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Als "Arier-Zuchtanstalten" geisterten die "Lebensborn"-Heime der NS-Zeit seit Jahrzehnten durch die Geschichtsbücher. Kinder, die dort gelebt hatten, mußten mit dem Makel weiterexistieren, die Produkte einer kruden Rassenideologie zu sein. Der Norweger Käre Olsen hat nun die Hintergründe erforscht und entlarvt die bisherige Darstellung am Beispiel seines Landes als üble Legende. Gleichzeitig tritt der entwürdigende Umgang mit den Tausenden deutsch-norwegischen Kindern nach dem Krieg zunehmend ins Bewußtsein - eine schmerzliche Erfahrung für das skandinavische Volk.
von Dr. Hübner
In den letzten Jahren gelangte ein Thema in die Öffentlichkeit, über das bislang - jedenfalls in Deutschland - der Mantel des Schweigens gebreitet war. Jetzt erfahren wir Erstaunliches nicht nur über Deutschlands Besatzungspolitik in Nordeuropa, sondern generell über Bevölkerungspolitik während der nationalsozialistischen Zeit.
Es geht um die 10.000 bis 12.000 "Deutschenkinder" in Norwegen und 6.000 bis 12.000 in Dänemark, also jene Kinder, deren Mutter eine Dänin bzw. eine Norwegerin und deren Vater deutsche Soldaten sind.
In Norwegen hatte die Besatzungsmacht zwölf Lebensborn-Heime gegründet, in denen die Mütter, wenn sie es wollten, ihre Kinder zur Welt bringen und sie in den ersten Monaten versorgen lassen konnten.
Vor allem deutsche Medien haben bisher alles getan, um die historische Wahrheit sowohl über die große Zahl norwegisch-deutscher bzw. dänisch-deutscher Kinder als auch über die Betreuung in den Lebensborn-Heimen zu verschweigen oder, wenn denn Einzelheiten ans Tageslicht kamen, so verzerrt darzustellen, daß in der Öffentlichkeit ein ganz und gar falsches Bild vor allen Dingen vom Lebensborn entstand. Ein übles Beispiel ist der Text, den der Kultursender Arte zu einer Sendung am 30. Oktober 2001 mit dem Titel "Hitlers Wunschkinder" verbreitete und der von vielen Zeitschriften und Zeitungen nachgedruckt wurde. Darin behauptet Arte, es handele sich um "Heinrich Himmlers Wunschkinder", die "auf seinen Befehl im deutsch-besetzten Norwegen" gezeugt wurden, indem "ihre Mütter von blonden blauäugigen deutschen Soldaten vergewaltigt wurden".
In den letzten Jahren sind einige Bücher über den Lebensborn, speziell im Zusammenhang mit den Deutschenkindern in Norwegen erschienen, die zunächst Teilwahrheiten ans Licht brachten. Nun hat der ehemalige Archivar am Riksarkiv in Oslo, der Historiker Käre Olsen, sachlich, fair und erschöpfend unter Heranziehung der in Norwegen nahezu lückenlos vorhandenen Akten über "Das Schicksal der norwegischen Lebensbornkinder und ihrer Mütter von 1940 bis heute" - so der Untertitel - in seinem Buch "Vater: Deutscher" dargestellt, das soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist. Olsen war mehrere Jahre für die Anfragen norwegischer Kriegskinder im Reichsarchiv zuständig. Er kennt die Materie wie kein anderer. Als Norweger hat er keinen Grund, den Deutschen nach dem Munde zu reden. Was Olsen über den Lebensborn zu berichten weiß, entlarvt die bisherigen deutschen Kolporteure von Schmuddelgeschichten.
Um die falschen Behauptungen aus der Welt zu schaffen, stellt Käre Olsen zu Beginn seines Buches klar, daß die Kinder aus den Verbindungen zwischen norwegischen Frauen und Mädchen und deutschen Besatzungssoldaten das Ergebnis "ganz normaler Liebesbeziehungen" waren und keineswegs das Produkt eines "Zuchtprogramms". Mindestens 30.000 bis 40.000 Norwegerinnen verliebten sich während des Krieges in deutsche Soldaten und widersprachen damit der Propaganda der norwegischen Exilregierung in London, das ganze norwegische Volk leiste geschlossen den Deutschen Widerstand (wogegen im übrigen auch die zirka 8.000 norwegischen Freiwilligen in den Reihen der Waffen-SS standen). Darum entfaltete die Exilregierung über den Rundfunk schon während des Krieges eine heftige Propaganda-Kampagne gegen jene Norwegerinnen und ihre Kinder. Olsen fragt, warum das Verhältnis zwischen vielen Norwegerinnen und den deutschen Soldaten so eng war. Er erklärt es damit, daß sich die deutschen Besatzungstruppen stets korrekt verhalten hätten und daß die Besatzungszeit in Norwegen "relativ friedlich" verlief.
Von deutscher Seite wurde den "germanischen" Norwegern eine teilweise irrationale Verehrung entgegengebracht, und das nicht erst in der nationalsozialistischen Zeit. Schon im 19. Jahrhundert galten die als Nachfahren der Wikinger angesehenen Norweger als Idealbilder, und das nicht nur in Deutschland. So waren die Verbindungen zwischen Norwegerinnen und Deutschen während der Besatzungszeit durchaus willkommen.
Die Wehrmacht allerdings wehrte sich zunächst dagegen, indem sie zum Beispiel die Eheschließung zwischen Deutschen und Norwegerinnen aus Furcht vor Spionage verbieten wollte. Da griff die SS ein, entsprachen doch die Kinder von Norwegerinnen und Deutschen ihrem Idealbild des kulturtragenden nordischen Menschen. Sie wollte aber vermeiden, daß unverheiratete werdende Mütter abtrieben aus Furcht vor der Diskriminierung durch ihre Umgebung. Uneheliche Kinder zur Welt zu bringen, das wurde in der damaligen Zeit nicht nur in Norwegen als schimpflich empfunden.
Abtreibungen wollte die SS wie vorher bereits in Deutschland, so auch jetzt in Norwegen entgegenwirken, indem sie Heime des Vereins Lebensborn, der 1938 gegründet worden war und laut Satzung die Aufgabe hatte, "jede Mutter guten Blutes zu schützen und betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und Kinder guten Blutes zu sorgen", auch in Norwegen errichteten.
An der praktischen Arbeit in Norwegen kann man erkennen, was nicht unter "Mütter guten Blutes" verstanden wurde. Es war festgelegt, daß in die Lebensborn-Heime Frauen nicht aufgenommen wurden, die Straßendirnen oder die "geistige und körperliche Krüppel" waren sowie Lappinnen, heute Samen genannt, die man nicht zu den europäischen Völkerschaften zählte. Bewarben sich solche werdenden Mütter, deren Partner deutsche Soldaten waren, um Aufnahme in Lebensborn-Heime, wurden ihnen Plätze in norwegischen Heimen und Krankenhäusern vermittelt, wobei der Lebensborn die dabei entstehenden Kosten trug. Allen anderen Frauen stand der Aufenthalt in Lebensborn-Heimen offen, ohne daß sie blond und blauäugig sein mußten. Der Lebensborn kümmerte sich auch nicht etwa nur um Kinder, deren Väter Waffen-SS-Soldaten waren, wie die Propaganda behauptet, sondern um die Kinder aller deutschen Besatzungssoldaten "ohne rassische Kategorisierung", wie Käre Olsen schreibt.
Wenn der Vater sich um die Verantwortung drücken wollte, ermittelte ihn der Lebensborn, wobei man, wie Olsen schreibt, in der Regel der Mutter eher Glau- ben schenkte als dem deutschen Drückeberger. Lebensborn stellte auch sicher, daß der Vater Unterhalt zahlte, allerdings erst nach dem Kriege. Bis dahin übernahm Lebensborn die Unterhaltszahlungen, wenn die Väter ihre Partnerinnen nicht heiraten wollten oder konnten, etwa weil sie bereits verheiratet waren. Die Beihilferegelungen für Mutter und Kind seien umfassend gewesen, die ärztliche Versorgung vorbildlich, so Olsen.
Waren die Lebensborn-Heime, wie immer wieder behauptet, "NS-Zuchtanstalten"? Dazu Olsen: "Die noch existierenden Unterlagen vieler tausend Kriegskinder, die von der Abteilung Lebensborn betreut wurden, enthalten keinen einzigen Hinweis darauf, daß diese Organisation mit einer Norwegerin Kontakt hatte, bevor sie schwanger wurde. Ebenso wenig deutet darauf hin, daß eine andere deutsche Instanz versucht hätte, Norwegerinnen mit Deutschen zu verkuppeln. Diese Paare lernten sich auf ganz normale Weise kennen."
40 Prozent der Eltern von Kriegskindern haben geheiratet oder wollten heiraten, wurden aber durch die deutsche Niederlage daran gehindert, oder weil der Vater an der Front fiel. Häufig luden deutsche Familien norwegische Mütter von Kindern gefallener Soldaten ein oder adoptierten die Kinder, wenn die Mütter sie freigaben. Daß Lebensborn norwegische Kinder "geraubt" habe, verneint Olsen entschieden. Wenn weder die Mutter noch der Vater bzw. seine Familie das Kind aufnehmen wollten, sondern es zur Adoption frei gaben, dann vermittelte Lebensborn die Adoption, und das keineswegs, wie ebenfalls deutsche Medien behaupten, nur an "SS-Familien".
Nach dem Krieg fiel der norwegische Mob über die Frauen wie über ihre Kinder her. Frauen wurden durch die Straßen getrieben und öffentlich gedemütigt, etwa indem man sie kahl schor. Über Mütter von Deutschenkindern wurden Geldstrafen ebenso verhängt wie Zwangsarbeit oder Haft in Internierungslagern, und das meist ohne Verfahren und Urteil. Ein norwegisches Pfarrerkomitee forderte 1945, daß die Frauen mit ihren Kindern aus Norwegen ausgewiesen werden, und nur die in Deutschland herrschenden Besatzungsmächte verhinderten es, weil es in Deutschland keine Möglichkeit gab, sie aufzunehmen.
Dann änderte die norwegische Regierung ihre Politik und schickte Kommissionen ins besetzte Deutschland, um bereits in Deutschland lebende Kinder - teils mit Gewalt - aus den Familien zu reißen, und sie nach Norwegen zurückzubringen. Deutsch klingende Vornamen wie Helmut, Heinz, Dieter wurden zwangsweise geändert. Allen Ernstes wollte man im Herbst 1945 8.000 Deutschenkinder nach Australien abschieben, doch konnte der Plan nicht verwirklicht werden, weil Australien nicht mitmachte.
Namhafte Psychiater wie Ödegaard erklärten, 50 bis 60 Prozent der Deutschenkinder seien schwachsinnig, weil Mütter, die sich mit Deutschen abgegeben haben, "erbbiologisch minderwertig" sein müßten. "Unpatriotische Elemente haben grundsätzlich psychische Defekte", so norwegische Wissenschaftler. Man nahm Kinder ihren Müttern weg, um sie in staatliche Heime zu stecken. Olsen schließt nicht aus, daß eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Kindern, die schreckliche Dinge erlebt haben, wirklich verhaltensgestört wurden.
Ab 1950 wurden in der Bundesrepublik lebende Väter, wenn die Mütter es wollten, zu Unterhaltszahlungen herangezogen - notfalls mit Hilfe deutscher Gerichte. Die DDR hingegen lehnte jede Regelung ab. 1959 zahlte die BRD hundert Millionen Kronen an Norwegen als "Entschädigung für Norweger, die unter NS-Verfolgung gelitten haben". Für die Deutschenkinder und ihre Mütter gab es keine Mark. Heute sind die Deutschenkinder erwachsen. Viele von ihnen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam ihre Rehabilitierung zu erkämpfen. Nachdem die erste Klage abgewiesen wurde, weil die an den Deutschenkindern begangenen Schandtaten verjährt seien, hat sich der Rechtsausschuß des norwegischen Parlamentes bei den Deutschenkindern entschuldigt für alles, was man ihnen nach dem Krieg angetan hat. Über eine angemessene Entschädigung soll die norwegische Regierung entscheiden.
Die norwegische Regelung hat auch in Dänemark den Anstoß dafür gegeben, daß das Schicksal der dänischen Kriegskinder erforscht werden soll. Die linkssozialistische Abgeordnete im Kopenhagener Folketing, Anne Bastrup, hat sich an das Justizministerium gewandt mit der Aufforderung, es möge untersuchen, ob den Kriegskindern Unrecht zugefügt wurde, um gegebenenfalls eine Entschuldigung auszusprechen und Entschädigungen zu zahlen. n
Käre Olsen, "Vater: Deutscher. Das Schicksal der norwegischen Lebensbornkinder und ihrer Mütter von 1940 bis heute". 398 Seiten, geb., 2002, 29,90 Euro, zu bestellen beim Buchhandel, Telefon 040-41 40 08-27
"Ganz normale Paare": Lebensbornheim in Norwegen Anfang der 40er / Foto: Archiv Dorothee Schmitz-Köster, Autorin von "Deutsche Mutter, bist du bereit ..." Alltag im Lebensborn, Aufbau Verlag 2002, 8,50 Eur |
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