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Vor 60 Jahren, am 6. August 1945, trat die Menschheit in ein neues Zeitalter ein. Genauer gesagt: Sie wurde hineingebombt. An diesem Montagmorgen um 8.16 Uhr Ortszeit (in Deutschland war gerade Mitternacht vorbei) ging im fernen Japan ein "kleiner Junge" in die Luft - 600 Meter über dem Zentrum von Hiroshima explodierte "Little Boy", die erste Atombombe. In dieser Minute endete für schätzungsweise 90.000 Japaner das irdische Leben, für den überlebenden Teil der Menschheit begann das Atomzeitalter.
Die Zäsur war härter als je zuvor. Es folgte nicht einfach, wie bisher in der Menschheitsgeschichte , eine Ära einer anderen; es kam etwas absolut Neues, bisher nie Dagewesenes: Erstmals hatte die Menschheit die technische Möglichkeit, sich per Knopfdruck selber auszulöschen. Mit dieser neuen Waffe verfügte sie über eine Energie unvorstellbarer Größe, entfesselt aus den Bindungskräften zwischen unvorstellbar kleinen Elementarteilchen. Sie maßte sich an, als allmächtiger Zerstörer neben Gott, den allmächtigen Schöpfer zu treten.
Das neue Zeitalter eingeläutet hatten sieben Jahre zuvor die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann. In einem Labor des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin-Dahlem gelang ihnen die Spaltung eines Uranatoms; die Physikerin Lise Meitner lieferte wenig später die korrekte theoretische Interpretation der Entdeckung und wies damit den Weg, wie aus dem Vorgang im Mikro-Bereich Energie in Makro-Dimension nutzbar gemacht werden kann.
Atomkerne bestehen aus elektrisch positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen. Das in Natururan zu über 99 Prozent enthaltene 238U zum Beispiel hat 92 Protonen und 146 Neutronen im Kern, der von 92 negativ geladenen Elektronen umschwirrt wird, das viel seltenere Isotop 235U hingegen hat drei Neutronen weniger, ist daher instabil und radioaktiv. Im Zuge der Forschungen Hahns, Straßmanns, Meitners und paralell dazu des Italieners Enrico Fermi zeigte sich, daß die Masse eines Atomkerns kleiner ist als die Summe der Massen seiner Protonen und Neutronen. Dieser Massendefekt entspricht, gemäß den Relativitätsregeln Albert Einsteins, genau der Energie, mit der die Kernbauteilchen zusammengehalten werden und die freigesetzt wird, wenn man den Kern spaltet. Hiervon muß man allerdings noch die Energie abziehen, die man braucht, um die Spaltung herbeizuführen. Spaltbar ist allerdings nur das Uranisotop 235U. Im Brennstoff für eine Atombombe muß es in ausreichender Menge (mindestens 50 Kilo) und hoher Konzentration (mindestens 80 Prozent statt 0,7 Prozent in Natururan) angereichert sein.
Nachdem Einstein, inzwischen im amerikanischen Exil lebend, am 2. August 1939 Präsident Roosevelt auf die Arbeiten von Hahn, Straßmann und Meitner und die damit möglichen militärischen Anwendungen aufmerksam gemacht hatte, setzte Washington das sogenannte Manhattan-Projekt in Gang, die Entwicklung einer Atombombe. Zwei Milliarden Dollar ließ man sich die Anreicherungsanlagen in Oak Ridge/Tennessee sowie die Labor-Komplexe in Los Alamos/New Mexiko und in Chicago kosten, wo Fermi am 2. Dezember 1942 ein weiterer Durchbruch gelang: die erste kontrollierte Kettenreaktion. Dies bedeutet, daß bei der Kernspaltung genügend Neutronen freigesetzt werden, die weitere Kerne beschießen und spalten können.
In Los Alamos wurden nun zwei Entwicklungslinien verfolgt. Zum einen arbeitete man an der Uranbombe, die dann in Hiroshima eingesetzt wurde. Zum anderen entwickelte man Plutoniumbomben. Plutonium (239Pu) ist ein radioaktives Transuran, das bei der Uranspaltung entsteht und bei deutlich geringerer kritischer Masse (16 Kilogramm) höhere Energieausbeute verspricht, allerdings auch technisch schwieriger zu handhaben ist. So besteht ein Uransprengkopf lediglich aus einer größeren Masse mit einer Aussparung, in die eine kleinere Masse eingeschossen wird; damit wird bei Überschreiten der kritischen Masse die explosionsartige Kettenreaktion innerhalb einer Millisekunde eingeleitet. Ein Plutoniumsprengkopf hingegen besteht aus 32 kreisförmig angeordneten Einzelladungen, die sehr genau aufeinander abgestimmt sein müssen. Sie werden mit Hilfe einer konventionellen Sprengladung innerhalb von 100 Nanosekunden "verschweißt" und zur Kettenreaktion gebracht.
Am 16. Juli 1945 wurde in der Wüste New Mexicos eine solche Plutoniumbombe gezündet. Das Experiment gelang, mit dem 200 Kilometer weit leuchtenden Lichtblitz lief der Countdown des nuklearen Schreckens an.
Genau drei Wochen später war es soweit. Am Nachmittag des 5. August gab US-Präsident Truman den Einsatzbefehl. Vernichtende Schläge mit der neuartigen "Wunderwaffe" sollten die japanische Bevölkerung demoralisieren und das Kaiserreich zur sofortigen bedingungslosen Kapitulation zwingen - ein Horror-Denken, das schon dem Bombenterror gegen das Deutsche Reich zugrundegelegt worden war und sich hier bereits als mehr denn fragwürdig erwiesen hatte.
Schon Monate zuvor war die auf der Pazifik-Insel Tinian stationierte Bomberstaffel des Brigadegenerals Paul W. Tibbets für diesen Spezialeinsatz ausgewählt worden. Eine B-29 ("Fliegende Festung" / "Superfortress") mit dem Namen "Enola Gay" wurde mit der todbringenden Last beladen und erhielt schnell noch eine andere Bugbemalung, um die gegnerische Luftabwehr zu täuschen (ein Manöver, das sich als unnötig erwies, da die Japaner die anfliegenden Maschinen offenbar für Wetter-Aufklärer hielten und nicht weiter beachteten).
Tibbets hatte die Maschine erst eine Woche vorher als Kommandant übernommen und nur einen einzigen Probeflug mit der Bombe an Bord unternommen. In den frühen Morgenstunden des 6. August (Ortszeit 2.45 Uhr) hob "Enola Gay" mit zehn Mann Besatzung ab und erreichte das Ziel nach sechseinhalbstündigem ruhigen Flug. In 9.000 Meter Flughöhe über der Küstenstadt Hiroshima klinkte Major Thomas W. Ferebee die 4,5 Tonnen schwere Bombe aus (die man in Anlehnung an den kurz zuvor verstorbenen Präsidenten Roosevelt "Little Boy" genannt hatte) und machte sich schleunigst davon. 600 Meter über dem Boden löste ein komplizierter Zündmechanismus die Kettenreaktion aus und entfesselte eine Detonation, deren Sprengkraft 13.000 Tonnen des herkömmlichen Sprengstoffs TNT entsprach.
Die Folgen übertrafen alles, was der Mensch sich bis dahin hatte vorstellen können. Innerhalb weniger Sekunden starben rund 65.000 Menschen; weitere 25.000 erlagen direkt den bei der Explosion erlittenen Verletzungen. Und noch Jahrzehnte später sind Opfer der Strahlenkrankheit zu beklagen; bis heute registrierte man über 50.000.
Fachleute teilen die Folgen einer Atombombenexplosion in fünf Zonen ein: restlose Verdampfung, vollständige Zerstörung, schwere Schäden durch die Druckwelle, schwere Schäden durch die Hitzewelle, schwere Schäden durch Feuer und Wind.
In Hiroshima hatte die Verdampfungszone - Auflösung aller materiellen Strukturen, keine Überlebenschance - einen Radius von 800 Meter, die Zone vollständiger Zerstörung - Zerstörung aller oberirdischen Strukturen, Überlebenschance maximal zehn Prozent - maß 1,6 Kilometer im Halbmesser. Die Druckwelle zerstörte im Umkreis von drei Kilometern Fabriken und größere Gebäude, Brücken und Flußläufe - Überlebenschance 35 Prozent. Bis vier Kilometer von Zentrum der Explosion entfernt wurde alles Brennbare entflammt; die Todesrate von 50 Prozent beruhte unter anderem darauf, daß viele Menschen dem Sauerstoffmangel infolge der großflächigen Brände erlagen. Die fünfte Zone, mit schweren Gebäudeschäden und 15 Prozent Todesrate, reichte mehr als fünf Kilometer weit.
Drei Tage nach Hiroshima traf Nagasaki der nächste atomare Schlag, diesmal mit einer Plutoniumbombe, "Fat Man" benannt nach dem britischen Kriegspremier Churchill. Obwohl sie mit einer Sprengkraft von 25 Kilotonnen TNT stärker als "Little Boy" war, lag die Opferzahl darunter; sie hatte das Ziel um über zwei Kilometer verfehlt. So waren hier "nur" 40.000 Tote zu beklagen; im Laufe der Jahrzehnte stieg diese Zahl auf über 70.000.
Die Kapitulation Japans ließ nur wenige Tage auf sich warten. Ob dies allerding wirklich die Reaktion auf die beiden Atombomben war, ist zweifelhaft. Angeblich war der Tenno schon vor dem 6. August zur Aufgabe bereit. Dies würde bedeuten, daß es den USA eher darum ging, sich aller Welt als uneingeschränkte, zu allem fähige Weltmacht zu präsentieren.
Das schier unbeschreibliche Inferno, das "Little Boy" und "Fat Man" angerichtet hatten, reichte den Strategen des Schreckens noch nicht. Bald schon machten sie sich die Erkenntnis der Physiker zunutze, daß die Verschmelzung (Fusion) leichter Atomkerne noch gewaltigere Kräfte freizusetzen vermag als die Spaltung schwerer Kerne. So folgte der Uran- und der Plutoniumbombe die Wasserstoffbombe.
Dabei nutzt man das physikalische Prinzip der Sonne und der Sterne: Unter gewaltigem Druck und bei extremen Temperaturen verschmelzen Wasserstoffatome zu Heliumatomen; die freigesetzte Energie wird in den Weltraum abgestrahlt, und ein winziger Bruchteil davon erreicht nach 150 Millionen Kilometern ein kleines "Staubkernchen" namens Erde. Geradezu tragisch: Ausgerechnet diese lebensspendende Kraft eignet sich der Mensch an, um Leben in nie gekanntem Ausmaß zerstören zu können.
Wasserstoffbomben, die übrigens eine "einfache" Atombombe als Zünder brauchen, erreichen das Mehrtausendfache der Bombe von Hiroshima. Die Sowjetunion, seit 1949 atomar bewaffnete Supermacht, verbuchte den unrühmlichen Weltrekord: Am 30. Oktober 1961 wurde bei einem oberirdischen Test die sogenannte Zar-Bombe mit 57 Megatonnen TNT-Äquivalent gezündet - fast 4.400 Mal so stark wie "Little Boy". Das Waffenarsenal, das die Nuklearmächte - makabererweise im Namen des "Gleichgewichts des Schreckens" - ansammelten, reichte aus, um alles Leben auf der Erde mehrfach auszulöschen. Heute, nach komplizierten Abrüstungs- und Teststopp-Vereinbarungen und trotz aufstrebender neuer Atommächte, ist das Potential auf etwas mehr als einmalige Vernichtung reduziert. Als ob das ein Fortschritt wäre - einmal tot reicht doch eigentlich!
Im Zeitalter des internationalen - und immer brutaler zuschlagenden - Terrorismus wird immer wieder die Gefahr beschworen, fanatisierte Gewalttäter könnten sich in den Besitz von Atombomben bringen. Da ist die Rede von der "Rucksack-Atombombe", der Kernwaffe aus dem Labor in der Hinterhofgarage; jeder Student könne, mit dem Physikbuch unterm Arm, sich mal eben seine kleine Atombombe basteln.
Alles Unfug! Wie oben dargestellt, bedarf es zur Entwicklung und Fertigung nuklearer Waffen eines gigantischen Aufwands an Material und Rohstoffen, an Finanzen und an wissenschaftlicher und technischer Arbeit. Das konnten sich bislang nur wenige (vermutlich acht) Staaten leisten. Wenn es so einfach wäre: Warum hat es dann noch kein Terror-Netzwerk und kein superreicher Despot zur eigenen Bombe gebracht?
"Little Boy": Ein wahrlich zynischer Name für eine Atombombe
Die Wirkung: Hiroshima nach der Explosion von "Little Boy"
Der Atompilz: In diesem Moment haben viele zigtausend Menschen ihr Leben verloren. |
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