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Es ist gut" - dies waren die letzten Worte, die seine Freunde und Vertrauten am 11. Februar 1804 von Immanuel Kant hörten. Der Biograph Wasianski berichtet: "Der Mechanismus stockte, und die letzte Bewegung der Maschine hörte auf. Sein Tod war ein Aufhören des Lebens und nicht ein gewaltsamer Akt der Natur."
Aus großer physischer Schwäche war er dahingegangen. Späte Besucher versicherten, nur mehr die Hülle Kants, nicht mehr ihn selbst gesehen zu haben. Sie berichten davon, wie er gleichwohl seine Besucher bis zum Ende stehend empfangen habe. "Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen."
Ein Geist war an jenem 12. Februar vor 200 Jahren erloschen, der die Philosophie der Neuzeit erhellt wie kaum ein zweiter. Die Eleganz des Rokoko und die Aufklärungsepoche finden mit ihm einen späten Gipfelpunkt: Nicht zuletzt klärte er indes die Aufklärung über sich selbst auf. Und die klassische Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling ist ohne Kant schlechterdings nicht denkbar. Einer jeden Zeit, der das ewige Gespräch der Philosophie noch etwas bedeutet, wird es unabdingbar notwendig sein, sich vor den von ihm vorgezeichneten Horizonten zu verständigen. Und eine jede Zeit hat versucht, ihn ihren Maßen ähnlich zu bilden. Keine Epoche wird ihn freilich in diesen Maßen einigermaßen erfassen können. Zum Gedächtnis an seinen 200. Todestag werden die Züge der Geselligkeit in seinem Denken in ein der Gegenwart verträgliches Licht getaucht. Jene Konturen konnte man schon immer erkennen. Bereits Schelling spricht von der "Tendenz zu französischer Eleganz", zu Geschmack, er nennt Kant gar den Philosophen malgré lui. Es wäre indes ein Irrtum, damit die Strenge Kantischen Denkens abmildern zu wollen.
Es ist nicht verwunderlich, wenn der alte Kant im Gedächtnis seine frühere Physiognomie und Gestalt, etwa den eleganten Magister, überlagert: Er war in der Phase seiner Reife ganz bei sich angelangt, in einer Zeitüberlegenheit des Denkens bei genauester und schärfster Kenntnis aller menschlichen Dinge, ohne sich doch je an sie zu verlieren. Die Annäherung des Philosophen an seine Einsichten ging langsam tastend und doch bestimmt vonstatten. In der Rückschau auf früheste Arbeiten des 24jährigen hatte Kant selbst bemerkt: "Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen."
Gleichwohl vergingen mehr als 25 Jahre zwischen seiner Habilitationsschrift über "die ersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis" im Jahr 1755 und dem theoretischen Hauptwerk. Welcher Unterschied zu dem stürmischen Ingenium, in dem die Folgegeneration Systemprogramme in jungen Jahren konzipierte. Und bis in die späten Jahre verbindet sich bei ihm methodische Sicherheit mit der Demut, die stets die Schwierigkeiten, ja: Unlösbarkeiten der Problemarbeit sich eingesteht. Er weiß, daß viele Problemzusammenhänge noch tief ins Dunkel gehüllt sind.
Den Kanon der reinen Vernunft hatte Kant in drei Fragen zusammengefaßt: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" Diesen drei Fragen haben wir, immer mit einem Seitenblick auf unsere Zeit, nachzugehen. An sie schließt sich aber, sie umgreifend, die vierte Frage an: "Was ist der Mensch?"
Kant zeigt in der "Kritik der reinen Vernunft", daß es eine apriorische, nicht von Erfahrung abhängige Erkenntnis gibt, die jene Kategorien hervorbringt, unter welchen wir die Welt der Erscheinungen ordnen. Gemäß den Kategorien kann aber nur erkannt werden, was in Raum und Zeit gegeben ist.
Kants vielberufene Kopernikanische Wendung setzt das "Ich denke" an seinen zentralen Ort ein. Doch nur die Erscheinungen, nicht die Dinge an sich sind auf diese Weise zu erkennen. Kant hat sich selbst in der Vorrede zur zweiten Auflage des epochalen Werkes gefragt, ob auf diese Weise nicht nur ein "negativer Nutzen" erreicht werde. Die Eingrenzung des theoretischen Vernunftgebrauches auf den ihr allein zugänglichen Zusammenhang der Sinnenwelt hat eine positive Seite, die Kant in augenfälligen Sinnbildern beschrieben hat. Durch die Vernunftkritik werde der "wahre Gerichtshof für alle Streitigkeiten ins Recht gesetzt".
Die Zeitgenossen nahmen die epochale Kritik zunächst zögerlich an. Es bedurfte wohl der zweiten Auflage im Jahr 1787 und begleitender Schriften, um den Bann zu brechen. Dann war die tiefgreifende, blitzartige Wirkung mit Händen zu fassen, auch die Erschütterungen durch den "Alleszermalmer" (Moses Mendelssohn). Kants Denken griff in einer ungeahnten Weise in das Leben der jungen Generation ein. Kleists Kant-Krise kann man pars pro toto nehmen. Alle Gewißheit sah er wie vernichtet unter der Denkkraft von Kants Kritik.
Reaktionen wie jene Kleists sind verständlich. In der Sache angemessen sind sie nicht. Denn Kant ist keineswegs Zeuge für die Meinung, darüber, wovon man nicht klar (in kategorialer Ordnung) sprechen könne, solle man schweigen. An Moses Mendelssohn hatte Kant im August 1783 einen sein kritisches Geschäft bis dahin resümierenden Brief geschrieben. Alle spekulative Erkenntnis a priori reiche nur, so hält er dort fest, "auf Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, [doch] mit dem Vorbehalte, daß dieses Feld möglicher Erfahrung nicht alle Dinge an sich befasse, folglich allerdings noch andere Gegenstände übrig lasse, ja sogar als nothwendig voraussetze, ohne daß es uns doch möglich wäre, von ihnen das mindeste bestimmt zu erkennen". Wären wir erst so weit, dies einsehen zu können", so würde sich die Auflösung, darin sich die Vernunft selbst verwickelt, wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinauszugehen versucht, von selbst geben". Das System transzen-dentaler Ideen hat Kant sogar weiter auf das transzendentale Ideal des höchsten Wesens, Gottes, zurückgeführt, auf "das Urbild (prototypon) aller Dinge".
Wie zur Besiegelung hält Kant fest, daß das Ideal des höchsten Wesens "die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet". Von dieser Krönung blickt er hinaus auf eine Verbindung des "moralisch vollkommensten Willens" mit der höchsten Seligkeit.
Das Unternehmen der ersten Kritik, wie es hier in Umrissen zu kennzeichnen war, kann in seinem Anspruch und seiner Differenziertheit höchst bedeutsam für die geistige Situation der Gegenwart sein, und dies in seinen verschiedenen Wesenszügen. Daß Kant die Begründung aller Verstandeserkenntnis mit ihrer Eingrenzung auf den Bereich der möglichen Erfahrung verbindet, sichert aller Wissenschaft ihre Strenge und verpflichtet sie auch darauf. Es bewahrt sie aber zugleich vor Hybris. Beides ist heute von größtem Gewicht, in einer Zeit, in der sich ihres Erkenntnisortes keinesfalls sichere wissenschaftliche Weltbeschreibungen die Welt verändern wollen und in der andererseits die Flucht aus der Vernunft verführerisch nahezuliegen scheint.
Daß Kant weiterhin den Verstand in einer prinzipiengebenden Vernunft grundgelegt sieht, die selbst nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis sein kann, bindet Begründung und Eingrenzung der Verstandeserkenntnis an einen letzten Horizont, einen Ursprungs- und Einheitspunkt der Erkenntnis. Wenn auf das erste und letzte nicht geblickt werde, sei alle andere Erkenntnis nutzlos: so lehrt schon Platon in der "Politeia": Die Ideen sind der Vernunft, was das Licht der Sonne in der sinnlichen Welt den Augen ist. Auch diese Einsicht bleibt für unsere Zeit dringend zu erinnern: daß die Einsicht in die Grenzen, die der klaren Erkenntnis gesetzt sind, nicht in Relativismus oder in den Nihilismus, nach Nietzsche den unheimlichsten aller Gäste, münden muß, sondern die Vernunft selbst auf ihr höchstes Prinzip zurückzudenken nötigt; auf einen Grund in Welt und Bewußtsein, der ihr nicht dunkel ist, vor dem sie sich aber in Demut beugen muß.
Zum dritten hat Kant das überlieferte Erbe der Theologie und christlichen Überlieferung keineswegs zerschlagen, und er hat sich ihm gegenüber ebensowenig in das unverbindliche Schweigen geflüchtet. Er hat vielmehr das Wissen auf die ihm gesetzten und zugemessenen Grenzen eingeschränkt, "um dem Glauben Platz" zu geben. Er verweist auf die Entzogenheit Gottes. Doch alles fällt unter sein Urbild, dessen nächstes Abbild menschliche Vernunft und sittliche Handlung ist. Damit ist der Grundriß für die Präsenz des Göttlichen, Absoluten als einer Vernunftidee - auch im öffentlichen Raum - gesetzt, der in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen vom Gottesbezug in der (europäischen) Verfassung bis zum Kruzifix-Urteil Maßstab sein könnte und sollte.
Kants Antwort auf die Frage: "Was können wir wissen?" verweist auch auf das menschliche Bewußtsein, den Einheitspunkt des "Ich denke": Erst in ihm haben Begriffe ihre Realität. In der gegenwärtigen Scheinkultur, in der die Sprache manipulierbar ist, weil kaum ein Bewußtsein sie trägt, ist daran dringend zu erinnern.
Aus der Modeerscheinung zerstückelter Identitäten kann keine Einheit unserer Erkenntnis und erst recht nicht unseres Handelns hervorgehen. Die Zentralität des "Ich denke" heißt nicht, daß die Welt seine Hervorbringung sein könnte. Derart hybride Kant-Auslegungen waren dieser Tage immer wieder zu lesen. Es heißt aber, daß das "Ich denke" alle meine Vorstellungen muß begleiten können, so wie das Gewissen meine Handlungen begleiten können muß.
Kant hat der Philosophie und damit der Welt des Geistes exemplarisch die Strenge und Genauigkeit vorgezeichnet, auf die sie verpflichtet ist. Dies bleibt vorbildlich, in einer Welt, der Wissenschaft oftmals nur noch ökonomisches Potential ist, einer (mitunter vorgreifenden) Selbstbeschneidung der Universitäten, die nicht mehr vom Geist zu reden wissen, und in der man damit kokettieren kann, nicht mehr sagen zu können, worin die europäische Kultur gründe - worin denn, wenn nicht in dem gemeinsamen nationalen und europäischen Geist, dem nicht zuletzt Kant seine Form gegeben hat. Kant hat gezeigt, daß das Denken der Erfahrung bedarf, daß menschliche Vernunft aber a priori zu urteilen vermag. Metaphysik, die Welt des Geistes, ist "die Vollendung aller Kultur". Sie zielt, wie es auch der nicht geübte Menschenverstand in seinen Versuchen einer Orientierung im Leben tut, auf Weisheit. Sie tut aber gut daran, sich hierzu der strengen Wege der Wissenschaft zu bedienen, um jener Lebenssuche Orientierung und Klärung zu geben.
In Kants Moralmetaphysik verbindet sich zweierlei: die Findung des einen apodiktischen, ausnahmslos geltenden Prinzips der Moral und der Ausgang von der gemeinen sittlichen Menschenvernunft. Es gibt eine gemeine sittliche Vernunfterkenntnis, die durch vielfaches sophistisches Raisonieren und durch aus der Selbstliebe resultierende Abwege von ihrem Wissen abgebracht wird, aber, bliebe sie nur unverbildet, intuitiv geradewegs auf das eine Prinzip der Moral hinzielen würde. Philosophischer Moralmetaphysik obliegt es, sittlicher Menschenvernunft Klarheit über sich selbst zu verschaffen. Dies aber führt notwendigerweise zu der Unterscheidung zwischen einer auf das Sittengesetz und Autonomie und einer auf Selbstliebe und Heteronomie gegründeten Moral. Diese scharfe Bruchlinie ist neu: Nicht auf Gefühl und Erfahrung, nicht auf Kalkül, einzig auf das Prinzip sittlicher Vernunfterkenntnis kann das schlechterdings, ausnahmslos, apodiktisch Gebotene, Pflicht im uneingeschränkten Sinne, begründet sein.
In der Sache ist die ethische Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Selbstliebe oder Eigennutz bis heute von nicht zu überbietendem Gewicht. Sie überwölbt jede andere ethische Distinktion, auch die (von Max Weber getroffene) Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Denn weder der Gesinnungs- noch der Verantwortungsethiker ist aus der Frage zu entlassen, ob sein Tun oder Unterlassen nicht der Selbstliebe folgt.
Der kategorische Imperativ kann sich auf keinerlei empirische Anhaltspunkte berufen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde befestigt sein mögen. Er ist allein aus der "Idee", wie sie die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft, zu gewinnen und er findet allein in dem einschränkungslos guten Willen seinen Ort. Er bindet die Maximen, die Grundsätze des Handelns, so daß es nicht nur (mehr oder minder zufällig) "pflichtgemäß", sondern "aus Pflicht" geschieht.
Die apodiktische Bindekraft des Sittengesetzes ist heute alles andere als selbstverständlich. Utilitaristische Kalküle bestimmen gegenwärtige Abwägungsszenarien in öffentlicher Meinung, hinter Seminartüren und in Ethikkommissionen. Die Ethik wird in Expertengremien verlagert, als ließe sich die Frage, was zu tun sei, und als ließe sich das Gewissen delegieren. Utilitaristen, Pragmatisten, Mitleidsethiker und Verfechter des Machbaren oder eines monströsen Diskurses verschleiern die Verpflichtung, die vor aller Augen liegt und die die Philosophie nur klar ans Licht zu heben hat (dies aber obliegt ihr allerdings als ihre vornehmste Aufgabe). Vor der Forderung des Guten im Hier und Jetzt ist der Mensch mit sich und seinem Gewissen allein. Jeder Bürger muß sich Scham und Achtung zu eigen machen, wenn Scham und Achtung in der Polis walten sollten, so wußte bereits Platon und so zeigt Kant in höchster begrifflicher Klärung mit ihm.
Der Grundformel des einen kategorischen Imperativs: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" stellt Kant eine erste Nebenformel an die Seite, durch die die Verpflichtungskraft tiefer verankert wird: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." Eine zweite Nebenformel fügt den Maßstab der Humanität hinzu: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals nur als Mittel brauchest." Die kantische Humanität, die im Zeitalter klassischer Dichtung und Philosophie der Grundton ist, am befeuerndsten in Balladen Schillers wie der "Bürgschaft" dargestellt, ist im Jahrhundert der totalitären Diktatur, der Zerstörungen und Vertreibungen bitter verletzt worden. Die Menschheit wurde als Experimentierfeld des utopischen Entwurfes von Paradiesesversprechungen mißbraucht, die nach dem vielfach und traurig bewahrheiteten Wort von Karl Popper nur Höllen hervorbringen können. Es kommt darauf an, sich heute daran zu erinnern, daß jene Humanität auf die eigene Person und zugleich auf die Menschheit in der Person eines jeden anderen gerichtet ist. Hier ist Kants Rede vom "Reich der Zwecke" verankert: es umschließt die Sittensubjekte als ein Ganzes der Moralität, das auch das Gedächtnis an die Toten einschließt. Der Mensch allein ist "Zweck an sich selbst", er darf daher in keiner Weise der Abschätzung oder Abwägung mit Gütern, welcher Art auch immer, unterworfen werden. Ihm eignet nicht ein Wert oder Preis, sondern allein unabdingbare Würde.
Die Würde der Menschheit in der eigenen und jeder anderen Person begründet sich auf der Sittlichkeit. In ihr gründet auch die Freiheit als höchste Grenze und letzter Horizont aller moralischen Nachforschungen. Wir können uns nach dem Sittengesetz nur bestimmen, insofern wir die Freiheit voraussetzen. "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."
Kants späte "Metaphysik der Sitten" aus dem Jahr 1797 zeigt sehr deutlich, daß er die Eudaimonia, den Horizontbegriff gelingenden, guten Lebens und Grundgedanken antiker Ethik, nicht preisgibt. Auf Glückseligkeit kann allerdings die Sittlichkeit niemals begründet werden. Kants ausgeführte Tugendlehre unternimmt es, dem Rechnung tragend, "sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken". Kant umreißt von hierher das eindrucksvolle Gebäude einer Pflichten- und Tugendlehre, die tief in die Kenntnis menschlicher Natur in concreto eindringt. Die strenge Formalität des einen Sittengesetzes findet damit ihre Konkretion: Für Kant sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind, zum einen auf eigene Vollkommenheit, zum anderen auf fremde Glück-seligkeit orientiert.
In der Architektonik der Pflichten gegenüber anderen Menschen hat Kant höchstes Augenmerk auf den Zusammenhang von Liebe und Achtung gelegt. So hat er, was viel zu wenig vertraut ist, Überlegungen zur Freundschaft und zu den Umgangstugenden an das Ende der Tugendlehre gerückt. Kant schreibt zudem die tiefste Freundschaftsabhandlung der Philosophiegeschichte, jene des Aristoteles, fort: Freundschaft antwortet auf die innerste Natur des Menschen. Ist er doch nach Kant zwar ein für die Geselligkeit bestimmtes Wesen, das sich zu eröffnen liebt, gleichwohl hat er auch dezidiert ungesellige Züge, die ihn dazu nötigen, sich zu verschließen.
Und die "Metaphysik der Sitten" mündet wieder in die Bezeichnung einer Grenze: allein das Verhältnis des Menschen gegen den Menschen, auch gegenüber sich selbst, fällt in den Bereich der Ethik; was zwischen Gott und dem Menschen für ein Verhältnis obwalte, dies bleibt schlechterdings unbegreiflich und unausforschlich.
Gleichwohl liegt seit 1793 Kants Schrift über die "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" vor, die davon ausgeht, daß "Moral unumgänglich zur Religion" führe, "wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck der Weltschöpfung ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll". Diesem Endzweck in praktischer Absicht nachzuforschen, bedeutet für Kant zugleich, die Abgründigkeit und Verkehrtheit der menschlichen Natur auszuloten. Der durch das Sittengesetz bestimmte Wille kann "rein" sein, "heilig" und ungetrübt ist er nie-mals. Das Wort des Predigers, daß des Menschen Herz böse ist von Jugend auf, macht sich Kant zu eigen. Dabei hält Kant fest, daß das radikal Böse nicht Bosheit als ein Grundzug der menschlichen Natur ist; daß aber die Suspension vom Sittengesetz, die radikale Verkehrung der Maximen jederzeit, auch im besten menschlichen Leben, begegnet. Die Reinheit der Maximen wiederherzustellen, dies fordert eine "Revolution der Denkungsart". Luthers Definition des Menschen als des Wesens, das stets der Rechtfertigung bedarf, die Paulinische Grundeinsicht, "das Wollen habe ich wohl, allein mir fehlt das Vollbringen", zeich-net Kant ohne jede Milderung seiner Exposition ein: "Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder - es ist Keiner, der Gutes tue (nach dem Geiste des Gesetzes) auch nicht Einer." Eben deshalb kann Kant den Heiligen des Evangeliums, Jesus Christus, als inwendigen Lehrer verstehen, der das Gewissen für die gebotene Pflicht wachhält. Dies schließt harsche Kritik an jedweder äußerlichen, statutarischen Religionsausübung ein. Die Einsicht in das "Reich der Zwecke" weitet sich aber auf die sittliche Idee eines Volkes Gottes, einer unsichtbaren Kirche.
Nichts ehrt Gott mehr, so hat Kant festgehalten, "als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu kommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen". Von diesem Punkt aus sind drei Eigenschaften Gottes zu erkennen, die seine in der christlichen Überlieferung zentrale trinitarische Verfassung auf ihre sittliche Substanz zurückführen, und zudem den Grund für die Gewaltenteilungslehre Montesquieus legen. Jene Eigenschaften kommen ihm alleine zu. Er ist der allein Heilige: Gott der Vater als der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer) der Welt, der allein Selige: Gott der Sohn als der gütige Regierer und Erhalter der Welt, der allein Weise als der Geist und gerechte Richter.
In einem immer weiter in die Glaubenslosigkeit abdriftenden gegenwärtigen Europa, zumal in einem Deutschland, in dem wie selbstverständlich der Laizismus zur Staatsnorm erklärt wird, obgleich dies aller Geschichte zuwiderläuft, und das in seiner Indifferenz von einem theokratischen Islam schon längst unterhöhlt ist, ist daran zu erinnern, daß Kant den Übergang von der in sich begründeten Moral zur "wahren Religion" als "unumgänglich" begriffen hat. Die Religion der Vernunft ist kein blutleeres, auf das Gas eines être suprême gegründetes Gebilde, keine Zivilreligion, wie sie in der Französischen Revolution mit ebenso lächerlichen wie blutrünstigen Zügen auftrat, sondern sie ist eins mit der sittlich gegründeten Substanz des Christentums.
Kants Schrift zum ewigen Frieden krönt ein die Jahrhunderte durchziehendes philosophisches Friedensgespräch: Es reicht von Platons "Nomoi" über Nicolaus Cusanus bis hin zu Leibniz. Nirgends war der Begriff des Friedens ohne den der Grenzsetzung und des Gleichgewichtes gedacht worden. Schon gar nicht bei Kant! Er überführt die Staatenwelt des "Ius Publicum Europaeum" in die Form der Sittlichkeit, in einer Zeit, die unter dem Schock der sich selbst fressenden Französischen Revolution, unter dem Bann der Zerstörung europäischer Ordnung stand.
Patriotismus und Blick auf die Universalität des Menschenrechtes sind nach Kant niemals voneinander zu trennen. In Zeiten, in denen Universalität zu einer blutleeren Globalität im "Diskurs" verkommt, ist an die Be-deutung von Universalität in Kants Verständnis zu erinnern: die Befriedigung und Einheit beruht auf nationalem und patriotischem Ethos, nicht zuletzt, so wird man ergänzen dürfen, auf freundschaftlicher Zugehörigkeit. Und sie bedarf der staatlichen Form. Universalität gründet "darauf, daß unsere Zwecke mit den Zwecken anderer Menschen in der Art zusammenstimmen, daß sie nach den allgemeinen Regeln der Pflicht zusammen bestehen können". Demgemäß setzt auch der Traktat vom ewigen Frieden ein System aus republikanischen Staaten voraus. Im strikten Sinn begreift Kant den "Republikanism" als das "Staatsprincip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der ,Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen". Mit Mon-
tesquieu hält Kant fest, daß eine Regierungsform, die nicht repräsentativ ist, eine "Unform" sei. Er setzt aber keinesfalls Republikanismus mit Demokratie gleich: die "Exempla" der al-ten Welt und das revolutionäre Frankreich boten dazu auch kaum Anlaß. Demokratien können durchaus despotische Züge annehmen, ja: "da alles Herr sein will, neigen sie besonders dazu". Demgegenüber zieht Kant Friedrichs des Großen Wort, er sei der erste Diener seines Staates, zur Bestimmung des Rechtshorizontes heran. Es sei ein wahrhaft republikanisches Wort, denn darin gebe der große Monarch zu bedenken, "daß er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu seyn, (er) jederzeit in Besorgnis stehen muß".
Nicht selten wird heute, in weltstaatlichen, auf die globalisierte Welt zielenden Lesarten der Schrift zum ewigen Frieden verkannt, daß Kant darauf besteht, das Völkerrecht solle "auf einen Föderalism freyer Staaten gegründet seyn". Die positive Idee einer Weltrepublik ist dem Völkerrecht zuwider. Die Idee des Völkerrechtes, in die allein jene des ewigen Friedens eingezeichnet werden kann, setzt, so hat Kant gewußt, "die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus".
Die Idee vom ewigen Frieden gehört in das Gefüge des europäischen Gleichgewichts. Sie dient der Hegung des Krieges am Ausgang der Epoche, in der sie möglich war. Sie soll den Übergang des zwischenstaatlichen Verhältnisses, in dem Kant den hobbesianischen Naturzustand walten sah, in eine "gesetzmäßige Ordnung" vorzeichnen. Fried-rich von Gentz konnte sich als Architekt des Staatensystems im Wiener Kongreß zu Recht auf Kant berufen, jedenfalls mit ungleich besseren Rechtsgründen als gewisse Exponenten gegenwärtiger Außenpolitik. Staatliche Souveränität ist unabdingbare Garantin für den Ausgang aus gesetzloser Freiheit. Dies muß zu denken geben, in einer Zeit, in der man so leichtfertig wie gedankenlos von "Postnationalität" spricht. Sie wird weder Frieden noch Humanität befördern, sie droht vielmehr den Wechsel von Globalität und erbitterten Kämpfen, von Schrankenlosigkeit und Gewalt hervorzutreiben. Sie sollte sich, unfähig den Krieg zu hegen, nicht länger auf Kant berufen!
Der ewige Friede verweist auf die "Einhelligkeit von Politik und Moral". Dies ist gerade gegen die Jakobiner des Tugendterrors (einst und heute) gesagt, die beides vermischen. Es ist aber festgehalten, daß die wahre politische Kunst auf jedem ihrer Schritte "der Moral gehuldigt haben" müsse (so wie Friedrich des Großen Ausspruch es tat). Nicht minder von bleibender Bedeutung sind heute, im Schatten eines Zeitalters, in dem widerrechtliche Akte durch vermeintliche Rechtsschlüsse sanktioniert wurden, die Sätze: das Recht müsse dem Menschen "heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem ersteren beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird."
Kants Lehre vom ewigen Frieden hat ihren Ort in einer metaphysischen Rechtslehre, die das Recht ei-nerseits auf eine Befugnis zu zwingen gründet, die allein Sache der von der Wahl der Regierungsformen unabhängigen, in jedem Falle unteilbaren Souveränität sein kann. Als Grundlinie des Rechtes wird festgehalten, daß eine jede Handlung recht ist, "die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann". Das Rechtsgesetz steht insofern in engem Zusammenhang mit dem Sittengesetz, es bindet aber, anders als das Sittengesetz, nicht die Wahl meiner Maximen. Der "gute Bürger" ist noch nicht eins mit dem aus Pflicht nach der Sittlichkeit sich bestimmenden Menschen, eine Unterscheidung, die Aristoteles in seiner "Politik" angezielt hatte und die für die Freiheitlichkeit des Staates in der Neuzeit fundiert. Andernfalls könnte der Staat nicht die Glückseligkeit gelebten Lebens einräumen (pursuit of happiness), in strenger Enthaltung jeder Entscheidung darüber, worin das Glück des Bürgers zu bestehen habe. Die Unantastbarkeit des Eigentums ist und bleibt eine grundlegende Voraussetzung des freien bürgerlichen Rechtes. Daß die Trennung zwischen dem Menschen und dem Bürger, der Kant höchste begriffliche Klarheit gibt, in den Blutströmen der Bürgerkriege der Neuzeit begrifflich kodifiziert wurde, ist nicht zufällig.
Dem Gedanken von den Geschichtszeichen, dem Fortschritt im Bewußtsein von Freiheit, ist die Verführung späterer Generationen fern, das Vernünftige mit dem Wirklichen gleichzusetzen. Erst recht weiß sie nichts von dem Wahn einer gesetzmäßig verlaufenden Geschichte, die ihre vernichtenden und zerstörenden Furchen tief in das Antlitz Europas gekerbt hat. Eben deshalb kann sie heute den Blick klären: Man kann Kants Rechtslehre vom ewigen Frieden wie ein Okular an die Verwerfungen und Probleme dieser Zeit halten, und man wird bemerken, wie sehr sie das bürgerliche Ethos Europas vergessen und - längst auch - verleugnet hat, auf dem der ewige Friede beruhen müßte. Wer keine Grenzen zu setzen und zu wahren vermag, wer Universalität nicht aus geschichtlichen Orten zu denken weiß, wird alles zerstören, was Europa jemals war, heute ist und sein kann. Kants Idee ewigen Friedens könnte aber, würde sie beim Wort genommen, heutigem politischen Handeln einen Vernunfthorizont vorzeichnen.
Die Frage an die höchsten Gipfel des Geistes in einer Nation ist nicht zuerst, was sie einer späteren Zeit, der eigenen Zeit der Nachlebenden noch zu sagen haben. Ihre Bedeutung für die Gegenwart erschließt sich, sobald die Zeit sich selbst im Spiegel ihres Denkens gewahr wird, seinem Anspruch sich aussetzt.
Die beiden Jahrhunderte, die uns von Kants Tod trennen, markieren eine tiefe Zäsur: er stirbt, als die klassische deutsche Philosophie und Dichtung, von ihm vorbereitet und tief geprägt, sich zu einer Höhe entfaltet, die - wie Dieter Henrich einmal zu Recht bemerkt hat - welthisto-risch nur noch dem Perikleischen Athen vergleichbar ist. Die Gegenwart blickt zurück auf die Verwerfungen und den Verrat des Geistes und am Geist im abgelaufenen 20. Jahrhundert. Der Niedergang des totalitären Wahns hat aber bislang kaum zu einer verantworteten Formkraft Europas geführt, erst recht nicht zu einer Welt-Ordnung. Kant waren die düsteren Ausblicke auf die Menschheit, die zwischen Burck-hardt, Nietzsche und Gottfried Benn eindrücklich beschworen worden sind, keineswegs fern. So hielt er einmal fest, daß der Mensch, "soviel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet". Eine globale Hybris, Züge europäischer Selbstvergessenheit, Geschichtslosigkeit und eines Verlustes des Maßes der Sittlichkeit und des Gedächtnisses drohen uns heute einzuholen. Die blutenden Wunden der Vergangenheit klaffen noch, gerade an Kants Lebensort. Sein Denken ist unverlierbar; es gibt der singulären geistigen Landschaft Ostdeutschland von Kopernikus her, mit Hamann und Herder an Kants Seite, Ewigkeitsbedeutung. Goethe bemerkte gelegentlich einmal, man müsse Kant nicht mehr lesen, so sehr sei er in das gegenwärtige Bewußtsein eingedrungen. Darin macht sich der volle Abstand zur Gegenwart bemerkbar. Wir müssen den großen Weltdenker aus Königsberg jenseits der Selbstverständlichkeiten studieren. Es kann zumal heute lehren, sich im Denken zu orientieren.
Nicht vor unserer Zeit hat sich Kants Denken zu rechtfertigen, sie steht vor dem Gerichtshof seines Werkes. Sie wird von ihm nicht einfach bestätigt, aber vielfach erhellt werden, von dem wohltätigen Licht, von dem Schiller sprach. Wir sind und bleiben ihm tief verpflichtet - dem Weltbürger und Weltphilosophen aus Königsberg, der in allem "den Menschen (zu) ehren" suchte. Zu Königsberg in Preußen, am 30. September 1784 schloß Kant seine Beantwortung der Frage "Was ist Aufklärung?" mit den Worten: "Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volkes (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln."
Professor Dr. Harald Seubert: Überzeugte durch Enthusiasmus
Der Sprecher der Freundeskreis Ostdeutschland, Erika Steinbach (r.), mit dem Festredner Professor Dr. phil. Eberhard G. Schulz: Der Kantspezialist Professor Dr. phil. Eberhard G. Schulz wurde am 27. Oktober 1929 in Neusalz/Oder geboren. 1971 promovierte er und 1978 habilitierte er sich. Im Jahr 1982 übernahm er eine Professur für Philosophie an der Universität Duisburg. Zudem ist er seit geraumer Zeit ehrenamtlich als Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat und als Vorsitzender des Kulturwerks Schlesien tätig. Zu seinen bedeutendsten Publikationen zählen "Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik", "Christian Wolff. Gründlichkeit und Aufklärung in seiner Philosophie", "Leistung und Schicksal - Abhandlung und Berichte über die Deutschen im Osten" sowie "Große Deutsche aus dem Osten". Fotos (2): B. K.
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