auch in Englisch oder Deutsch wird man verstanden und kommt vielerorts weiter. Englisch und Deutsch sind in den Schulen die beliebtesten Fremdsprachen, neben dem Russischen natürlich. Gegenwärtig gibt es in Estland 654 Gesamtschulen, davon sind 542 Schulen für Kinder mit estnischer Muttersprache und 93 Schulen für Kinder mit russischer Muttersprache. Bildung erfährt die Jugend in Estland jedoch nicht nur in Gesamtschulen. Es gibt 17 höhere Lehranstalten und 16 Universitäten, wovon zehn privat sind. Die Menschen leben, arbeiten und lernen in einer parlamentarischen Demokratie mit Staatspräsident und kommunaler Selbstverwaltung. Estland ist heute, nach Besetzung und Okkupation, eine freie, westlich orientierte Demokratie.
Tallinn: Noch erhalten ist die Stadtmauer aus dem Mittelalter. Wie die anderen baltischen Hauptstädte erlangte Tallinn seine wirtschaftliche Blüte zu der Zeit, als die Hanse die Ostsee beherrschte.
Industrie: Holz und Holzprodukte sind ein wichtiges Standbein der Wirtschaft des nördlichsten baltischen Staates an der Ostsee. |
|