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Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles anders" - diese Worte adressierte Kurt Biedenkopf 1992 an Kritiker aus dem Bundesrechnungshof. Seine humoristische Äußerung wirkt aus heutiger Sicht leider kaum noch belustigend. Die Bilanz nach 15 Jahren "Aufschwung Ost" ist ernüchternd. Im Gespräch mit der Freiheits-Depesche konstatiert der sächsische Ministerpräsident Georg Mildbradt: "Der Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft wird weitere 15 Jahre dauern ... Es hat Vorstellungen gegeben, daß man das schneller machen kann, aber für jemanden, der wie ich in der Wirtschaft tätig war und sich in der Wirtschaftsgeschichte auskennt, ist klar, daß ein solcher Prozeß Zeit benötigt." Uwe Müller, Autor des Buchs "Supergau Deutsche Einheit" rechnet vor, was das Zusammenwachsen kostet: "100.000 Euro. Etwa so hoch ist der Nettobetrag, der vom Westen seit der Wiedervereinigung rechnerisch pro Einwohner in Ostdeutschland aufgebracht wurde. Netto bedeutet, daß dabei die in den neuen Ländern erzielten Steuereinnahmen und entrichteten Sozialversicherungsbeiträge schon abgezogen sind. Zusammen ergibt sich nach fünfzehn Jahren ein Betrag von fast 1,4 Billionen ... Das ist gut fünfmal so viel wie die Summe des Bundeshaushaltes 2005." Wo liegen die Ursachen für diese unerfreuliche Bilanz? Warum wiederholte sich in den östlichen Bundesländern nicht das westdeutsche Wirtschaftswunder der 50er Jahre? Was ist jetzt zu tun?
Das Geheimnis des Erfolgs der Sozialen Marktwirtschaft war das freiheitliche Gesellschaftsbild, das ihr zugrunde liegt. Ihre Väter versöhnten den Liberalismus mit der christlichen Soziallehre und verbanden die Freiheit des Marktes mit dem Gedanken des sozialen Ausgleichs. Sie schufen einen soziologischen Rahmen für den unternehmerischen Wettbewerb. Es ist nicht leicht, die Paradoxie eines Systems zu erklären, das per se nicht sozial sein, wohl aber sozialen Zwecken dienen kann: Frei nach Faust ist der Markt die Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Dies zu vermitteln, ist in den letzten 15 Jahren nicht gelungen. Weite Teile des politischen Establishments scheinen auch heute nur einen Weg aus der Krise sehen zu wollen: Mehr Staat, weniger Markt.
Uwe Müller ist beizupflichten, wenn er fordert, der Osten brauche gegenüber dem Westen nicht mehr Gleichheit, sondern mehr Freiheit: Wettbewerb setzt Ungleichheit voraus. Die nahezu pathologische Angst vor Ungleichheit in Ost und West scheint heute eines der drängendsten Probleme unseres Landes zu sein. Der Gleichheit einen Wert an sich zuzuschreiben ist nicht nur ein Fehler, den Politiker wie Oskar Lafontaine begehen. Auch in konservativen Kreisen sind egalitäre Politik-Postulate nicht unpopulär. O-Ton Georg Milbradt: "Die Unterschiede dürfen ein gewisses Maß nicht überschreiten." Warum eigentlich nicht?
In ihrem Aufsatz "Demoskopie und deutsche Einheit" legte Elisabeth Noelle vom Allensbacher Institut für Demoskopie noch zu D-Mark-Zeiten den Finger in die Wunde: "Tausend Milliarden D-Mark Transfer von West- nach Ostdeutschland sind es inzwischen, und zugleich hört man, der ,Aufschwung Ost sei steckengeblieben." Die Produktivität in Mitteldeutschland wachse nicht und betrage nur noch einen Bruchteil der westdeutschen. Und das, obgleich es inzwischen nicht mehr an technischer, moderner Ausrüstung fehle und auch nicht an Geld. Das Geld aus dem Transfer gehe ohnehin zu drei Vierteln in den Konsum der Mitteldeutschen und nicht in den Wirtschaftsaufbau.
In den Aufschwungzahlen spiegeln sich Sachverhalte wider, die soziologisch zu betrachtende Ursachen haben. Es fehlt an Unter-
nehmern, es fehlt an risikobereitem Denken, es fehlt an Freiheit. Die Selbständigenquote liegt in den neuen Bundesländern sämtlich unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Einen handwerklichen Mittelstand, Träger der Sozialen Marktwirtschaft im Westen, aus dem sich Industrieunternehmen entwickeln könnten, gibt es nur ansatzweise. Im Jahr 2002 wurden bundesweit pro 100.000 Einwohnern im Durchschnitt 71 Gewerbe angemeldet. Sachsen (69), Brandenburg (66), Mecklenburg-Vorpommern (68), Thüringen (64) und Sachsen-Anhalt (56) stehen am unteren Ende der Tabelle. Der Aufbau eines breiten sozialen Mittelstandes sei eine Frage der Zeit, so Ministerpräsident Milbradt. Mittelstand wachse eben erst über zwei, drei Unternehmergenerationen heran. Offensichtlich handelt es sich aber nicht nur um eine Frage der Zeit, sondern auch um eine Frage der Wertevermittlung.
Den Menschen in den östlichen Bundesländern ist kein Vorwurf zu machen, auch im Westen fehlt es an "unternehmerischer Denke". Im Gegenteil - wer könnte die Mitteldeutschen nicht verstehen? Elisabeth Noelle erklärt: "Diktaturen wenden alle nur denkbaren psychologischen Künste und Machtmittel an, um ihre Bevölkerungen im Sinn der Staatsdoktrin zu indoktrinieren, und dazu gehörte im Sozialismus die Überlegenheit, die moralische Überlegenheit der Gleichheit." Kann es womöglich sogar sein, daß sich die Mitteldeutschen ihren als "Besserwessis" gescholtenen Mitbürgern gegenüber moralisch überlegen fühlen? Besteht immer noch ein proletarisches Bewußtsein, wonach es nicht mit rechten Dingen zugehen könne, wenn Ungleichheit herrscht?
Die Wiedervereinigung hätte von einer Wertediskussion geprägt sein müssen. Statt dessen fiel der westdeutschen Politikelite nicht vielmehr ein, als die werdenden Bundesrepublikaner mit einem Taschengeld zu begrüßen. Den Westdeutschen suggerierte man, alles bleibe wie es ist, nur daß das Land jetzt eben größer sei als vorher. Die westdeutschen Medien haben ihren Anteil an der heutigen Situation. Ein Sturm der Aufklärung über den Wert der Freiheit fand weder in Ost noch in West statt. Statt dessen gestaltete man den "Aufbau Ost" als "Nachbau West" und behandelte Ungleiches gleich. Nicht zuletzt weil man dem Osten den wuchernden Paragraphen- und Vorschriftendschungel des Westens überstülpte, geriet die ohnehin kaum wettbewerbsfähige Ost-Wirtschaft völlig aus der Bahn, wie Uwe Müller hervorhebt: "Ihr wurden Standards auferlegt, die international Spitze waren. Einer der ärmsten Landstriche in der Europäischen Union mußte fortan mit dem wohl teuersten Umweltrecht der Welt zu Rande kommen - etwa bei Kläranlagen oder Fabrikansiedlungen ... Hätte sich die alte Bundesrepublik 1949 einem solchen Regelwerk unterworfen, wie es der früheren DDR ab 1990 zugemutet wurde - das westdeutsche Wirtschaftswunder wäre niemals zustande gekommen."
Elisabeth Noelle hat demoskopisch nachgewiesen, daß weniger Profitgier als vielmehr der Wunsch nach persönlicher Freiheit der Antrieb für Menschen ist, den Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit zu wagen: "Meine Idee ... verwirklichen, ein Werk aufbauen, nach meinen Ideen - das ist auch in Westdeutschland der stärkste Motor, das stärkste Motiv, um sich selbständig zu machen."
Entscheidend wird nun sein, inwiefern es gelingt, unternehmerische Talente und andere Leistungsträger - kurz: eine Elite - davon zu überzeugen, sich in den östlichen Bundesländern niederzulassen. Um so beunruhigender sind die Ergebnisse einer aktuellen deutschlandweiten Studie der Handelshochschule Leipzig, von TNS Infratest, der Wochenzeitung Zeit und dem Stipendiatenpool E-Fellows: Top-Studenten bevorzugen West-Zentren wie München als späteren Arbeitsort und meiden den Osten.
Hinter jeder Statistik steht eine menschliche Größe. Das wußten schon die preußischen Kurfürsten und setzten unter dem Stichwort "Peuplierung" bevölkerungspolitische Maßnahmen zum wirtschaftlichen Gedeihen ihrer Landstriche um. Zum Prosperieren Preußens führte nicht zuletzt die kluge Politik der Toleranz gegenüber Religionen, die die für die Wirtschaft gewinnbringenden Hugenotten ins Land zog. Es könnte hilfreich sein, sich heute zum Beispiel über einkommenssteuerliche Begünstigungen für Unternehmer und gut ausgebildete Menschen Gedanken zu machen, um sie für ein Leben in den neuen Bundesländern zu begeistern. Dabei gilt es auch und gerade junge Ausländer an internationalen Top-Universitäten anzusprechen. Auf die bundesrepublikanische Elite allein zu setzen, dürfte fahrlässig sein. Arnd Klein-Zirbes |
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