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Die Antworten führender deutscher wie europäischer Politiker auf die Herausforderungen der demographischen Krise des Kontinents wirken hilflos, ja kopflos. Sofern es überhaupt Pläne zur Abschwächung der drohenden Vergreisung gibt, bestehen sie aus kurzfristig angelegten wirtschaftspolitischen Maßnahmen.
Wie das konkret aussieht, veranschaulicht das am 16. März von der EU-Kommission verabschiedete "Grünbuch" zur "Wirtschaftsmigration". Es soll Eckpunkte für vereinheitlichte EU-Aufnahmeverfahren für wirtschaftlich motivierte Zuwanderer abstecken und die Grundlage für einen bis Ende 2005 angestrebten "strategischen Plan zur legalen Einwanderung" bilden.
Erklärter Hintergrund des Maßnahmenkatalogs sind Berechnungen der EU-Kommission, wonach innerhalb der Union die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 2010 und 2030 um etwa 20 Millionen zurückgeht, während gleichzeitig die Zahl der über 80jährigen von derzeit 18,8 Millionen auf 34,7 Millionen ansteigt. Nur Irland, Frankreich und die skandinavischen Länder kommen laut EU-Statistikamt Eurostat in die Nähe der erforderlichen Geburtenzahl von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau. Besonders schlecht sieht es in Deutschland sowie in den südeuropäischen und ostmitteleuropäischen Mitgliedsstaaten aus.
Angesichts der verheerenden demographischen Lage erwartet die Kommission sicherlich zu Recht eine drastisch steigende Nachfrage der Arbeitsmärkte nach Fachkräften. Diese glauben die Brüsseler Bürokraten vor allem durch eine kontinuierliche Zuwanderung befriedigen zu können (am Rande beinhaltet das Grünbuch darüber hinaus Forderungen nach Programmen zur Familienförderung, dem Ausbau staatlicher Kinderbetreuung und einer Ausdehnung der Lebensarbeitszeit). Arbeitsmigration sei ein "ganz natürlicher Prozeß", den es nur "optimal zu managen" gelte, betont der tschechische EU-Kommissar für Arbeit und Soziales, Vladimír Spidla. Und sein italienischer Kollege Franco Frattini, Kommissar für Inneres, fordert eine "positive Einstellung gegenüber Wirtschaftsmigranten", die "in Europa künftig nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance gesehen werden" sollten. Denn die wahren Bedrohungen für europäische Arbeitskräfte, das behaupten jedenfalls die Verfasser des Grünbuches, seien die illegale Zuwanderung und die Schwarzarbeit.
Im Grünbuch wird für Gastarbeiter aus Drittländern, die sich mehr als drei Monate in einem EU-Mitgliedsstaat aufhalten, ein europäisches Standardantragsverfahren für eine kombinierte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung vorgeschlagen. Dieses solle Arbeitsmigranten in Bereichen, in denen es keine geeigneten einheimischen Bewerber gebe, hinsichtlich grundlegender wirtschaftlicher und sozialer Rechte mit EU-Bürgern gleichstellen und damit ausreichend Anreize für eine Niederlassung in Europa bieten. Allerdings bliebe die Aufenthaltsgenehmigung laut Grünbuch an die Tätigkeit in bestimmten Orten oder Unternehmen gebunden. Nur das Ausmaß der Zuwanderung solle in Zukunft der Entscheidung der nationalen Regierungen vorbehalten bleiben.
Als noch zu diskutierende Punkte nennt die Studie unter anderem die Problematik, wie Personen mit befristetem Arbeitsvertrag nach Vertragsende zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewogen werden können, und ob man das europäische Zuwanderungsrecht nicht besser auf bestimmte Einwanderergruppen begrenzen sollte (sprich solche, die voraussichtlich halbwegs "kompatibel" mit den soziokulturellen Verhältnissen in Europa sind). Außerdem wird gefragt, ob bereits auf dem Kontinent wohnenden "Migranten" eine Vorrangstellung einzuräumen sei und ob man die Mobilität der Zuwanderer innerhalb der Union beschränken solle. Erhebliche Bedeutung komme überdies der Diskussion darüber zu, ob die Erteilung der kombinierten "Arbeits- / Aufenthaltsgenehmigungen" zwingend von einem bestimmten Stellenangebot abhängig zu machen sei oder ob, nach dem Muster der US-amerikanischen "Green Card", feste Kontingente das Ziel sein sollten.
Letzteres dürfte eher nach dem Geschmack der weltweit tätigen Konzerne sein, für die derartige Regelungen ein Instrument darstellen, die Arbeitnehmer der einzelnen Nationen stetig unter Druck zu setzen und damit nicht zuletzt ihre Löhne herabzudrücken und die Beschäftigungsbedingungen zu ihren Gunsten zu verändern. Denn leider zeigen so manche heutige Konzernchefs ebenso wie europäische und deutsche Spitzenpolitiker wenig Gespür für die durch die Zuwanderungswellen der vergangenen Jahrzehnte bereits extrem angespannte soziale Lage in etlichen EU-Mitgliedsstaaten.
Selbst eindeutig migrationsfreundliche Institutionen wie die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) in Wien geben Alarm: Laut einer am 15. März vorgestellten Studie ist jeder zweite Bürger der Union dafür, die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen; in den 15 besonders betroffenen Alt-Mitgliedsländern teilten zwei Drittel der Befragten die Auffassung, daß "es eine Grenze gibt, wie viele Menschen einer anderen ethnischen Zugehörigkeit, Religion oder Kultur eine Gesellschaft verkraften kann". Angesichts einer solchen, vermutlich ideologisch noch geschönten Stimmung könnte jede weitere Zuwanderungswelle aus außereuropäischen Ländern, ob legal oder illegal, das Faß zum Überlaufen bringen.
Das Brüsseler Grünbuch wirft ebenso wie die Haltung maßgeblicher Politiker zum EU-Beitritt der Türkei vor allem eine Frage auf (für den Fall einer Freizügigkeit für Türken geht die in Ankara ansässige Statistikbehörde DIE laut aktuellen Befragungen übrigens von einem Zustrom von 2,7 Millionen Türken in den ersten 15 Jahren nach dem Beitritt aus): Wieviel muß nach den jüngsten ethno-religiösen Ausschreitungen in den Niederlanden eigentlich noch passieren, bis sich die Mächtigen Europas zur Vermeidung des Schlimmsten auf radikale familien-, bildungs- und steuerpolitische Kursänderungen besinnen und allen multikulturellen Visionen eine Absage erteilen? Martin Schmidt |
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