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Vaterlandsverteidigung ohne Vaterland

 
     
 
Kürzlich hatte die SPD zu einer Fachkonferenz nach Berlin eingeladen, in der die Zukunft der Wehrverfassung diskutiert werden sollte. Einer der zentralen Punkte war die Frage, wie weit in Deutschland noch die allgemeine Wehrpflicht ihre Berechtigung habe. Dieses Problem schwelt schon seit Jahren, und das vor allem, seitdem zahlreiche Nato-Staaten die Wehrpflicht abgeschafft haben und nur noch Berufssoldaten zu international
en Einsätzen schicken.

Es stellte sich im Laufe der Tagung heraus, daß offensichtlich in der letzten Zeit das Lager der Wehrpflichtgegner deutlich angewachsen ist. Vor allem die jüngeren Funktionäre sehen die allgemeine Wehrpflicht nur noch als "Zwangsdienst", der angesichts der immer kleiner werdenden Anzahl derer, die wirklich eingezogen werden können, seinen Sinn verloren hat. Von Wehrgerechtigkeit sei keine Rede mehr, wenn nur noch 18 Prozent eines Jahrganges den Weg durchs Kasernentor antreten müssen. Mehr benötigt nämlich die Bundeswehr nicht, und mehr kann die Bundesrepublik auch nicht bezahlen.

Verteidigungsminister Struck hingegen und seine in der Regierungsverantwortung stehenden Genossen verteidigten mit Zähnen und Klauen die Wehrpflicht, weil eine Wehrpflichtarmee billiger sei als eine Berufsarmee und weil die Qualität der Soldaten deutlich der in Ländern mit einer Berufsarmee überlegen sei. Außerdem könne die BRD nicht mehr alle von ihr verlangten Auslandseinsätze durchhalten, wenn die Wehrpflichtigen ausfallen.

In Deutschland ist man seit den Befreiungskriegen 1813/1814 daran gewöhnt, daß junge Männer, gleichgültig welchen Standes, Soldat werden. Damals, als der größte Teil Europas von Napoleon erobert worden war, weite Gebiete Deutschlands gar dem französischen Kaiserreich einverleibt wurden und die noch nicht besetzten Länder Vasallen Frankreichs waren, rief der König von Preußen unter dem Einfluß von Scharnhorst und Stein seine Bürger auf, "in dem letzten entscheidenden Kampf für Vaterland, Unabhängigkeit, Ehre und eigenen Herd" zu den Waffen zu greifen. Die neben dem stehenden Heer geschaffene Landwehr sollte das Land von der Fremdherrschaft befreien; dafür wurde den Bürgern das Wahlrecht und die politische Mitverantwortung am öffentlichen Leben versprochen.

Die Bürger folgten dem Aufruf, weil sie am eigenen Leibe erfahren hatten, was es bedeutet, von einer imperialistischen Weltmacht der nationalen Souveränität beraubt zu sein. Napoleon wurde besiegt, doch das Versprechen, aus dem Untertanen den mündigen Bürger entstehen zu lassen, wurde nicht gehalten. Die Idee, daß ein jeder Angehöriger eines Volkes zur Verteidigung aufgerufen sei, war allerdings in Deutschland weit älter. Bei den germanischen Stämmen galt gegenseitige Schutz- und Beistandspflicht zwischen Gefolgsmann und Herren. Im Laufe der Geschichte wurde das System abgelöst von absolutistischen Fürsten, die Berufsheere aufstellten. Die Kriegführung wurde allein Aufgabe der Obrigkeit; der Berufssoldat beherrschte das Feld. Er kämpfte, angeworben vom jeweiligen Fürsten, für Sold und wechselte durchaus bei Gelegenheit die Fronten. Erst mit der Französischen Revolution änderte sich die Auffassung grundlegend. Nun führten nicht mehr Fürsten zur Durchsetzung ihrer dynastischen Ziele gegeneinander Krieg, sondern die Völker standen einander gegenüber.

Stets war die Begründung für die Wehrpflicht, es sei die Pflicht aller Bürger, ihr Vaterland zu verteidigen. Unter dieser Voraussetzung wurde sie auch von der Sozialdemokratie stets bejaht. Schon in einer Grundsatzentscheidung der deutschen Arbeitervereine aus dem Jahre 1868 wurde die These vertreten, daß "jeder Bürger Soldat" sein müsse. Man ging sogar über das stehende Heer hinaus und verlangte eine Volksbewaffnung, um die Volkswehr zu schaffen, weil sie sich zu "Angriffs- und Eroberungskriegen" nicht mißbrauchen lasse. "Sie dient nur zur Verteidigung." Stets unterstützte die SPD die Verteidigung des Vaterlandes im Abwehrkampf; das war auch der Grund, warum die Sozialdemokraten 1914 im Reichstag den Kriegskrediten zustimmten. "Wir machen wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich", so der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Hugo Haase. Damit folgte er seinem großen Parteivorsitzenden August Bebel, der bereits im März 1880 im Reichstag erklärt hatte: "Sollte es dahin kommen, daß irgendeine fremde Macht wirklich deutsches Gebiet erobern wollte, wird die Sozialdemokratie gegen diesen Feind gerade so gut Front machen wie jede andere Partei."

Daß die Bundesrepublik Streitkräfte zur Verteidigung aufstellt, und das mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht, ist im Grundgesetz festgehalten. Zur Verteidigung! In der Zeit des "Kalten Krieges" war die Regelung einleuchtend; man mußte gewärtig sein, daß der Warschauer Pakt eines Tages ansetzte zur Eroberung des noch nicht sowjetisierten Teils Europas. Als aber diese Drohung fortfiel, als "Deutschland von Freunden umzingelt war", wie eine gern benutzte Wendung lautete, die Bundeswehr aber trotzdem bestehen blieb und nunmehr verwendet wurde, um in allen möglichen Winkeln der Erde eingesetzt zu werden, da geriet sowohl die Eidesformel ("Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.") ebenso wie die allgemeine Wehrpflicht in die Diskussion. Allerdings fand diese Auseinandersetzung nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit eher innerhalb der Armee statt. Der Ausgang war sehr bald nicht mehr offen, als die USA unverhohlen verlangten, daß die Nato und damit deutsche Streitkräfte fernab von jeder Vaterlandsverteidigung überall in der Welt eingesetzt werden sollten.

Angesichts der Machtverhältnisse in der Welt war es nahezu undenkbar, daß etwa Deutschland unter Hinweis auf seine grundgesetzlich verankerte Voraussetzung für Einsätze seiner Streitkräfte lediglich zur eigenen Verteidigung eine Mitwirkung ablehnte. Und so fand man denn flugs einen Ausweg, mit dem man sowohl die Änderung der Eidesformel als auch der Formulierung im Grundgesetz auswich: Da der Soldat auch geschworen habe, der Bundesrepublik Deutschland "treu zu dienen", schließe das ein, daß er im Rahmen der politischen Verpflichtungen des Landes auch außerhalb des Vaterlandes tätig werde. Und so sind denn zur Zeit deutsche Streitkräfte über den halben Erdball verstreut im Einsatz, und der deutsche Steuerzahler muß dafür im Jahr 1,5 Milliarden Euro aufbringen.

In einer Öffentlichkeitsveranstaltung der Bundeswehr, auf der ein gerade aus Afghanistan zurückgekehrter hoher Offizier über seine Erfahrungen berichtete, stand hinterher eine Gruppe noch am Biertisch beieinander. Ein Oberst wurde gefragt, ob er wirklich den Eindruck gehabt habe, er würde "am Hindukusch Deutschland verteidigen". Er antwortete nicht direkt, blickte aber links und rechts über die Schulter und tippte sich dann mit dem Finger an die Stirn. (Mit der freien Meinungsäußerung ist es zur Zeit in der Bundeswehr nicht weit her.) Auf die Frage, was er und seine Soldaten denn dort sonst gewollt hätten, meinte er, die Bundeswehr habe dort "geholfen". Aber dazu hätte doch das Technische Hilfswerk oder das Rote Kreuz ausgereicht, war die Antwort aus dem Kreis der neugierigen Zivilisten. Daraufhin der Oberst: "Aber wir können das besser."

Es paßte alles nicht mehr zu einander: Der Einsatz unserer Soldaten in exotischer Ferne - die grundsätzliche Voraussetzung für unsere Streitkräfte - die Eidesformel der Bundeswehr - der politische Sinn dieser Auslandseinsätze. Da ist es verständlich, wenn die Diskussion über die Berechtigung der Wehrpflicht zunimmt. Ein immer größer werdender Anteil der Soldaten im Ausland besteht nicht mehr aus Berufssoldaten, sondern etwa aus "freiwilligen" Wehrpflichtigen oder Soldaten, die sich länger verpflichtet haben oder gar aus aktivierten Reservisten. Ihnen werden Begründungen für die Einsätze geboten wie etwa die Propagandaformel, man müsse "ein zweites Auschwitz" verhindern oder es gelte, den Terrorismus zu bekämpfen, bis zu der nur noch von Kabarettisten benutzten flotten Formulierung, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Allgemeine Ratlosigkeit besteht, wenn gefragt wird, wie denn die politische Lösung der Probleme auszusehen habe, wenn die Soldaten ihre Aufgabe erfüllt haben und abziehen. Und so entstehen dann in fernen Landen Uno- oder Nato-Protektorate oder -Kolonien, in denen ohne die internationale Überwachung nichts geht. Was soll mit den Ländern geschehen? Gibt es Pläne für den Rückzug der Truppen?

Auf der Arbeitstagung der SPD zur Wehrpflicht wurden von Struck und den Seinen allerlei plausible Argumente für die Beibehaltung der Wehrpflicht angeführt: Sie habe sich bewährt; durch sie werde die Bundeswehr in der Gesellschaft verankert; nur mit der Wehrpflicht seien Auslandseinsätze möglich, weil die Bundeswehr sonst nicht stark genug wäre; eine Berufsarmee wäre zu teuer; die Wehrpflichtigen würden Erfahrungen sammeln, wenn sie mit Menschen aller sozialer Schichten gemeinsam dienten, usw., usw.

Das alles stimmt, hat aber nichts mit der Grundidee der Wehrpflicht zu tun. Sie dient allein der Verteidigung des Vaterlandes. Und diese Basis ist längst verschwunden.

Mit all diesen Argumenten könnte man auch die allgemeine Dienstpflicht einführen für Feuerwehr oder für soziale Dienste, für Polizei oder für Helfer im Naturschutz. Und tatsächlich gibt es ja auch die Vorstellung, für alle jungen Männer wie Frauen eine soziale Dienstpflicht einzuführen. Sie aber wird von denselben Leuten abgelehnt, die jetzt die Wehrpflicht verteidigen. Warum wohl?

Tatsächlich gibt es für die Wehrpflicht viele gute Gründe, doch fallen sie in sich zusammen, wenn das Hauptargument nicht mehr sticht: daß jeder Bürger verpflichtet ist zur Verteidigung seines Vaterlandes. Er ist aber nicht verpflichtet, seine Zeit, seine Gesundheit, ja, sein Leben im Interesse fremder Mächte für einen politisch kurzsichtigen Abenteuereinsatz zu opfern. Und zu nichts anderem ist die Bundeswehr nach den neuesten Reformvorstellungen der Bundesregierung mehr zu gebrauchen. So ist denn wohl das Ende der Wehrpflicht in Kürze zu erwarten.

Anlaß vielen Ärgers: Immer mehr Wehrpflichtige werden nicht eingezogen, so daß von Wehrgerechtigkeit keine Rede mehr sein kann. Jene, die ihren Grundwehrdienst ableisten müssen, wissen zudem häufig nicht, wofür.

 
     
     
 
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