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Hundert Meter vor dem Ziel

 
     
 
Nicht erst das Vorwort des langjährigen Bundesministers und habilitierten Historikers Stoltenberg macht deutlich, daß wir es in der erste Gesamtbiographie Heinrich Brünings mit einer beachtlichen Veröffentlichung einer junge Historikerin zu tun haben. Der letzte demokratische Reichskanzler vor dem Schicksalsjah 1933 war ein Politiker von persönlicher Integrität, der, wie er selbst einmal bemerkte "hundert Meter vor dem Ziel", der Aufhebung der Reparationslasten, gestürz wurde.

Deutschland hatte in 15 Jahren zwölf Reichskanzler und 20 Koalitionsregierungen Brüning selbst hatte mit zwei Jahren und zwei Monaten die längste Amtszeit als Kanzler vermochte aber den Zerfall der Demokratie nicht zu verhindern. Die Kontroverse um die Regierungszeit Brünings hält auch in der Geschichts
- und Politikwissenschaft immer noc an. Trifft aber die Apostrophierung als "Hungerkanzler de Massenarbeitslosigkeit" tatsächlich zu? Bei allem Respekt vor seine staatsmännischen Leistung ist Astrid Mannes keineswegs blind für die Schwächen seine Politik. So wollte Brüning wohl zu viel in zu kurzer Zeit erreichen. Wenngleich sein innen- und außenpolitische Grundkonzeption Aussicht auf Erfolg hatte, war sie doch zu wenig psychologisch fundiert. Brüning hat wohl die Einsichts- und Leidensfähigkeit de Volkes über- und die Gefahr der nationalsozialistischen Massenbewegung unterschätzt. Die Verantwortlichen des Auslands erkannten ihre Fehler in der Politik gegenüber Deutschlan zu spät und trugen so ganz wesentlich zum Aufstieg Hitlers bei.

Die Familie Brüning ist fest im Münsterland verwurzelt, von katholisch-konservative Prägung. Heinrich war das jüngste von sechs Kindern, er verlor den Vater, als er ers anderthalb Jahre alt war. In seinem älteren Bruder fand er einen Ersatzvater und sei Vorbild. Brüning studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie un promovierte in Nationalökonomie. Zeitweise war er Hörer von Albert Schweitzer in Straßburg.

Zu Kriegsbeginn 1914 meldete er sich freiwillig, wurde aber – da zu kurzsichti und schmächtig – erst später angenommen. Im Krieg war Brüning als Leutnant Zug und Kompanieführer und wurde mit beiden Eisernen Kreuzen ausgezeichnet. Am Kriegsend wurde er zum Vorsitzenden des Soldatenrates gewählt. Kurze Zeit war er Mitarbeiter de Berliner Großstadtapostels Dr. Carl Sonnenschein. Dann wurde er persönlicher Referen bei Wohlfahrtsminister Adam Stegerwald. Gemeinsam mit ihm setzte sich Brüning dafür ein alle christlichen Arbeiterverbände und politischen Gruppierungen in einer Gewerkschaft zu vereinen. Sie sollte deutsch, christlich, demokratisch und sozial geprägt sein un Katholiken und Protestanten vereinen, da beide Konfessionen für sich allein zu widersprüchlich oder schwach waren (49 f.).

Wenn in Brünings militärischer Beurteilung gesagt wurde, er sei zuverlässig pflichtbewußt und kameradschaftlich, so hielt er diese Grundhaltung während seine ganzen Lebens durch. Es stünde um unsere Demokratie besser, wenn diese sogenannte Sekundärtugenden bei den heutigen Politikern ähnlich ausgeprägt wären. Dann gäbe e nicht das weitverbreitete Phänomen der Politikverdrossenheit.

Von 1920 bis 1930 war Heinrich Brüning Generalsekretär des DGB und unterstützte in dieser Eigenschaft den passiven Widerstand im Ruhrgebiet. 1924 wurde er für das Zentru im Wahlkreis 7 (Breslau) in den Reichstag gewählt, dem er bis zur Auflösung der Parte 1933 angehörte. Brüning war beispielhaft in der Finanzpolitik und wandte sich gegen die Verschwendungssucht in Städten und Gemeinden. Hierbei verschonte er auch die eigene Parteifreunde nicht, wie etwa den Kölner Oberbürgermeister Adenauer.

Am 30. März 1930 wurde Brüning durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenbur beauftragt, ein Kabinett zu bilden, und wurde von seinen Gnaden Reichskanzler. Die wirtschaftliche und finanzielle Lage Deutschlands war, vor allem wegen der unsinnige Reparationsforderungen, desolat. Brüning suchte die internationale Wettbewerbsfähigkei durch Sparkurse, Erhöhung von Steuern und Kürzung der staatlichen Personal- un Sachausgaben zu erreichen. Aber diese Politik, die zu wenig psychologisch vorbereitet war begünstigte die Radikalisierung der Massen. Bei 1930 gut 63 Millionen Einwohnern stie die Zahl der Arbeitslosen im Februar 1932 auf 6 128 000.

Brünings oberstes Ziel war die Befreiung von den Reparationskosten. Daß dies gelang ist unbestreitbar sein Verdienst. Aber der Erfolg kam für ihn persönlich zu spät. E wurde am 30. Mai 1932 "hundert Meter vor dem Ziel", wie es hieß, gestürzt. 1 Tage nach seiner Entlassung verlieh ihm seine Vaterstadt Münster das Ehrenbürgerrecht.

Nach der Machtergreifung Hitlers wurde der Altkanzler wegen seines vehemente Widerstandes gegen das Ermächtigungsgesetz auf die Mordliste der Nationalsozialiste gesetzt. Brüning floh zunächst in die Niederlande, später nach England und in die USA Dort setzte er sich nach Kräften für politische Emigranten ein, ließ sich aber in Gegensatz zu vielen von ihnen nicht in eine Hetzkampagne gegen Deutschland einspannen Unablässig war er um Wohl und Wehe seines Vaterlandes besorgt und wandte sich imme wieder gegen das Diktat von Versailles und dessen unselige Folgen. Daß er trotz alle Unrechts, das ihm widerfahren war, seinem Land die Treue hielt, wird unter anderem au einem Brief an einen Bekannten vom 18. Juni 1956 deutlich, in dem es heißt: "Herr v Brentano (der damalige Bundesaußenminister) hat bei seinem ersten Besuc in London, um sich dort populär zu machen, nicht nur gleich für immer auf die deutsche Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze verzichtet, sondern auch alle Wünsche de Engländer auf Übernahme der Besatzungskosten erfüllt." (248 f.)

Nach kurzer Lehrtätigkeit an der Uni Köln verließ Brüning wegen wachsende Entfremdung von Adenauer Deutschland erneut und kehrte in die USA zurück, wo er am 30 März 1970 vereinsamt und arm starb. Auf seinen Wunsch wurde sein Leichnam nac Deutschland überführt und in Münster beigesetzt.

Brünings Memoiren erschienen sieben Monate nach seinem Tod und lösten heftig Kontroversen um Aussage und Quellenwert aus. Bei mancherlei Kritik an dieser oder jene politischen Maßnahme aus Brünings Regierungszeit sind sich Politiker und Historike jedoch weitgehend einig, daß er ein untadeliger Politiker war, der sich im Dienst fü sein Vaterland buchstäblich verzehrte.

Höchst aufschlußreich ist die Einschätzung seiner Persönlichkeit bei Männern de Widerstandes. In den Kaltenbrunner-Berichten vom 5. September 1944 heißt es, da Brüning von Goerdeler bis Wirmer und Letterhaus als "unerreichter Meister de Außenpolitik" angesehen wurde. Goerdeler meinte, Brüning wäre es wahrscheinlic auch gelungen, die Korridorfrage zu lösen, wenn er nicht gestürzt worden wäre. Auch de Altmeister der Politikwissenschaft, Theodor Eschenburg, bezeichnet ihn neben Stresemann Adenauer und Helmut Schmidt als bedeutendsten Politiker nach Bismarck.

Astrid Mannes hat ein ausgewogenes, eindrucksvolles Bild Brünings vorgelegt, das sein Gesamtpersönlichkeit klar hervortreten, aber auch erkennen läßt, wie die unsinnig Rachepolitik, die weitgehend das Verhalten der Siegermächte des Ersten Weltkrieg bestimmte, zum Aufkommen eines Diktators führte, der sich als Rächer des Schanddiktat von Versailles betrachtete. P. Lothar Groppe SJ

Astrid Luise Mannes: Brüning. Leben – Werk – Schicksal, Olzog Verla München, 1999, geb., 304 S., 58 Mar
 
     
     
 
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