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Die erste Reaktion auf London: Bestürzung der Politiker. Betroffenheit. Wut und Trauer (in der Reihenfolge). Wie glaubwürdig die einzelnen, seit der RAF-Zeit gewandelten Minister sind, muß jeder für sich entscheiden. Wut haben sie bestimmt. Dann kommt schon die Warnung vor dem "Überreagieren". Angriffe gegen die Union, die jetzt die Gesetze härter anwenden, bei Katastrophen die Bundeswehr einsetzen will.
Trauer ist ein weiter Begriff. Eine Redakteurin der taz trauert um das schöne Multkikulti-London, das jetzt vielleicht fragwürdig wird, wie Amsterdam nach der Ermordung des Filmemacher s van Gogh. Sie hat Angst, daß London nicht mehr so sein wird wie früher, wo es "an einem Abend mehr unglaubliche Bands gab als in Hamburg in einem Monat", dazu "Ecstasy mit kleinen roten Herzchen bedruckt, dann auf der Portobello-Road Trödeln und danach zum Bengalen Curry essen". "Wenn dieses einmalige Konzept von sich akzeptierenden Subkulturen nicht mehr funktioniert, dann funktioniert auch diese Stadt nicht mehr", fürchtet sie.
Die hat Sorgen.
Andere fragen sich, wie es weitergehen soll mit dem Islam-Terrorismus. Sind alle Muslime Terroristen? Im Prinzip nein, aber ... Alle Terroristen berufen sich auf den Islam, gewinnen Anhänger aus dem Islam und werden von der Gemeinschaft von Muslimen geschützt. Tatsächlich bewegt sich der Selbstmord-Terrorist in einem Land mit einer muslimischen Bevölkerung, aber auch in muslimisch dominierten Wohnvierteln der großen Städte des Westens, wie ein Fisch im Wasser. Auf einer solchen untrennbaren Einheit zwischen Berufsrevolutionär und Volk hatte Mao, der Erfinder des Vergleichs, seine Erfolge aufgebaut. Solange die große Masse der Muslime die Terroristen verehrt oder doch duldet und schützt, hilft keine Polizei und keine Armee. New York, Istanbul, London. Was kommt danach? Das fragen sich nun auch die Blauäugigsten.
Über die Toten und Verstümmelten von London freuen sich die Anhänger Bin Ladens auf der ganzen Welt. Wo sie unter sich sind, in arabischen Hauptstädten und palästinensischen Flüchtlingslagern, feiern sie mit Salutschüssen und Freudentänzen. Wo sie in der Minderheit sind, feiern die Radikal-Islamisten still und erwartungsvoll in ihren Wohnungen und Studentenheimen. Manchmal auch in Moscheen, in denen die Haßprediger gegen den Westen den Ton angeben. Solche Moscheen, in denen auch Videos über die Herstellung von Splitterbomben angeboten werden, gibt es in allen größeren Städten. Geht ganz leicht. Kann jedes Kind.
London war ein großer Sieg über die verhaßten Amerikaner und Engländer und die anderen "Kreuzfahrerstaaten", sagen die Bekennerschreiben. Außer den USA und England werden noch Dänemark und Polen genannt. Die Sache mit dem Kreuzzug, den die westlichen Staaten unter Führung der USA gegen die Araber führen, ist seit Jahren eine Behauptung der islamistischen Propaganda, die bei uns gern nachgeplappert wird. Sogenannte Fernsehexperten bieten uns Erklärungen an, die dem offenkundigen Unsinn der islamistischen Haßprediger bei den Freitagsgebeten noch ein pseudowissenschaftliches Mäntelchen überhängen: Die Araber seien durch diese Kreuzzüge von 1096 bis 1254 sehr gekränkt in ihrem Selbstwertgefühl und voller Angst vor neuen Kreuzzügen.
Was steckt dahinter? Im 11. Jahrhundert rief Papst Urban II. die ganze europäische "Christenheit" - das heißt die damals durchaus multinationale Ritterschaft - zu einem "Kreuzzug" auf, nachdem die türkischen Seldschuken 1070 Jerusalem und damit die heiligen Stätten der Christenheit erobert hatten, auch die Grabeskirche, in der nach der Überlieferung das Grab Jesu sich befinden sollte.
Die vornehmlich französischen und deutschen Ritter, meist kleine Feudalherren mit wenig Vermögen, verstärkt durch Abenteurer aus ganz Europa, eroberten nicht nur Jerusalem, sondern die ganze Küstenregion von Damaskus bis Gaza, machten reiche Beute und dachten gar nicht daran, die eroberten fruchtbaren Gebiete wieder zu verlassen. Auf dem besetzten arabischen Boden gründeten sie kleine Königreiche, die sie mit Hilfe von Fronarbeitern bewirtschafteten und die ihnen viel Geld einbrachten, bis sie nach blutigen Kämpfen fast 200 Jahre später vertrieben wurden - von arabischen Feudalherren.
Alle Versuche deutscher Kaiser, das "Heilige Land" noch einmal wiederzugewinnen, scheiterten. Doch konnten nach einigem Hin und Her, dank eines Abkommens zwischen Kaiser Friedrich II. und Sultan Al Kamil, die drei Weltreligionen in Jerusalem im wesentlichen bis heute weiter nebeneinander existieren. Die Araber hatten gesiegt, die Kreuzfahrer verschwanden und hinterließen nur ein paar auffällig blonde Untertanen und zahlreiche, von den Touristen heute gern besuchte Burgruinen. Eins zu null für die Araber, würde ich sagen. Jedenfalls kein Grund mangelnden Selbstwertgefühles. Allerdings kamen bald darauf die Türken und nahmen das Land der Araber bis zum 20. Jahrhundert in Besitz. Aber das waren selber Moslems. Nicht unser Ding mehr. Schwamm darüber nach mehr als 700 Jahren.
Dann kamen die Nahostkrise und der Irakkrieg. Die radikal-islamistische Propaganda behauptet nun seit einigen Jahren, der Westen wolle, unter der Führung der USA, beseelt von Haß und Verachtung gegen alle Araber und Moslems und getrieben durch die Gier nach den Schätzen des Landes, die mittelalterlichen Kreuzzüge wieder aufnehmen. Und die Propaganda wurde durch die unsinnigen Worte des US-amerikanischen Präsidenten vom "Kreuzzug gegen das Böse" scheinbar noch bestätigt. Ein Unsinn, der durch einen anderen Unsinn nicht vernünftiger wird.
Tief gekränkt, so versichern uns unsere Fernsehexperten, sei das arabische Selbstwertgefühl, und die Amerikaner verhielten sich ihnen gegenüber sehr unsensibel, wie eben die Axt im Walde oder ein Sheriff im Wilden Westen, und diese hemdsärmelige, brutale, unsensible Art sei die Hauptursache für den Terrorismus. Verkürzt gesagt: Ohne die Amerikaner und ihre Ölinteressen kein Terrorismus. Also raus aus dem Irak, weg aus der ganzen Ölregion, und das Problem ist gelöst. Ist es nicht besser, überall weiße Fahnen aufzuziehen, wie die Spanier nach dem Attentat von Madrid, und abzuziehen aus dem Irak und aus Afghanistan - was haben wir da verloren, niemand hat uns gerufen.
Aber geht es den verarmten Massen in Asien und Afrika, den vielen Milliarden an der Armutsgrenze, dann besser? Liefern die Öl-Länder denen das Öl dann zum Selbstkostenpreis? Und den Weizen und den Mais und das Fleisch aus Kanada, den USA und Argentinien zahlt wer? Wir doch nicht.
Es geht nicht um Religion. Der Kampf ist kein Krieg der Kulturen. Das Problem ist nicht der Islam, sondern die Macht. Die Macht und ihre Neuverteilung in der Welt. Sind die Drahtzieher und Hintermänner der globalen Terror-Netzwerke wie Bin Laden und seine Mitstreiter überhaupt religiös? Das ist die Frage. Ist es nicht - ähnlich wie bei allen Terroristen auf der Welt von Dschingis Khan bis Pol Pot - eine fixe Idee von Weltherrschaft in den Köpfen einiger intellektueller Bürgersöhne? Bei denen ein Gebräu aus Stalin, Mao und allgemeinem Menschenhaß sich zu einer im Wortsinn explosiven Mischung verbunden hat? Das hat mit dem Islam wenig zu tun, eher mit den Seelenzuständen der Anführer, deren Grundstimmung möglicherweise pathologischer Selbsthaß ist, projiziert auf den großen Teufel USA.
Wie ihr Reich aussieht, wenn sie an die Macht kommen, hat man gesehen, in noch sehr gemäßigter Form an Khomeini, deutlicher bei den Taliban und ihrem Horrorstaat am Hindukusch. Nicht nur Frauen war es verboten zu denken. Die Burka, das tragbare Gefängnis. Die Zerstörung der Kultur. Schnellfeuernde Kanonen gegen die unersetzlichen Buddha-Statuen. Das war kein Gottesstaat, auch kein Reich des Bösen, das war eher ein Reich des Todes, nur mit Pol Pots Kambodscha zu vergleichen.
Offensichtlich hat sich bei den jungen Fanatikern von Al Kaida seit Jahren der Gedanke festgesetzt, daß der Westen reif sei für eine Übernahme. Symptome dafür sind ja vorhanden. Nachdem Bin Laden zum erstenmal Wahlen in einem demokratisch verfaßten Land gewonnen hat - mit ein paar Einkaufstaschen voller Sprengstoff. Mit denen er nicht nur den Abzug von 3.000 spanischen Soldaten aus dem Irak erzwungen hat, sondern direkt in die Innenpolitik eingriff - alle Wahlprognosen hatten Aznar als überlegenen Sieger ausgemacht, bis der Massenmord in den Vorortzügen von Madrid die Stimmung umschlagen ließ.
Die Mobilisierung ganzer Nationen über viele Wochen nach einer einzigen Entführung sahen wir in Frankreich, Italien und Ungarn. Bin Laden und eine Leute sehen das auch. Wir in Deutschland erfahren es in Fernsehnachrichten, Zeitungen und Rundfunkdiskussionen, auf Massendemonstrationen und Kulturtagungen: Deutsche Truppen aus Afghanistan abziehen! Die Amerikaner zum Abzug drängen, aus dem Irak, aus der ganzen Golfregion, auch aus Afghanistan. Terrain aufgeben, nachgeben, weiter verhandeln, noch einmal nachgeben, und das ganze so gesparte Geld für die Bekämpfung der Armut, des Hungers, der Krankheiten, der Unwissenheit ausgeben!
Mit der Unwissenheit, da könnte etwas dran sein. Vor allem bei den Kommentatoren. Denn niemand kann uns sagen, was danach kommt, so weit will auch Nahostexperte Scholl-Latour nicht gehen. Bei Afghanistan hieße das ja zum Beispiel zurück in die Steinzeit. Burka an, Fernsehen, Theater und Internet aus, und Frauen wieder raus aus den Schulen und Krankenhäusern?
Niemand von unseren Experten stellt die Frage nach dem Danach. Erst mal Amis raus. Aus der ganzen Ölregion. Sollte das tatsächlich langfristig die Ölversorgung gefährden? Wir haben ja unsere Windmühlen, würde Trittin sagen, und die nachwachsenden Energien aus Jauche und den Treibstoff spendenden Raps und vor allem Dingen - Energie sparen! Wir verbrauchen ohnehin zu viel Strom. Jetzt erst verstehe ich den Minister ganz.
Wir aber müssen uns langfristig die Frage stellen, ob nicht eines Tages der siegreiche Radikalismus auch zu uns kommt. Die Frage kann schneller aktuell sein, als uns lieb ist, nachdem Al Kaida in London bewiesen hat, wie leicht die Zivilisation und ihre Einrichtungen zerstört werden können.
Der Kampf hat schon begonnen. Wie lange es bis zur Kapitulation dauert, hängt von unserem Widerstand ab. Ob wir unsere eigene Lebensform lieben oder ob sich die heimliche, die ganz klammheimliche Sympathie für die Terroristen durchsetzt als Stimmung in unserem Land. Jene klammheimliche Sympathie, die schon 1976 ein Autor namens "Mescalero" für die Mörder Hans Martin Schleyers in der Göttinger Studentenzeitung bekannte. Jener Text, von dem sich Bundesminister Trittin auch nach 25 Jahren nicht distanzieren mochte. Die klammheimliche Freude weiter Kreise der deutschen Intelligenz über die Verwundbarkeit Amerikas am 11. September 2001. Die klammheimliche Freude über Madrid, wegen der Wirkung auf die spanischen Parlamentswahlen und den Abzug der Truppen aus dem Irak. Die klammheimliche Freude über die Hilflosigkeit der USA gegenüber dem anhaltenden Terror im Irak und Afghanistan. Die klammheimliche Freude über die Anschläge von London ist bereits spürbar.
Entschlossen: Obwohl London trauert, haben die Menschen in der Stadt schnell wieder in ihren geschäftigen Alltag zurückgefunden. Foto: Eva-Lotta Jansson / Corbis |
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