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Meist wird diese Entwicklung relativ einfach mit besonderen deutschen gesellschaftlichen Strukturen und Mentalitäten erklärt. Ein deutscher "Sonderweg" habe zu den einzigartigen und unvergleichbaren Verbrechen des Holocaust geführt. Dabei bleiben die allgemeinen Tendenzen zu autoritären Regierungssystemen, im Europa der 20er und 30er Jahre zum Beispiel, den nachgeborenen Generationen fast unbekannt. Die Lehren aus der deutschen Geschichte werden strikt auf Deutschland beschränkt: Wo ein "Sonderweg" die Ursache war, könnten wir eben nur von uns selbst lernen.
Mit dieser Einseitigkeit des öffentlichen Geschichts verständnisses sollte man sich aber nicht zufriedengeben. In einer bedeutsamen Studie versucht Professor William Brustein in "The Logic of Evil" (Yale University Press 1996) den Zusammenhängen vorurteilsloser auf den Grund zu gehen. Aus den Originalen des US-Document-Center, wo die Materialien der NSDAP-Mitgliedschaften gesammelt sind, hat Brustein die wirklichen Gründe für den Beitritt zur NSDAP statistisch herausgearbeitet. Brustein meint, mit diesem Material klarer erkennen zu können, warum Weimarer Verhältnisse Hitler und seine Demagogen so extrem begünstigten. Er kommt zu dem Schluß, daß nicht in erster Linie Antisemitismus oder nationalistische Propaganda, sondern politische und soziale Versprechungen Hitlers Gefolgschaft so mächtig werden ließen. Die Erwartung vieler deutscher Wähler, Hitler werde die drückenden Tagesprobleme (die Arbeitslosigkeit, die soziale Not, die politische Instabilität, die Gewalt in den Straßen) anpacken und lösen, war das Hauptmotiv der Wähler. Brustein folgert, Hitlers plebiszitäre Macht gründete nicht in erster Linie auf Antisemitismus oder einem militanten Chauvinismus - wie heute überwiegend gelehrt wird -, sondern auf seinen für die Wähler nachvollziehbaren sozialen Versprechen in einer Phase großer sozialer Not.
Für Brusteins Thesen spricht viel. Unter anderem auch, daß so viele und so unterschiedliche Menschen sich damals zunächst von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließen. Martin Niemöller zum Beispiel, später ein unbeirrbarer Held des Widerstands, bekannte, sogar noch im März 1933 NSDAP gewählt zu haben! Carl Zuckmayer schreibt noch im April 1933 an einen Freund: "Ich gehöre nicht zu den Leuten, die über die jüngsten Ereignisse in Deutschland unglücklich sind. Ich kann mich der Größe, die dieser elementaren Bewegung innewohnt, einfach nicht entziehen." Da waren kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete aber längst verhaftet! Wir wissen auch, daß herausragende Figuren des Widerstands wie Claus Stauffenberg oder Hans und Sophie Scholl zu Beginn ebenfalls von Hitler fasziniert waren. Diet-rich Bonhoeffer schrieb deswegen im Krieg, Hitler habe sich "mit dem Mantel relativer historischer und sozialer Gerechtigkeit kleiden" können.
Man versteht die frühen 30er Jahre also offenbar nur sehr unvollkommen, wenn man sie heute mit dem Wissen um die verbrecherische Entwicklung nach 1933 betrachtet. Den damals zunächst schwankenden Männern und Frauen heute vom sicheren Port der Rück-schau kritische Vorwürfe zu machen wäre großmäulig. Wir sollten vielmehr überdenken, ob wirklich alle gutwilligen, rechtlich denkenden Menschen schon früh hätten wissen können, was da kommt.
Brustein gelangt nämlich in seiner Materialstudie zu einem erschreckenden Ergebnis. Er formuliert am Ende seines aufregenden Buches seine besorgten Schlußfolgerungen so: "Was wäre, wenn wir die entscheidenden Gründe für den Aufstieg der Nazis verfehlt hätten? Wären wir in der Lage, einen neuen Hitler, eine neue Nazipartei auszumachen?" Und er fährt zur Erläuterung fort: "Wenn die wirtschaftlichen Bedingungen, das Wahl- und Parteiensystem und die politischen Alternativen Deutschlands unter den Weimarer Bedingungen so in den USA, in Frankreich, Schweden oder Großbritannien bestanden hätten, dann hätten Millionen von Menschen in diesen Ländern möglicherweise genau das getan, was Millionen Deutsche taten - die NSDAP zu wählen und ihr beizutreten."
Um unsere Vergangenheit wirklich "aufzuarbeiten" und aus dieser Geschichte für unsere Zeit das Richtige zu lernen, sollten wir also doch noch einmal etwas genauer auf die Ursachen der nationalsozialistischen Machteroberung und die Ausgangslage Deutschlands vor den Nazijahren schauen. Dabei geht es natürlich nicht um eine Relativierung der Verbrechen. Wir Deutsche werden sie nie vergessen. Es geht auch nicht um die so lange übliche Beschönigung jener massiven Unterstützung, die Deutsche in allen Verantwortungsbereichen für ein bereits erkennbar verbrecherisches Regime geleistet haben; oder gar um eine Bemäntelung der Verantwortung von Zuschauern und Wegschauern. Es geht hier allein um eine tiefere Annäherung an die historische Wahrheit; denn nur aus der Wahrheit könnten wir auch das Richtige lernen. Ein verlorener Krieg, eine Revolution - denn eine solche ist der unvermittelte Übergang von der Monarchie zur Republik allemal! -; ein fälschlich von einseitiger Kriegsschuld diffamiertes, sich gedemütigt fühlendes Volk; und eine Reihe für uns heute unvorstellbarer sozialer Katastrophen - von der Zerstörung des mittelständischen Vermögens durch eine Hyperinflation bis zur schutzlosen Massenarbeitslosigkeit im großen Crash nach 1929 - das waren die äußeren Umstände von Weimar der frühen 30er Jahre. Diese Konstellation spielte die entscheidende Rolle für den Aufstieg der Nazis.
In gewisser Weise, denke ich, haben wir dann auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Geschichte richtig verstanden und etwas gelernt: Die Inflation wurde 1948 durch eine Währungsreform gestoppt. Unbestreitbar haben auch die Industriestaaten insgesamt und die internationale Gemeinschaft versucht, aus der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre Konsequenzen zu ziehen: Die wirtschaftliche internationale Zusammenarbeit wurde wesentlich gestärkt: der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation und nicht zuletzt die regionalen Integrationssysteme EU, NAFTA, ASEAN usw. sind dafür ebenso eindeutige Beweise wie die vielen weniger formellen Beratungsorganisationen, zum Beispiel das G8-Gremium.
Dennoch, es gibt auch heute unter sich wieder schnell verändernden Bedingungen einer zunehmenden Globalisierung, insbesondere in den Finanzmärkten, tiefgreifende regionale Wirtschaftskrisen, wie zum Beispiel in Asien vor einigen Jahren. Und einen nationalen wirtschaftlichen Zusammenbruch, wie er in Argentinien erlebt wurde, hätten wir vor einigen Jahren noch für undenkbar gehalten. Weltwirtschaftliche Krisen würden sich aber nicht notwendigerweise in früherer Gestalt wiederholen; ihre Ursachen und Domino-Effekte könnten überraschend kommen. Wenn nun kaum etwas so entscheidend für den Zusammenbruch von Weimar und für die totalitäre Wende der Demokratie war wie die damalige Weltwirtschaftskrise, dann trägt angesichts unserer Erfahrungen die deutsche Politik hier eine besondere Verantwortung.
Ich denke, wir alle spüren doch, daß der globale Wirtschaftsboden gegenwärtig erheblich schwankt. Sind wir gewappnet? Wachsamkeit und Sachverstand, nicht emotionaler Antikapitalismus sind gefragt. Unsere sachkundige deutsche Stimme sollte hier international hörbarer werden. Auch das sollte zur deutschen Erinnerungskultur gehören. Und unsere Mahnung an die USA, nicht erneut, wie nach 1918, die multi- lateralen Ansätze zu torpedieren, reicht bis in diese wirtschaftspolitischen Regionen.
Es muß allerdings damals, Anfang der 30er Jahre, auch deutsche Besonderheiten gegeben haben. Denn die Weltwirtschaftskrise erschütterte zwar fast alle demokratischen Nationen. Es gab deswegen auch in anderen europäischen Nationen Tendenzen zu sogenannten "starken Männern" und autoritären Regierungen, aber am Ende überlebten die meisten als Demokratien. Das gilt auch für die USA. Auch dort brachen die sozialen Strukturen nach 1929 weitgehend zusammen. Aber es entstand keine Diktatur, obwohl sich auch dort erhebliche faschistoide Tendenzen verbreiten konnten. Roosevelt wurde gewählt und begab sich auf den Weg von Keynes.
Brustein bezieht sich auf die wirtschaftlichen und die politischen Bedingungen der Weimarer Republik. Was war besonders an der politischen Ausgangslage Deutschlands?
Niederlage und Kriegsfolgen unterschieden uns, ebenso wie Ungarn und Österreich, natürlich grundsätzlich von den anderen westlichen Nationen. Daraus resultierende innenpolitische Spannungen waren nach dem Umbruch 1918 und dem Versailler Frieden voraussehbar. Aber die Weimarer Verfassung, sehr perfektionistisch demokratisch, erwies sich für die innenpolitischen Stürme der wirtschaftlichen und politischen Nachkriegskrisen als wenig tauglich. Viel weniger zum Beispiel als die Verfassungen der USA oder Großbritanniens. Regierungen fielen in Weimar schon nach wenigen Monaten immer wieder durch einfaches Mißtrauensvotum, und der Ersatz parlamentarischer Mehrheiten durch das Not-
verordnungsrecht nach Artikel 48 schwächte dann den demokratischen Prozeß. Die Weimarer Verfassung war eben für die Aufgabenstellung nach 1918 eine fatale Fehlkonstruktion. Man erkannte das bald und wollte diesen Schwächen unter anderem mit dem Institut eines konstruktiven Mißtrauensvotums begegnen. Die Entwürfe lagen in den Schubladen der Republik, als Hitler kam - aber es hatte den Parteien an Mut, Solidarität und Verantwortungsgefühl für diese vielleicht rettende Entscheidung gefehlt.
Zu politischem Mut und parteiübergreifender Verantwortung in schwierigen Zeiten mahnt uns deswegen heute ebenfalls die Erinnerung an die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Parteiübergreifende Verantwortung in kritischen Zeiten sollte eine weitere wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte der 20er Jahre sein. Beherzigen wir sie? Ich glaube, nein.
(Wird fortgesetzt)
Dr. Klaus von Dohnanyi, geb. 1928 in Hamburg, ist seit 1957 Mitglied der SPD. Von 1969 bis 1981 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Von 1972 bis 1974 war er Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1976 bis 1979 Staatsminister im Auswärtigen Amt, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.
Der in dieser Serie dokumentierte Text basiert auf einem Vortrag der Akademie für Politische Bildung Tutzing in der vom Bayerischen Landtag veröffentlichten Fassung.
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