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Der Abgesang der liberalen Demokratie

 
     
 
Was ist das für eine geschwächte, eine kranke Demokratie, in der das Parlament über so kapitale Entscheidungen wie die Türkei-Erweiterung nicht abstimmen darf?" So sprach vor kurzem in der französischen Nationalversammlung der Vorsitzende der christlich-demokratischen Partei UDF‚ Francois Bayrou, die selbst Mitglied des Regierungslagers ist. In der Präsidialverfassung der Franzosen ist die Außenpolitik - und damit auch der EU-Beitritt
der Türkei - als "domaine reservée" dem Präsidenten vorbehalten. Und Chirac, wie wir ihn kennen, wird mit allen Tricks im Interesse der großen französischen Konzerne dafür sorgen, daß die Türkei möglichst bald Mitglied wird. Bei uns berufen sich Chiracs laizistische Gesinnungsgenossen von Rot-Grün in der Beitrittsfrage darauf, daß das Grundgesetz nun einmal keine Volksabstimmungen kenne. Auch sie gehen, entgegen ihrem Anspruch, die besseren Demokraten zu sein, kaltschnäuzig darüber hinweg, daß die Mehrheit der Deutschen den EU-Beitritt der Türkei aus guten Gründen nicht will, und versuchen mit allen Mitteln, diese Mehrheit eines Besseren zu belehren, etwa mit den Verlockungen eines gigantischen neuen Marktes oder größerer Sicherheit (als ob die militärisch schwache EU die Nato ersetzen könnte, deren Mitglied die Türkei doch schon sei einem halben Jahrhundert ist), auch mit der Hoffnung, dort werde sich ein moderner "Euro-Islam" herausbilden, der uns dann vor dem islamistischen Terrorismus schützen werde - eine jener Utopien und Illusionen der Linken, die wir bereits bei den Wunschträumen unserer 68er vom "Eurokommunismus" kennengelernt hatten.

Immer deutlicher wird der türkische EU-Beitritt zur Nagelprobe auf das Demokratieverständnis der heute in Europa herrschenden Kommandohöhen in Wirtschaft, Medien und Politik. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus sind hier neue Herrschaftsallianzen entstanden, die mit der herkömmlichen liberalen Demokratie des deutschen Grundgesetzes von 1949 nicht mehr allzu viel im Sinn haben. Wir haben es mit dem Zusammenspiel der großen Wirtschaftsinteressen der Weltkonzerne, der global players, mit einem "modernen", oft linksliberal agierenden "Sozialismus" zu tun, das die bisherigen demokratischen Prinzipien der Volkssouveränität, Gewaltenteilung und personalen Freiheitssicherung zur Makulatur werden läßt beziehungsweise sie umformt zu Fassaden einer "gelenkten Demokratie". Die zentrale Frage an diese neuartige Verfassungswirklichkeit wird also lauten müssen: Wer regiert uns eigentlich? Und die Antwort darauf ist deutlich: Offensichtlich nur noch sehr begrenzt die gewählten Parlamente und Regierungsrepräsentanten, sondern demokratisch nicht legitimierte Mächte im Hintergrund, die sich aus den globalen Wirtschafts- und Medieninteressen rekrutieren und hinter dem Paravent formal-demokratischer Proze-

duren agieren. Für diese neuen Eliten sind etwa sozialpolitische Umverteilungen inzwischen weit weniger wichtig als die Kontrolle über Ideen, Meinungen und die öffentliche Debatte mittels der berüchtigten Political Correctness bis hin zu neuartigen Gesinnungsstrafen gegen "Rassismus", "Fremdenfeindlichkeit" und "Geschichtsrevisionismus". In diesem Sinne sprechen heute auch amerikanische Sozialwissenschaftler vom zeitgenössischen "therapeutischen Staat" mit seiner fundamentalen Konditionierung des Verhaltens und Urteilens der Menschen in der modernen Massen- und Konsumgesellschaft im Interesse der genannten globalen Herrschaftsallianzen. Man könnte - in Fortführung des einst von der Linken geprägten Begriffs des "industriell-militärischen Komplexes" - von einem neuartigen "ökonomisch-ideologisch-politischen Komplex" der Herrschaft in der atlantischen Welt sprechen, der sich durch folgende Grundtendenzen kennzeichnet: a) die Unterwerfung des Staates unter die global agierenden ökonomischen Interessen, also die Auflösung staatlicher Politik in einem globalen Markt, dem nahezu die Rolle einer neuen "göttlichen Vorsehung" zugewiesen wird; b) infolgedessen die prinzipielle Aufhebung der politischen Grenzen durch eine globale Grenzenlosigkeit, die als unaufhaltsamer, "alternativloser" Fortschritt gepriesen wird; c) als Voraussetzung dessen die systematische Umpflügung und Einebnung des geschichtlich Gewachsenen, die Zertrümmerung von Kulturen, Ethnien, Religionen, Traditionen zugunsten einer universalen Einheitskultur amerikanisch-westeuropäischen Zuschnitts; d) die Durchsetzung eines entsprechenden Verständnisses der "Menschenrechte" als neuer universaler "Zivilreligion", in dessen säkularistischer Begründung das global-ökonomische Interesse an einer einzigen Welt von Konsumenten und Produzenten mit der ideologisch-pädagogischen Programmierung der Massen im Sinne einer einseitig progressiv-"antifaschistischen Vergangenheitsbewältigung" und Geschichtszerstörung zusammenwirken.

Vor dem Hintergrund dieses Gesamtbildes gewinnen aktuelle Vorgänge wie der Versuch eines Großteils der ökonomisch-politischen Klassen in Europa, den EU-Beitritt der Türkei gegen den Mehrheitswillen der Europäer auf Biegen und Brechen durchzupeitschen, einen völlig neuen Wert. Auch der Streit um Rocco Buttiglione als EU-Kommissar paßt in diesen Rahmen. In beiden Fällen geht es um die gravierende Frage, ob die Europäische Gemeinschaft Teil einer eingeebneten globalen Industrie- und Konsumzivilisation werden oder ihre geschichtlich-kulturelle Physiognomie und Eigengestalt auch unter den Bedingungen unserer Zeit behalten soll und kann. Man hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Europa 1945 aus den Ruinen der totalitären Katastrophe vor allem durch christliche Politiker wie Konrad Adenauer, Robert Schumann, Alcide de Gasperi herausgeführt worden ist. Nach dem Schock der Katastrophe füllten sich die Kirchen in Europa für einige Jahre wieder, um sich im Zeichen des Wirtschaftswunders bald wieder zu leeren. Es war ein schlechtes Omen, wie rasch die Bestände der Religion, Tradition und Nation zunächst im Zeichen des "Wohlstands für alle" und dann von der 68er-Bewegung abgeräumt werden konnten. Heute kann man sich nun nicht genug tun zu bekunden - auch in den sogenannten christlichen Parteien -, daß die Europäische Union ja kein "christlicher Club" sei und insofern dem Beitritt der islamischen Türkei jedenfalls nichts Wesentliches entgegenstehe. "Europas Identität besteht (heute) in einer Mischung aus Hedonismus und Säkularität, nach Geschmack garniert mit etwas mehr Markt oder etwas mehr Sozialstaat" (Karlheinz Weißmann). Und wer hier nicht mitspielt, wird rasch zum Spielverderber und Außenseiter, der "nicht mehr tragbar" ist (wie es im "Wörterbuch des Unmenschen" schon der Nationalsozialisten hieß), also ausgegrenzt werden muß. Die "Fälle" Hohmann und Buttiglione lassen grüßen, auch das Freimaurer-Credo der "Zauberflöte". "Wen diese Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein". Zentrum dieser gelenkten Demokratie wurde eine "öffentliche Verurteilungskultur", wie Martin Walser sie so treffend nennt, mit fortgesetzten Gewissensprüfungen durch "straflüsterne Moralgiganten".

Es erscheint an der Zeit, diesen Transformationsprozeß von der freiheitlich-liberalen zur gelenkten und manipulativen Demokratie, in dem wir mittendrin stehen, uneingeschüchtert zu diagnostizieren und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Hier liegen jedenfalls die Ursachen für den sich vertiefenden Graben zwischen Regierenden und Regierten, dem pays legal und dem pays réel, den Kommandohöhen und dem Institutionenpersonal auf der einen Seite sowie dem realen Volke auf der anderen; für die Tatsache, daß heute alle Parteien unter einem programmatischen und normativen Orientierungsverlust leiden, der sich auch in einem rapiden Rückgang der Mitgliederzahlen und der Wahlbeteiligung äußert. Wenn die sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin dieses Sommers, Gesine Schwan, von der knapp gewordenen "Ressource Vertrauen" zumal in der deutschen Politik, aber nicht nur hier, gesprochen hat, ist dem nichts hinzuzufügen.

Kehren wir noch einmal zum anfangs gezeichneten Gesamtbild der heutigen atlantisch-europäischen Welt zurück. Als die dringendste geistige Aufgabe unserer Zeit erweist sich dann, zu erkennen (um keinen Geringeren als Immanuel Kant zu zitieren), "daß die Vermischung der Stämme nach und nach die Charaktere auslöscht (und) dem Menschengeschlecht alles vorgeblichen Philantropismus (Menschenfreundlichkeit) ungeachtet nicht zuträglich ist". Mit anderen Worten: Es geht um die Verortung der Menschen und ihre Memoria, um ihr Bewußtsein des eigenen kulturellen Standorts auf dieser Erde und seine geschichtlichen Voraussetzungen, und dies nicht zuletzt im Hinblick auf "unser" Europa, die Wurzeln seiner Humanität, der Personalität und substantiellen Freiheit des Menschen samt deren irdischer Dauer in der Res Publica. Es gilt, über die wesentlichen Ursachen der katastrophischen Lage unserer Welt am Beginn des neuen Jahrhunderts so gründlich wie möglich nachzudenken, die im Prozeß der Entwurzelung der jahrtausendealten großen Weltkulturen zu suchen sind, die sich nach dem Traum vieler Intellektuellen, und Ökonomen in einem großen Global Village nach dem Modell der jetzigen atlantisch-europäischen Welt auflösen sollen, ein Traum der Ort- und Grenzenlosigkeit, der nach Kants Wort "dem Menschengeschlecht nicht zuträglich" ist und nur in Katastrophen münden kann, die ja bereits begonnen haben.

Angesichts dieser "großen, oftmals grausamen Entwurzelung" (Harald Seubert), die bereits mit den beiden totalitären Experimenten des 20. Jahrhunderts im Zeichen des Politischen Messianismus eingesetzt hatte und nun offensichtlich fortgesetzt werden soll in "des Kaisers neuen Kleidern" eines universalistisch-säkularistischen Credo wird die Neubegründung personaler Freiheit und einer freiheitlichen Res Publica eine Aufgabe erster Priorität. Wir sehen, daß die Idee und Praxis der Weltgesellschaft und ihres Weltstaates weder den Anspruch auf globale gleiche Wohlfahrt noch den auf gegründete Freiheit und Frieden zu erfüllen vermag, im Gegenteil der nicht verortete und geschichtslose Mensch im "globalen Netz" zum "leichten Beutegut und Treibsand jedweder Gewalt" (Harald Seubert) wird. Die Erneuerung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung beginnt mit dem entschiedenen Widerstand gegen die "Besinnungslosigkeit des vernetzten Welt-

dorfes", in dem die geschichts- und gewissenlosen "Jakobiner und Chicago-Boys in einem" die Herrschaft beanspruchen. Der hier gemeinte Wi-derstand und die entsprechenden Kräfte der Erneuerung gehen von der eindrücklichen Erfahrung aus, "daß es so nicht weitergehen kann, wie zuerst die Ökologen eindrucksvoll hervorgerufen und es mit einigem Erfolg uns ins Bewußtsein geschärft haben" (Botho Strauß). Nun geht es um die Übersetzung dieser Grenzerkenntnis "ins Politische, ins Sittliche und gewiß auch ins Sozialökonomische. Die Grenzen der Freiheit scheinen im Angerichteten deutlich hervorzutreten" (Strauß). Solche Renovation (nicht Restauration) wird auf breiter Front und in strategischer Tiefe vorzutragen sein. An die Stelle der heute so beliebten, ewig wiederholten Beschwörung der "Gespenster der Geschichtswiederholung" und ihres Slogans "Wehret den Anfängen!", die schon deshalb nicht "immunisiert", weil sie nichts zu erklären und zu verstehen und daher auch nichts zu "verhindern" vermag, soll die Setzung eines neuen Anfangs treten, der sich auf die Weisheit von 3.000 Jahren europäischer Geschichte, Erfahrung, Kultur und Philosophie gründet.

Dieses unermeßlich reiche Schatzhaus des europäischen Erbes reicht von Platon über Aristoteles bis in unsere Tage und ist zentriert um die Grundfrage der rechten Freiheit und ihres Mißbrauchs als des "schönen und herrlichen Anfangs, aus dem die Tyrranei hervorwächst", wie wir bei Platon lesen. Dieses Zentrum aller politischen Weisheit im europäisch-abendländischen Sinn ist in unserer Gegenwart von höchster Aktualität. Sie sei hier in Sätzen des großen englischen Staatsphilosophen Edmund Burke zusammengefaßt: "Die Menschen sind für die politische Freiheit befähigt im genauen Verhältnis zu ihrer Bereitschaft, ihren Begierden moralische Ketten anzulegen; im Verhältnis, wie ihre Liebe zur Gerechtigkeit ihre Raubsucht übersteigt; im Verhältnis wie die Richtigkeit und Nüchternheit ihres Urteils höher als ihre Anmaßung ist; im Verhältnis, wie sie eher geneigt sind, den Ratschlägen der Weisen und Guten als den Schmeichelnden von Schelmen zu folgen. Es ist in der ewigen Verfassung der Dinge angelegt, daß Menschen mit ungezügeltem Geist nicht frei sein können. Die Leidenschaften schmieden ihre Fesseln."

 

Falsche Klientel: In der Türkei ist man dem EU-Kommissar Günter Verheugen wegen seines engagierten Einsatz für einen EU-Beitritt des islamischen Landes sehr dankbar. Ein Großteil der Europäer, der Menschen deren Interessen Verheugen eigentlich vertritt beziehungsweise vertreten sollte, beobachtet sein Streben jedoch mit sehr gemischten Gefühlen.
 
     
     
 
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