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Seit dem 1. September letzten Jahres, also seit dem 65. Jahrestag des Beginnes des Zweiten Weltkrieges, ist in Polen eine Ausstellung zu sehen, deren deutschsprachige Fassung nach der Präsentation in in den Räumlichkeiten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Berliner Stauffenbergstraße nun in der Kommunalen Galerie im Justus-Liebig-Haus Darmstadt zu sehen ist: "Größte Härte ... Verbrechen der Wehrmacht in Polen September / Oktober 1939". Die Eröffnung der deutschen Version dieser deutsch-polnischen Co-Produktion in der Bundeshaupstadt war dem polnischen Botschafter Andrzej Byrt so wichtig, daß er sie mit seiner Anwesenheit beehrte. An Substanz gewonnen hat sie dadurch nicht. Wie sollte sie auch? Hatten ihre Organisatoren es sich doch zum Ziel gesetzt, das "deutsche Wahrnehmungsszenario vermeintlicher geschichtlicher Realität (in) eine Ordnungsfolge nach den Prinzipien von Ursache und Wirkung zu bringen", und dies "als Zeichen moralischer Wiedergutmachung". Zum Ausgangspunkt wurde Reemtsmas Wehrmachtsausstellung genommen. Reemtsma hatte den Beginn des "Vernichtungskrieges" auf den Kriegsausbruch mit der Sowjet-
union 1941 datiert. Das sei, wie es im Faltblatt und auf der Homepage der Gedenkstätte heißt, in Polen auf "Verwunderung und Unverständnis" gestoßen, denn dort sei bekannt, "daß die Wehrmacht bereits in den ersten Kriegswochen 1939 Verbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen beging". Diese angebliche Leerstelle sollte aufgefüllt werden. Und noch mehr wollten die Organisatoren erreichen: "In jüngster Zeit wurden die deutsch-polnischen Beziehungen in Polen durch Kontroversen über die deutsche Besatzung in Polen und die nachfolgende Vertreibung der Deutschen überschattet." Die gemeinsame Erarbeitung der Exposition durch das Deutsche Historische Institut in Warschau und das Büro der Öffentlichen Erziehung des Instituts des Nationalen Gedenkens in Polen sei daher als "ein deutliches Signal" zu verstehen, daß die beiden Nachbarländer "die dunkelsten Kapitel ihrer Beziehungsgeschichte ... gemeinsam aufarbeiten" sollten.
Historische Wahrheitsfindung, zwischenstaatliche Beziehungspflege, "moralische Wiedergutmachung" und Nachgiebigkeit gegenüber polnischen Affekten sind jedoch sehr verschiedene Paar Schuhe. Man muß sich entscheiden: Entweder arbeitet man wissenschaftlich, das heißt ergebnisoffen, oder man betätigt sich als Mitglied der Aktion Sühnezeichen und bestätigt zum 100. Mal eine vorgefaßte Meinung. Die Ausstellungsmacher haben sich für die zweite Variante entschieden. Wer über Vorgeschichte und Verlauf des deutsch-polnischen Krieges 1939 neue Aufschlüsse erwartet, kann getrost zu Hause bleiben. Bedeutsam ist die Ausstellung aus einem anderen Grund: Gnadenlos offenbart sie die schiefen geschichtspolitischen Grundlagen der aktuellen Versöhnungsrhetorik. Gnadenlos legt sie die Feigheit und sachlichen Mängel in der deutschen Forschung bloß.
Die Ausstellung verteilt sich auf zwei Räume. Im ersten wird die Vorgeschichte des Kriegsausbruchs dargestellt beziehungsweise das, was man politisch korrekt darunter verstehen soll. Der Versailler Vertrag samt Alleinschuld-Artikel, psychologischen Folgen, Gebietsabtretungen, den zahlreichen kleinen und großen Ungerechtigkeiten wird in ein vergleichsweise mildes Licht gesetzt. Als empörend wird hervorgehoben, daß die Weimarer Republik sich vertragswidrig Waffen beschaffte. Nach 1933, heißt es, habe Deutschland "weiter aufgerüstet", was suggeriert, die Aufrüstung wäre schon vorher im großen Umfang erfolgt. Das war nicht der Fall. Die Reichswehr war so schwach, daß Reichskanzler Heinrich Brüning befürchtete, polnische Kavalleriedivisionen könnten innerhalb von 24 Stunden Berlin besetzen. Er und Reichswehrminister Groener hatten festgelegt, bei einem polnischen Angriff Schlesien zu räumen, das nicht zu verteidigen war. Solche Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen, wie die diplomatischen Akten aus jener Zeit belegen. Auf den Schautafeln der Ausstellung aber ist vom "Chauvinismus" Hitlers als der alleinigen Ursache aller Spannungen die Rede.
Mit dieser Simplifizierung der Vorgeschichte soll die Grundlage für die im nächsten Raum entfaltete "Vernichtungskriegs"-These geschaffen werden. Danach weist der am 1. September 1939 begonnene Krieg von Anfang an "wesentliche Merkmale des Vernichtungskrieges auf", für den die Wehrmacht, die bis zum 25. Oktober die Kommandogewalt in Polen innehatte, die Verantwortung trüge. Die Beweise? Von 10.000 zivilen Opfern durch Luftangriffe und Artillerie ist die Rede, auch von Erschießungen von Zivilisten und Gefangenen. Das ist tragisch und zum Teil auch auf Verstöße gegen das Kriegsrecht zurückzuführen, aber noch kein Beweis einer Vernichtungsabsicht. Von demokratischen Armeen wird derlei heute unter "Kollateralschäden" verbucht.
Vom willkürlich aberkannten Kombattantenstatus ist die Rede, von versprengten polnischen Soldaten, die hinter der Front ihren "regulären" Kampf fortgesetzt hätten und "nachträglich" und "rechtswidrig" zu Partisanen erklärt worden seien. Es sind pauschale Aussagen, die zwar bebildert, aber nicht bewiesen werden. "Geiseln wurden oftmals unter zweifelhaften Umständen ... festgenommen und erschossen." - "Oftmals" heißt: "nicht immer", und es bedeutet noch nicht einmal "überwiegend". Doch weiter im Ausstellungstext: "Zudem beschossen sich unerfahrene und nervöse deutsche Soldaten gegenseitig. Dadurch wurde unter ihnen der falsche Eindruck erweckt, allerorten Zielscheibe von Angriffen der polnischen Zivilbevölkerung zu sein." In der Folge seien "tausende polnische Zivilisten grundlos" erschossen worden. Sogar nach dieser Schilderung wären deutsche Übergriffe spontanen Paniksituationen entsprungen, aber keinem gezielten Vernichtungswillen. Wenn man einen "Freischärlerwahn" der deutschen Soldaten behauptet, müßte man zumindest auch die psychologische Situation im Vorfeld des Krieges und die vergifteten deutsch-polnischen Beziehungen erwähnen. Chauvinismus gab es nicht nur auf der deutschen Seite. Bis Ende August 1939 waren Zehntausende Angehörige der deutschen Minderheit im "Korridor" vor polnischen Übergriffen ins Reich geflüchtet, sie hatten ihre Erfahrungen mitgebracht und verbreitet. Diese Übergriffe hatten sich mit Kriegsbeginn noch verschärft. Vor allem der "Bromberger Blutsonntag", bei dem mehrere tausend Deutsche ermordet worden waren, spielte in der Psychologie der Soldaten eine Rolle.
Die Ausstellung hebt ein in der Stadt Konskie von deutschen Soldaten verübtes Massaker an rund einem Dutzend polnischer Juden hervor. Unter anderem wird ein Bericht der zufällig anwesenden Filmregisseurin Leni Riefenstahl abgedruckt. Auch diese Schilderungen bezeugen eine spontane Gewalteruption angesichts des Todes von Kameraden, doch keine geplante Vernichtungsaktion. Überdies wurden die Täter kriegsrechtlich zur Verantwortung gezogen. Hier wird also das Gegenteil dessen bezeugt, was die Ausstellung global behauptet. Auf einer anderen Schautafel prangt ein deutsches Pressefoto mit der Bildunterschrift: "Gefangene Polen, auf dem Marsch nach Berlin." Der Besucher soll sich betroffen fühlen über soviel Zynismus. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf einen Topos in der polnischen Propaganda, den "Marsch auf Berlin". Noch am 31. August 1939 sprach der polnische Botschafter in Berlin, Josef Lipski, in diesem Sinne zu einem Mitarbeiter der britischen Botschaft.
Den Höhepunkt erreicht die Geschichtsklitterung bei der Behandlung des "Bromberger Blutsonntags", den es aber offenbar gar nicht gegeben hat. Den Text dazu muß man im Original genießen: "In Bromberg waren am 3. September polnische Truppen, die sich durch die Stadt vor den deutschen Panzertruppen zurückzogen, beschossen worden - höchstwahrscheinlich von Angehörigen der deutschen Minderheit. Als Reaktion darauf töteten polnische Soldaten und Zivilisten auf dem Bromberger Stadtgebiet deutschstämmige Einwohner. Polnische Schätzungen der Opferzahlen liegen zwischen Ein- bis 300." Wie zu sehen ist, hatte die erste Zahl zunächst "zehn" gelautet. Sie wurde nachträglich überklebt.
Mehreres an dieser Darstellung ist bemerkenswert: Erstens taugen diese "polnischen Schätzungen" nichts, warum gibt man also innerhalb einer deutsch-polnischen Gemeinschaftsarbeit keine deutsche Schätzung an? Zweitens seien die Schüsse auf polnische Soldaten nur "höchstwahrscheinlich" von Deutschen abgegeben worden. Eine Hypothese also, die - anders als im Fall der subjektiven Wahrnehmung von Wehrmachtsangehörigen - den Ausstellungsmachern genügt, um einen Massenmord an Deutschen als reaktiv darzustellen, ihn quasi zu rechtfertigen. Das nennt man Manipulation, milde ausgedrückt. Immerhin verweist die Beteiligung von "Zivilisten" auf einen entfesselten Mob. Drittens bestreiten inzwischen auch polnische Wissenschaftler diese Darstellung, doch davon ist keine Rede. Viertens geht es gar nicht um den "Blutsonntag", dieser Begriff kommt, wie gesagt, hier nicht vor, sondern um die 100 polnischen Geiseln, die am 9. September, vier Tage nach der Einnahme Brombergs durch deutsche Truppen, verhaftet wurden. Anlaß war die Beschießung deutscher Soldaten durch polnische Freischärler. Als die Hek-
kenschützen trotzdem weitermachten, wurden 20 Geiseln erschossen. Auch dies soll ein Hinweis auf eine deutsche Vernichtungsabsicht sein. Darüber, wie der Anblick tausender ermordeter Deutscher in Bromberg und Umgebung auf die Wehrmachtssoldaten gewirkt hat, verschwendet die Ausstellung kein Bild und keine Zeile. Die Aufzählung solcher Ungereimtheiten ließe sich fortsetzen. Nebenbei: Nach dem Krieg wurde der für die Geiselerschießung verantwortliche Generalmajor Braemer von einem englischen Gericht freigesprochen.
Was in dieser Ausstellung geboten wird, ist einerseits ärgerlich, vor allem aber lehrreich. Lehrreich mit Blick auf die Arbeit des 1993 gegründeten Deutschen Historischen Instituts in Warschau, das nach dieser Ausstellung genauso der Evaluierung bedürftig erscheint wie bestimmte, ideologiebelastete Bereiche der DDR-Universitäten nach 1989. Lehrreich ist die Ausstellung auch für die Vertriebenen. Hier sieht man, was man von einem deutsch-polnisch-tschechischen Gemeinschaftsprojekt eines Zentrums gegen Vertreibungen oder irgendwelchen internationalen "Netzwerken" zu erwarten hätte. Wer die Darstellung ostdeutscher und ostmitteleuropäischer Geschichte von der Zustimmung der Nachbarländer abhängig macht, der erklärt sie zur Geisel und gibt zu erkennen, daß er gegen ihre Verfälschung nichts einzuwenden hat. Ein deutsches Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin ist daher alternativlos.
Einige der 40 Schautafeln: Die Ausstellung besteht aus aus insgesamt 40 hochformatigen Panels á 0,95 Meter mal 2,25 Meter, die zu Säulenelementen miteinander verbunden sind. |
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