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Die langanhaltende Ansprache der Reiseleiterin im Bus über das Verhältnis zu den Litauern - „denen haben wir einen großen Teil des Königsberger Gebietes geschenkt, als sie sich selbständig machten“ - wurde plötzlich unterbrochen. „Ein Elch!“ tönte es durch den Lautsprecher, „ach nein, wie heißt es noch gleich?“ Es war ein Storch, der erste von vielen, die wir auf dieser Fahrt im Juli noch sahen. Die Reiseleiterin hatte das falsche Wort gewählt, obwohl sie ein grammatikalisch sehr korrektes und wort- reiches Deutsch sprach. Nicht immer interessierten uns ihre Ausführungen. Sie begleitete uns während der ganzen Woche, in der wir im nördlichen Ostdeutschland evangelische Gemeinden besuchten. Und sie bedankte sich am Schluß, denn sie habe selbst viel dazugelernt.
Wir waren zum ersten Mal zu Besuch im Königsberger Gebiet. Viel schon hatten wir von versteppter Landschaft gehört, die dort vorrangig zu sehen sei. Das sei nicht mehr Ostdeutschland, die Schönheit dahin. Nur zwei aus unserer Reisegruppe der Evangelischen Akademikerschaft waren vor fünf und acht Jahren schon einmal dort gewesen. Sie lobten den Fortschritt, der inzwischen - wenn auch nicht überall - zu erkennen sei.
Die Störche, der Fuchs auf der Kurischen Nehrung und die endlosen Ostseestrände waren ein Teil der idyllischen, von Menschenhand fast unberührten Natur. Elche blieben uns bis zuletzt verborgen, aber es gibt sie reichlich dort oben in den Sumpfwäldern und der von Flüssen durchzogenen, von der Eiszeit geprägten Landschaft. Sie wurde einmal „Kornkammer des Reiches“ genannt. Das Korn war auf den Feldern kaum zu erkennen, sehr wohl aber der Reichtum an wilden, bunten Blumen, welche die ehemaligen Äcker bedecken, der Reichtum an Auenwäldern, die sich entlang der verlandenden Seen und überflutenden Gräben und Flüsse ausbreiten, und der Fischreichtum, der wegen der großen Zahl an Anglern zu vermuten ist. Es gibt noch andere Reichtümer oder zumindest reichhaltige Lebensgrundlagen, die sich die russischen Bewohner erschlossen haben. Zu nennen sind hier der Bernstein und das Öl. Sie sind wahre Schätze, die auch genutzt werden und Arbeitsplätze bedeuten.
An bezahlter Arbeit herrscht in diesem Gebiet allerdings der größte Mangel, obwohl es unzählige Möglichkeiten der Arbeit und der Investition gäbe, wenn da nicht die Verwaltung, die Regierung, das System, der Nationalstolz und die mangelnden Mittel wären. „Das ist ein Problem, das ist hier immer so und wird sich so schnell nicht ändern“, diese Erklärung hörten wir allenthalben bei undichten Dächern, überfluteten Gullys, den mit Schlaglöchern übersäten Straßen, bröckelnden oder unterschiedlich hohen Treppenstufen sowie unvollendeten Bauwerken, die als Bauruinen die Gegend verschandeln.
Wie leben Menschen in solch einem System, wie arrangieren sie sich, wie weichen sie aus? Wie gehen sie mit der Hoffnungslosigkeit um, wie finden sie Halt und Auskommen? Das sind die Fragen, die in dieser Zeit des Umbruchs nach 70 Jahren Sozialismus, nach 50 Jahren neuer Besiedlung eines strukturierten, aber kriegszerstörten Landes, nach zehn Jahren „Perestroika“-Wende mit Abtrennung vom „Mutterland Rußland“, nach Reduzierung und Abzug großer und bestimmender Truppenteile und nach dem Zusammenbruch sozialistisch geprägter, großer Wirtschaftszweige wie beispielsweise Schiffbau, Fischverarbeitung und Landwirtschaft ganz unterschiedlich beantwortet werden müssen.
Es gibt Anzeichen des Aufbruchs und der Veränderung, die einzelne Menschen in Angriff genommen haben. Neue Häuser werden - besonders an den Stadträndern Königsbergs und anderer Städte - gebaut und alte Gebäude renoviert. In allen Städten und Dörfern gibt es große Flächen von Kleingärten, die dem Nahrungsanbau für den eigenen Bedarf und für den Verkauf dienen, ebenso wie die einzelne Kuh, die auf unbebauter Weide am Dorfrand steht und die Ernährung einer ganzen Familie sichert.
Auf unserer Fahrt besichtigten wir nicht nur das Land, sondern besuchten vor allem die Menschen, die sich in evangelischen Gemeinden engagieren, die Sozialstationen führen oder die als Katholiken ein ganzes Dorf (Poren bei Ludwigsort) auf einer Wiese entstehen lassen. Das sind Projekte, die von den Bewohnern erdacht wurden und aus der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland unterstützt werden. Es gibt inzwischen 42 evangelische Gemeinden, viele davon sind klein, und nur wenige Personen treffen sich in Wohnstuben oder in besonderen Räumen der Kommune. Es finden dort regelmäßig Gottesdienste in deutscher und russischer Sprache statt, auch Konfirmandenunterricht, Kindergottesdienste und Frauenkreise. Koordiniert wird alles von der Propstei in Königsberg.
Und so sind lebendige Zentren des christlichen Lebens entstanden, getragen von gläubigen Christen aus dem Königsberger Gebiet, aus der Bundesrepublik Deutschland, Rußland und aus aller Welt. Viel deutscher Einfluß ist zu spüren, denn die Gemeindemitglieder sind häufig deutscher Herkunft oder Prägung aus anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die meisten entschieden sich bewußt für das Siedeln im Königsberger Gebiet und nicht für die Bundesrepublik, weil sie bei der Aussiedlung dorthin mehr Probleme befürchteten. Die Königsberger Bevölkerung hingegen ist bekannt für ihre Toleranz - kein Wunder in der Stadt Immanuel Kants.
Deutschkurse sind hier sehr begehrt, aber auch Kurse in handwerklichen Tätigkeiten werden zahlreich besucht, da sich die Menschen so eine Sicherung des Einkommens und neue Verdienstmöglichkeiten zu schaffen ge- denken. Dazu wurde in der Propstei Königsberg von der Ehefrau des Propstes und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, Luise Wolfram, ein neues Motto erfunden: Eine Nähmaschine sichert das Auskommen einer ganzen Familie. Es wurden inzwischen zehn Stück von der „FAZ“ gespendet. Mit ihnen lernen Frauen in regelmäßigen Nähkursen umzugehen. Ganz Geschickte erhalten eine gespendete Maschine für den Gebrauch zu Hause für den familiären Bedarf.
Aber es gibt auch Gemeinschaftsaufgaben im Königsberger Gebiet, die sich verantwortungsvolle Menschen vorgenommen haben. In der heruntergekommenen Gegend gibt es Bewohner, die die Geschichte der Stadt, in der sie leben, wiedererstehen lassen wollen. An den Gedenkstätten von Kant in Königsberg liegen stets frische Blumen, und der Königsberger Dom hat ein neues Satteldach. An der Turmseite kann man im Dommuseum die Ausstellung über Kant und das alte Königsberg bewundern. Liebevoll sind alle Ausstellungsstücke in deutscher und russischer Sprache erklärt. Mit viel Liebe sind auch die Exponate zusammengestellt. Es sind zum größten Teil Fundstücke aus deutscher Zeit, gefunden und gesammelt nach 1945.
Der Dom steht mitten in einer Grünanlage, aber der Informierte weiß, daß hier einst der eng bebaute Stadtteil Kneiphof war, der aber bei den Bombenangriffen 1944/45 total zerstört wurde. Im nächsten Jahr soll hier aber ein Teil der ehemaligen Universität „Albertina“ wieder errichtet werden. „Sie gehört zur Geschichte der Stadt, in der wir leben“, lautet die Devise derer, die sich für den Wiederaufbau einsetzten. Sie tun es mit Stolz und ohne Geschichtsklitterung.
Das sind Lichtblicke in einem Land, wo noch viel zu tun ist. Obwohl schon so einiges in Arbeit ist. Da gibt es zum Beispiel die Organisation „Apfelbäumchen“, die sich um Straßenkinder kümmert. Dort trafen wir als Direktorin die Verfasserin der Diplom-Arbeit „Die Deutschen im Königsberger Gebiet 1945-1948“, Frankfurt/M. 1996, Gerhild Luschnat, die einige wichtige diakonische Aufgaben erfüllt und auch schon Nachahmer gefunden hat. In den Gemeinden und Sozialstationen wurden Kleiderkammern eingerichtet, werden Schulspeisungen durchgeführt und europäische Mittel für den Schutz internationaler Kulturgüter eingesetzt.
Auch die Vogelwarte Rossitten kann dank einer Spende in Höhe von 500.000 Mark durch den Tierfilmer Hans Sielmann fortbestehen.
Es gibt Armut auf den Königsberger Straßen und Plätzen, aber es gibt auch ein Spielcasino, das so luxuriös ist, wie das „Adlon“ in Berlin. Und während die Straßenbahn auf dem klapprigen Untergrund nur mit Tempo 20 fahren kann, da sie sonst aus den Schienen springt, rasen so manche neuen Modelle von Mercedes, BMW und Audi vorbei.
Die Elche mögen sich auch verstecken, die Meere rauschen an Haff und Strand, die dunklen Wälder dehnen sich aus, die Bauern beginnen, sich eigenes Land anzuschaffen, es zu nutzen und zu bebauen. Es spricht für die Menschen, wenn sie die alten Wurzeln Königsbergs und Ostdeutschlands suchen, um ihre Kultur gemeinsam mit deutscher und europäischer Hilfe darauf aufzubauen.
„Alles was wir über unser Land wissen, ist das, was uns die Deutschen in ihren Büchern aufgeschrieben haben.“ So entschuldigte sich die Reiseleiterin gleich zu Anfang, weil sie die alten Ortsnamen und besonderen Bauten der Städte und Dörfer nicht immer benennen und noch weniger Hintergrundinformationen dazu geben konnte. Historische Zusammenhänge wurden uns auf dieser Fahrt so gut wie gar nicht vermittelt. Die Kentnisse darüber sollten wir Deutschen selber mitbringen. Die Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, die Freundeskreis Ostdeutschland und viele bundesdeutsche Verlage haben hierzu sehr umfangreiches Material erstellt. Es wird inzwischen ergänzt durch Bücher, Pläne und andere Druckerzeugnisse, die sogar auch in Königsberg verfaßt, hergestellt und verkauft werden.
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